Entscheidungsdatum
06.02.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z5Spruch
W174 2126205-1/9E
W174 2126205-2/10E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Viktoria MUGLI-MASCHEK, als Einzelrichterin über die Beschwerden des XXXX , geboren am XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe,
1.) im Verfahren gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 18.4.2016, Zl. 1064808605-150392769/BMI-BFA_STM_RD_AST, nach einer mündlichen Verhandlung am 14.10.2019 zu Recht erkannt:
A)
I. Die Beschwerde wird gemäß § 3 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
B)
II. Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
2.) im Verfahren gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 17.5.2019, Zl. 1064808605-190488641/BMI-BFA_STM_RD_AST_01, nach einer mündlichen Verhandlung am 14.10.2019 zu Recht erkannt:
III. Der Beschwerde gegen die Spruchpunkte I., III., IV., V., und VI. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 28 Abs. 1 und 2 VwGVG iVm § 9 Abs. 1 Z 1 2. Fall AsylG 2005 stattgegeben und diese Spruchpunkte des angefochtenen Bescheids ersatzlos behoben.
IV. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 stattgegeben und die Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter des XXXX für zwei weitere Jahre erteilt.
B)
V. Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste illegal ins Bundesgebiet ein und stellte am 19.4.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Im Rahmen seiner Erstbefragung vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes am selben Tag gab er im Wesentlichen an, aus dem Distrikt Sorkhrod in der Provinz Nangarhar zu stammen, der Volksgruppe der Paschtunen anzugehören sowie ledig und Analphabet zu sein. Der Vater sei verstorben, die Mutter sowie zwei minderjährige Brüder befänden sich noch in Afghanistan. Die Mutter arbeite als Schneiderin und lebe mit den Geschwistern beim Onkel.
Zu seinem Fluchtgrund brachte er vor, sein Onkel habe ihn in eine Koranschule geschickt, was die Taliban nicht gewollt hätten. Er habe sich gemeinsam mit anderen an die Behörden gewandt, die dies nicht geglaubt und angenommen hätten, sie wären Spione. Der Beschwerdeführer sei misshandelt worden, habe einen Nasenbeinbruch erlitten und die Taliban hätten ihn mit dem Umbringen bedroht, weshalb ihm der Onkel geholfen hätte. Bei einer Rückkehr befürchte er, von den Taliban umgebracht zu werden und es drohe eine erneute Misshandlung durch die Regierung.
3. Ein im Auftrag des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (Bundesamt) durchgeführtes Sachverständigengutachten ergab - auf Basis des höchstmöglichen Mindestalters zum Untersuchungszeitpunkt - das im Spruch genannte Geburtsdatum des Beschwerdeführers.
4. Im Rahmen der daraufhin vor dem Bundesamt durchgeführten Einvernahme - Parteiengehör am 9.9.2015 - legte der Beschwerdeführer eine Tazkira in Kopie vor und ergänzte im Wesentlichen, von Beruf Schneider zu sein.
In der seitens der Behörde erlassenen Verfahrensanordnung wurde wegen des Sachverständigengutachtens die Volljährigkeit des Beschwerdeführers festgestellt.
5. Am 12.4.2016 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt niederschriftlich einvernommen und erklärte, mit einem Freund der Mutter zu telefonieren, die eine halbe Stunde später zurückrufe. Außerdem gebe es in der Heimat noch den Onkel mütterlicherseits, der seine Reise bezahlt habe sowie eine Schwester, zwei Onkel und zwei Tanten, zu denen er seit dem Tod des Vaters keinen Kontakt mehr habe. Sein Vater sei vor drei Jahren verstorben.
Zu seinem Fluchtgrund brachte der Beschwerdeführer vor, sein Onkel hätte gewollt, dass er die Schule besuche und ihn an einer Koranschule in Behsud mit ca. 150 Schülern angemeldet. Der Lehrer hätte Kontakt zu den Taliban gehabt und der Beschwerdeführer sei dort aufgefordert worden, zu einer Militärbasis zu gehen und dort eine Bombe zu legen, was er nicht akzeptiert hätte. Am nächsten Tag habe ihn der Lehrer nochmals darauf angesprochen und ihm für den Sprengstoffanschlag bei der Militärbasis Geld zugesagt. Als Muslim sei auch er verpflichtet, beim Heiligen Krieg mitzumachen. Da er dagegen gewesen sei, habe sich der Beschwerdeführer in seinem Zimmer eingesperrt. Am Abend seinen ihm die Hände mit einem Turbantuch am Rücken zusammen- und die Augen mit einem Tuch verbunden worden und man habe ihn an einen unbekannten Ort gebracht, wo er brutal geschlagen worden sei. Dabei hätte er auch einen Nasenbeinbruch erlitten. Der Vorfall habe ca. sieben Monate vor seiner Ausreise stattgefunden. Insgesamt sei er drei Tage festgehalten und täglich mit Händen, Füßen und einem Holzstock geschlagen worden. Das wisse er trotz seiner verbundenen Augen, weil er es gespürt hätte. Er habe auch gehört, dass am zweiten Tag eine Waffe auf ihn gerichtet worden wäre. Jemand hätte ihn erschießen wollen, sei aber von einem zweiten Anwesenden aufgehalten worden.
Als er am dritten Tag in der Früh allein gewesen sei, habe ein vorbeigekommender Hirte, dessen Hunde gebellt hätten, seine Hilfeschreie gehört, die Tür aufgebrochen, ihn von seinen Fesseln und dem Tuch über den Augen befreit. Danach sei der Beschwerdeführer einen Tag lang zu Fuß gegangen und am Abend zu einer Straße gekommen, wo er auf ein Auto gewartet habe. Ein Fahrzeuglenker habe ihn zu einer Stadt mitgenommen, er wisse nicht welche. Von dieser habe ihn der Pkw-Lenker nach XXXX mitgenommen, von wo der Beschwerdeführer mit dem Geld das er von dem ihm unbekannten Lenker erhalten habe (110 Afghanische Rupien) mit dem Linienbus zu seinem Onkel nach Hause gefahren sei. Wie lange die Fahrt gedauert habe, wisse er nicht.
Zu Hause angekommen sei überall an seinem Körper Blut gewesen und alle hätten geweint. Er habe ihnen über diesen Vorfall erzählt und am nächsten Tag alleine die Polizeistation aufgesucht, um Anzeige zu erstatten. Die Polizisten hätten ihn für einen Spion der Taliban gehalten, festgenommen und fünf Tage in einem ca. 25 m² großen Gefängnisraum eingesperrt, wobei er auch gefoltert worden wäre: Seine Füße seien gefesselt gewesen und man habe ihn in der Polizeistation mit Händen und Füßen geschlagen. Es habe dort eine Zugangstür mit einem Eisengitter und einen Teppich gegeben, sonst nichts. In anderen Gefängnisräumen hätten sich andere Gefangene befunden. Der Onkel sei noch am gleichen Tag zur Polizeistation gekommen, habe den Polizisten erzählt, dass der Beschwerdeführer bei der Schule angemeldet worden sei, aber diese hätten das nicht akzeptiert. Dann habe der Onkel den Dorfältesten aufgesucht und mit dessen Hilfe sei der Beschwerdeführer aus dem Gefängnis der Polizeistation entlassen worden. An dem Tag, an dem er zur Polizei gegangen sei, seien die Taliban am Abend zum Onkel gekommen und hätten verlangt, dass er ihn tot oder lebendig ausliefere, woraufhin der Onkel seine Ausreise beschlossen habe. Der Beschwerdeführer sei noch 10-15 Tage beim Onkel gewesen und habe dann Afghanistan verlassen. Während dieser Zeit wären die Taliban alle zwei Tage gekommen, insgesamt seien fünf bis sieben Mal zwei Männer beim Haus des Onkels gewesen und hätten immer nach ihm gefragt. Der Onkel habe geantwortet, dass der Beschwerdeführer nicht nach Hause gekommen wäre.
6. Mit Bescheid des Bundesamtes vom 18.4.2016 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt I.), dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 1 AsylG der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und die befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG bis zum 18.4.2017 erteilt.
Die Zuerkennung des subsidiären Schutzes wurde im Wesentlichen zunächst allgemein mit der instabilen Sicherheitslage begründet, welche regional von Provinz zu Provinz und innerhalb der Provinzen von Distrikt zu Distrikt variiere. Die Situation scheine auf dem Weg zur Stabilisierung, sei aber nach wie vor unübersichtlich und als unsicher zu bezeichnen, die Versorgungslage und die Sicherung des täglichen Lebens seien aufgrund der allgemeinen Lebensbedingungen nur sehr eingeschränkt möglich. Eine innerstaatliche Fluchtalternative, etwa in der Hauptstadt Kabul, stehe bei Berücksichtigung der persönlichen Umstände und im Hinblick auf die allgemein schlechte Versorgungslage nicht zur Verfügung. Der Beschwerdeführer sei nie in Kabul gewesen, daher mit den dortigen Gegebenheiten nicht vertraut und verfüge dort über keinerlei familiären oder sozialen Anknüpfungspunkte, auch habe er eine geringe Schulausbildung. Eine gefahrlose Rückkehr in die Provinz Nangarhar, wo seine Mutter bei seinem Onkel in Sorkhrod lebe, sei derzeit nicht möglich, denn die Provinz zähle zu den volatilen Gebieten in Afghanistan.
7. Gegen Spruchpunkt I. des genannten Bescheides wurde rechtzeitig Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht erhoben, in der im Wesentlichen das bisherige Vorbringen des Beschwerdeführers wiederholt und konkretisiert wurde, er habe angegeben, im November 2014, ca. fünf Monate vor seiner Einreise im April 2015, seine Heimat verlassen zu haben. Ausgereist sei er ca. einen Monat nach seiner Entführung durch die Taliban. Als er von sieben Monaten vor seiner Ausreise gesprochen habe, hätte er selbstverständlich sieben Monate vor seiner Einreise in Österreich gemeint, und es sei auch der Umstand, dass in der afghanischen Kultur eine andere Zeitrechnung herrsche, es andere Jahreszahlen gebe und auch die Monate mit anderen Daten anfingen als im gregorianischen Kalender, von der Behörde nicht gewürdigt worden.
8. Am 9.2.2017 brachte der Beschwerdeführer beim Bundesamt einen Antrag auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung ein.
Mit Bescheid vom 12.4.2017, ZL 1064808605-15039279/BMI-BFA_STM_AST_01_TEAM_01, wurde die befristete Aufenthaltsberechtigung des Beschwerdeführers als subsidiär Schutzberechtigter bis 18.4.2019 verlängert. Dies begründete die belangte Behörde kurz und allgemein damit, dass aufgrund der Ermittlungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat in Verbindung mit dem Vorbringen bzw. dem Antrag des Beschwerdeführers das Vorliegen der Voraussetzungen für die Verlängerung als glaubwürdig gewertet werden könne.
9. Am 4.2.2019 brachte der Beschwerdeführer beim Bundesamt den gegenständlichen Antrag auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung ein.
10. Hierzu wurde er am 10.5.2019 vor dem Bundesamt niederschriftlich einvernommen und gab im Wesentlichen zunächst an, alle Mitglieder seiner Familie, auch sein Onkel, seien in Afghanistan. Der Onkel finanziere die Familie, sei Landwirt und habe auch Grundstücke, sein Bruder arbeite als Schneider, seine Mutter sei zu Hause und seine Schwester und der kleine Bruder gingen zur Schule, die übrigen Angehörigen seien in Sorkhrod, einem Bezirk von Jalalabad. Der Familie gehe es gut, er habe vor einer Woche mit seiner Mutter über das Internet Kontakt gehabt, zu anderen Angehörigen habe er keine Beziehung mehr. Er selbst hätte als Schneider gearbeitet, jetzt sei er Kochlehrling in Österreich, lebe hier alleine, sei selbstständig und es gebe zu keiner Person ein finanzielles oder sonstiges Abhängigkeitsverhältnis.
Der Beschwerdeführer habe viele Kontakte zu Österreichern, helfe freiwillig anderen Flüchtlingen und habe als Dolmetscher fungiert, er sei in keinem Verein oder Organisation. Zur Frage, was er für Probleme bei seiner Rückkehr nach Afghanistan befürchte, gab er an, dort nicht leben zu können. Im Falle einer Rückkehr würde er getötet, man werde ihn nicht am Leben lassen, denn er habe eine andere Denkweise und sei schon lange nicht mehr in Afghanistan gewesen.
Anlässlich der Einvernahme wurden diverse Integrationsnterlagen vorgelegt:
.) Teilnahmebestätigung des I.S.O.P. vom 11.9.2018 betreffend das Sprachniveau Deutsch B1, Englisch A1 und seinem Kompetenzniveau in Mathematik mit M3 als auch der Absolvierung eines Praktikums als Koch
.) Teilnahmebestätigung vom 3.11.2017 betreffend die "Bildungsmaßnahme Bewerbungsunterlagen"
.) Teilnahmebestätigung über die Absolvierung eines Erste-Hilfe Führerscheinkurses vom 21.10.2017
.) Teilnahmebestätigung über die Absolvierung des Werte- und Orientierungskurs vom 19.9.2017
.) ÖSD Zertifikat A2
.) Bestätigung der Mitgliedschaft bei einem Fitnessclub, beginnend mit 21.11.2017
.) Ausbildungsauftrag einer Fahrschule von 10/2017 für Führerscheinklasse B
.) Jahreszeugnis einer Landesberufsschule, Schuljahr 2018/19, Ausbildung zum Lehrberuf Koch vom 23.1.2019
.) Lehrvertrag für den Lehrberuf Koch beginnend mit 1.6.2018 bis 10.9.2020.
11. In einem Aktenvermerk vom 17.5.2019 führte die belangte Behörde aus, dass sich im Zuge der Prüfung der Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG Anhaltspunkte ergeben hätten, dass der Beschwerdeführer aus heutiger Sicht in sein Heimatland zurückkehren könne und dort nicht in eine ausweglose Lage geriete. Er habe Familienangehörige in der Provinz Nangharhar, welche in der Stadt Jalalabad einer beruflichen Tätigkeit nachgingen. Diese könnten ihn anfangs bei seiner Rückkehr wirtschaftlich unterstützen. Der Beschwerdeführer habe in Österreich in der Gastronomie gearbeitet und im Heimatland Berufserfahrungen als Schneider gesammelt, was er bei einer Rückkehr nutzen könne. Er sei alleinstehend, jung, gesund und arbeitsfähig, eine Rückkehr nach Mazar-e Sharif oder Herat sei möglich, auch könne er eine Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen.
12. Mit dem gegenständlich angefochtenem Bescheid vom 17.5.2019 wurde dem Beschwerdeführer der ihm mit Bescheid vom 18.4.2016 zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG von Amts wegen aberkannt (Spruchpunkt I.) und die mit demselben Bescheid erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter gemäß § 9 Abs. 4 AsylG entzogen (Spruchpunkt II.). Unter Spruchpunkt III. wurde dem Beschwerdeführer ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt und unter Spruchpunkt IV. gegen ihn gemäß § 10 Abs. 1 Z 5 AsylG i.V.m. § 9 BFA-Verfahrensgesetz eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 4 FPG erlassen. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.) und gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG festgelegt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkt VI.).
Die Aberkennung des subsidiären Schutzes begründete die belangte Behörde im Wesentlichen damit, dass Herat, Kabul und Mazar-e Sharif eine innerstaatliche Fluchtalternative darstellten, gut erreichbar seien und dem Beschwerdeführer auch eine Rückkehr dorthin zumutbar wäre. Er stehe mit seiner Familie in regelmäßigen Kontakt, es sei nicht ersichtlich weshalb eine räumliche Trennung von den Angehörigen dazu führen solle, dass diese den Beschwerdeführer nicht finanziell unterstützten könnten. Zudem sei er arbeitsfähig, im erwerbsfähigen Alter und habe Berufserfahrung. Seine grundsätzliche Teilnahmemöglichkeit am Erwerbsleben könne vorausgesetzt werden. Der Beschwerdeführer sei mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftslandes vertraut und aufgrund seiner Arbeitsfähigkeit habe er die Möglichkeit, sich in den sicheren Provinzen allenfalls durch Gelegenheitstätigkeiten eine Existenzgrundlage zu sichern. Auch gehöre er zu keinem Personenkreis, von dem anzunehmen sei, dass er sich in Bezug auf die individuelle Versorgungslage qualifiziert schutzberechtigter darstellen würde, als die übrige Bevölkerung, die ebenfalls für ihre Existenzsicherung aufkommen könne. infolge seiner Volksgruppenzugehörigkeit - er sei Paschtune - und dem für diese Bevölkerungsgruppe geltenden Ehrenkodex, dem Paschtunwali, stellten die Familie, der Stamm, die Nation und die Ehre sowohl eine ideelle als auch physische Schutzfunktion für ihn dar, sodass er bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht vor eine ihm unzumutbare Situation gestellt würde. Er dürfe die Unterstützung seiner Volksgruppe erwarten und könne Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen.
Kabul stehe unter der Kontrolle der afghanischen Regierung, Mazar-e Sharif sei ein afghanisches Vorzeigeprojekt für wichtige ausländische Gäste und ziehe mit seinem Gelegenheitsarbeitsmarkt viele Arbeitssuchende an. Dass der Beschwerdeführer nicht über hinlängliche Kenntnisse der örtlichen oder infrastrukturellen Gegebenheiten von Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif verfüge, reiche nicht für die Annahme der Unzumutbarkeit einer IFA aus; die zwischenzeitlich verschlechterte Sicherheitslage in Kabul habe noch nicht ein solches Ausmaß erreicht, dass allgemein von einer unzumutbaren Sicherheitssituation für jegliche Person allein aufgrund ihrer Anwesenheit ausgegangen werden könne.
13. Gegen diesen Bescheid wurde rechtzeitig Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht erhoben, in der im Wesentlichen ausgeführt wurde, dass die Behörde zwar zuvor die innerstaatliche Fluchtalternative aufgrund der persönlichen Umstände des Beschwerdeführers verneint habe, jetzt bei der Ermittlung der persönlichen Grunde anlässlich der Einvernahme am 10.5.2019 darauf jedoch nicht das Hauptaugenmerk gelegt und ihm die Gewährung von subsidiärem Schutz aufgrund der damaligen schlechten Sicherheitslage in Afghanistan vorgehalten hätte.
14. Am 10.10.2019 führte das Bundesverwaltungsgericht unter Beiziehung eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der das Bundesamt als Verfahrenspartei entschuldigt nicht teilnahm.
Dabei gab der Beschwerdeführer im Wesentlichen wie bisher an, aus dem Distrikt Sorkhrod in der Provinz Ningarhar mit der Stadt Jalalabad zu stammen, bis zur Ausreise im Heimatdorf gelebt zu haben sowie dem sunnitischen Glauben anzugehören. Er sei eigentlich Paschtune, aber habe keinen Kontakt zu der Gruppe der Paschtunen. Die im Akt befindliche Tazkira sei seine. (Laut Dolmetscher weist diese das Ausstellungsdatum 7.4.1394 (= 29.9.2015) auf.) Sein Onkel mütterlicherseits habe sie per Post hierhergeschickt.
Der Beschwerdeführer habe eine Schwester und zwei Brüder, alle im Teenageralter. Der Vater sei bereits verstorben, die Mutter am Leben. Es gebe zwei Onkel und zwei Tanten väterlicherseits sowie drei Onkel und zwei Tanten mütterlicherseits. Als er Afghanistan verlassen habe, hätten sie im Heimatdorf gelebt. Jetzt wisse er nicht, wo sich die Onkel väterlicherseits befänden, weil er keine Beziehung zu ihnen habe. in Kontakt stehe er mit seinem Onkel mütterlicherseits und mit seiner Mutter. Sie wären im Heimatdorf, das Haus gehöre dem Onkel mütterlicherseits, es handle sich um ein Lehmhaus. Der Onkel habe eine Frau, vier Söhne und zwei Töchter. Drei der Söhne seien verheiratet und lebten nicht mehr bei ihm. Seit vier Monaten habe der Beschwerdeführer keinen Kontakt zu seinen beiden Brüdern, wisse nicht, wo sie wären und seine Mutter hätte auch keine Kenntnis darüber.
Die Familie des Beschwerdeführers bekomme selten finanzielle Unterstützung vom Onkel. Er selbst unterstützte sie manchmal, ebenso sein Bruder. Vor dem Tod des Vaters habe die Familie in der Bezirksstadt Sorkhrod gelebt und Miete gezahlt.
In Afghanistan habe der Beschwerdeführer drei Jahre eine Madrassa besucht und als Schneider gearbeitet, was er von seinem Vater gelernt habe. Vor dessen Tod hätten sie von der Schneiderei gelebt, danach beim Onkel mütterlicherseits und es habe der Beschwerdeführer diese Schneiderei übernommen, die es jetzt nicht mehr gebe. Auf die Frage, wer seine Familie nun versorge, antwortete der Beschwerdeführer. "Mein Bruder hat als Schneider gearbeitet. Mein Onkel mütterlicherseits hilft auch. Manchmal nach Bedarf auch ich. Nach Bedarf schicke ich etwas Geld. Nur, wenn sie dringend Geld brauchen, normalerweise nicht." Der Bruder mache eine Lehre in einer (anderen) Schneiderei im Heimatort. Der Onkel habe eigene Grundstücke und sei Landwirt. Er selbst rede mit seiner Mutter, mit dem Bruder sei er seit vier Monaten nicht mehr in Kontakt. Mit dem Onkel spreche er manchmal, wenn er seine Mutter anrufe und dieser zufällig zu Hause sei. Zu anderen Personen in der Heimat habe er keine Beziehung. Seit dem Tod des Vaters hätte er auch keinen Kontakt mehr mit der Verwandtschaft.
Die Heimat habe der Beschwerdeführer im Dezember 2014 verlassen, sein Onkel habe für die Finanzierung der Ausreise Felder und Grundstücke verkauft.
Zu seinem Fluchtgrund brachte der Beschwerdeführer vor, nach dem Tod des Vaters habe ihn der Onkel an einer Madrassa angemeldet, die er dann ca. 2 1/2 Jahre besucht habe. Sie hätten dort Kontakte zu den Taliban gehabt und gewollt, dass er für diese arbeite und eine Bombe bei einem Kommissariat ablege. Dies habe der Beschwerdeführer abgelehnt, aber sie hätten es immer wieder von ihm verlangt, ihn aus der Klasse rausgenommen und mit ihm gesprochen. Eines Tages hätten sie ihn zu einem anderen Zimmer gebracht, dieses zugesperrt und ihn noch einmal aufgefordert, am Jihad teilzunehmen, dann sei er ein richtiger Moslem und könne auch im Paradies landen. Bis zum Abend habe er in diesem Zimmer bleiben müssen, dann seien sie wiedergekommen und hätten gedroht, ihn umzubringen, wenn er ablehne. Sie hätten ihm die Hände nach hinten sowie die Augen verbunden und ihn mit einem Auto irgendwohin gebracht, wo er massiv geschlagen und seine Nase gebrochen worden sei. Am ganzen Körper habe er Blut gehabt. Täglich sei er mit dem Tode bedroht worden, falls er ablehne. Am zweiten Tag hätte eine dieser Personen auf seinen Kopf gezielt, aber die zweite gemeint, dass man dem Beschwerdeführer noch einen Tag geben solle. Am dritten Tag sei dort ein Hirte unterwegs gewesen. Der Beschwerdeführer habe seinen Hund gehört, sehr laut geschrien und um Hilfe gebeten. Der Hirte sei zu ihm in diese Ruine ohne Tür oder Fenster gekommen. Die Hände und Füße des Beschwerdeführers seien gefesselt gewesen, der Hirte habe ihm geholfen, wieder zu sehen und auch die Hände befreit. Er selbst sei dann einfach geradeausgegangen und irgendwann auf eine Straße gelangt. In der Früh habe er angefangen zu gehen und am Abend die Straße gefunden. Als schließlich ein Auto gestoppt hätte, habe er den Fahrer gebeten, ihn zu dem Dorf zu bringen, wo sich die Madrassa befunden habe. Zudem habe er ihn auch um 100 Afghani ersucht, um nach Hause zu kommen. Mit diesem Geld habe er einen Bus genommen. Seine Familie habe gesehen, dass er geblutet habe, geweint und gefragt, wo er die drei Tage geblieben sei.
Der Beschwerdeführer sei dann alleine zur Polizei gegangen und habe dort erzählt, dass er geschlagen und was von ihm verlangt worden sei. Die Polizisten hätten ihn daraufhin beschuldigt, ein Spion für die Taliban zu sein, sowas nur zu spielen und ihn verhaftet. Sein Onkel sei gekommen und auch zum Dorfältesten gegangen. Sie hätten dann interveniert und ihn nach fünf Tagen befreit. Während der Haft hätten ihn diese Männer nachts zu Hause gesucht. Der Onkel hätte ihnen gesagt, dass der Beschwerdeführer nicht nach Hause gekommen sei und er auch nicht wisse, wo er sich befinde. Das Haus sei nicht durchsucht worden, weil man in Afghanistan nicht zu jemanden reingehen und dies tun könne. Auch nach seiner Ausreise hätten sie noch nach dem Beschwerdeführer gefragt.
Die Entführung aus der Koranschule sei ca. 15 Tage vor der Flucht gewesen. Dass er vor der Behörde andere Zeitangaben gemacht habe, nämlich ca. sieben Monate vor der Ausreise, stritt der Beschwerdeführer auf Vorhalt hin ab.
Die zwei Lehrer hätten mit den Taliban und der afghanischen Regierung kooperiert, was er deshalb gewusst habe, weil sie mit ihm geredet und ihn aufgefordert hätten, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Er selbst sei in ein Zimmer gesperrt worden und als sie ihn von diesem Zimmer woanders hingebracht hätten, hätten sie ihm die Augen verbunden. Auf Vorhalt, vor der Behörde sei festgehalten worden, dass er sich selbst in ein Zimmer gesperrt habe, erwiderte der Beschwerdeführer: "Wie kann ich mich in ein Zimmer sperren?" Bevor er aus der Schule weggebracht worden sei, seien ihm die Füße nicht gefesselt worden, im Gefängnis schon. Die Personen, die ihn von der Koranschule weggebracht hätten, habe er nicht gesehen, weil seine Augen von diesen zwei Lehrern verbunden worden seien. Auch die Personen, die ihn drei Tage lange in dieser Ruine festgehalten hätten, habe er nie erblickt. Dass sie für die Taliban gearbeitet hätten, wisse er, weil "sie für die Taliban gearbeitet haben."
Nachgefragt, wie und wann er seinen Nasenbeinbruch erlitten habe, erwiderte er, er sei mehrmals von unterschiedlichen Personen im Gesichtsbereich mit der Faust geschlagen worden, auch auf die Nase. An ein genaues Datum könne er sich nicht erinnern, aber damals, als er in diesem Zimmer eingesperrt und immer wieder geschlagen worden sei. Man habe ihn sowohl in diesem Zimmer in der Madrassa als auch dort, wo er die weiteren drei Tage angehalten worden wäre, geschlagen. Seine früheren Angaben vorgehalten, erwiderte er, bei der Polizei sei es auch passiert. Auf seine Nase sei auch bei der Polizei geschlagen und diese gebrochen worden.
Zudem lebe der Beschwerdeführer seit einiger Zeit in Europa und denke jetzt ganz anders. Er habe sich eine andere Lebensweise angewöhnt. Wenn er zurückkehren müsse, würden ihn die Leute dort beschuldigen, dass er ein Kaffer oder ein Jude geworden sei. Er würde von den Taliban und auch von der afghanischen Regierung verfolgt und auch mit der normalen Bevölkerung Probleme haben, weil sie glaube, dass er ein anderer Mensch geworden wäre.
In Österreich sei der Beschwerdeführer Kochlehrling und arbeite seit zwei Jahren. Er befinde sich jetzt im dritten Lehrjahr und habe das erste Lehrjahr geschafft. Nächsten Monat gehe er in die Berufsschule für das zweite und dritte Lehrjahr, daneben gehe er zum Fitness. Auch habe er Deutsch gelernt, A2 absolviert und auch angefangen, für den Führerschein zu lernen. Er sei jetzt selbstständig, wohne alleine und finanziere sich selber. Vorgelegt wurde ein Konvolut an Integrationsunterlagen. In Afghanistan wäre er nicht in der Lage, für seinen Lebensunterhalt zu sorgen. Es gebe auch niemanden, der ihn unterstützen könne.
Im Rahmen der Verhandlung wurde auf das Länderinformationsmaterial zur aktuellen Situation im Herkunftsstaat hingewiesen und eine Frist zur Stellungnahme gewährt.
15. Am 25.10.2019 langte beim Bundesverwaltungsgericht die Stellungnahme des Beschwerdeführers ein, in der im Wesentlichen ausgeführt wurde, dass er bereits zum Zeitpunkt der Zuerkennung sowie der Verlängerung des subsidiären Schutzes volljährig, gesund und arbeitsfähig gewesen sei. Die belangte Behörde habe im angefochtenen Bescheid weder dargelegt, inwiefern sich seine subjektive Lage maßgeblich geändert habe noch welche Tatsachen, die zur Erteilung des subsidiären Schutzes geführt hätten, sich im Nachhinein als unzutreffend herausgestellt hätten. Zudem wurde auf die aktuelle Sicherheitslage verwiesen.
16. Am 10.1.2020 langte beim Bundesverwaltungsgericht die Mitteilung eines Lehrverhältnisses samt Lehrvertrag als Koch ein.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Das Bundesverwaltungsgericht geht aufgrund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens von folgendem, für die Entscheidung maßgeblichem Sachverhalt aus:
1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger. Er gehört der Volksgruppe der Paschtunen sowie dem sunnitischen Glauben an und stammt aus dem Distrikt Sorkhrod in der Provinz Nangarhar. In der Heimat besuchte er zweieinhalb Jahre eine Koranschule und war im familiären Betrieb als Schneider tätig. Er ist - wie bereits zum Zeitpunkt der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten - volljährig sowie nach wie vor gesund und arbeitsfähig, ledig und kinderlos.
Der Beschwerdeführer konnte nicht glaubhaft machen, in Afghanistan von Verfolgung durch die Taliban bedroht oder seitens der Regierung als Spion für die Taliban verdächtigt worden zu sein.
Der Vater des Beschwerdeführers ist verstorben, die Mutter lebt - wie bereits zum Zeitpunkt der Zuerkennung des subsidiären Schutzes - beim Onkel mütterlicherseits im Heimatdorf, der sie ansonsten nur selten finanziell unterstützt. Manchmal schickt der Beschwerdeführer seiner Familie Geld aus Österreich, hin und wieder hat der Bruder, der in der Heimat eine Schneiderlehre macht, ausgeholfen. Der Beschwerdeführer hat zwei Brüder und eine Schwester im Teenageralter. Insgesamt existieren zwei Onkel und zwei Tanten väterlicherseits sowie drei Onkel und zwei Tanten mütterlicherseits, die alle zum Zeitpunkt der Ausreise des Beschwerdeführers im Heimatdorf gelebt haben. Seit dem Tod des Vaters steht der Beschwerdeführer nicht mehr in Kontakt zu den Verwandten väterlicherseits und telefoniert nur mehr mit seiner Mutter und hin und wieder mit dem Onkel mütterlicherseits, bei dem sie lebt. Die Angehörigen des Beschwerdeführers sind in einer Gesamtschau finanziell nicht in der Lage, ihn im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan zu unterstützen.
Die persönliche Lage des Beschwerdeführers hat sich seit seiner Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten am 18.4.2016 bzw. der Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung am 12.4.2017 nicht entscheidungswesentlich geändert.
Unter Berücksichtigung der individuellen Situation des Beschwerdeführers und der Länderberichtssituation zur Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan, insbesondere in der Herkunftsprovinz (Nangarhar) sowie in der Stadt Kabul, aber auch in Mazar-e Sharif und Herat, ist festzustellen, dass sich die Umstände, die zur Gewährung des subsidiären Schutzes geführt haben, seit dem Zeitpunkt der mit Bescheid des Bundesamtes vom 18.4.2016 zur Zahl 1064808605-150392769/BMI-BFA_STM_RD_AST erfolgten Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten sowie der Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung mit Bescheid des Bundesamtes vom 12.4.2017 zur Zahl 1064808605-15039279/BMI-BFA_STM_AST_01_TEAM_01 nicht wesentlich und nachhaltig geändert und zwar im Sinne von gebessert haben.
2. Zur Lage im Herkunftsland:
Das Bundesverwaltungsgericht trifft folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:
Im Hinblick auf die Länderberichtssituation zur Sicherheits- und Versorgungslage in der Herkunftsprovinz des Beschwerdeführers (Nangarhar) sowie in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif ist insbesondere festzuhalten, dass aus den getroffenen Länderfeststellungen im Vergleich zu dem zum Zeitpunkt der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten herangezogenen Länderberichtsmaterial jedenfalls keine Verbesserung der Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan ersichtlich ist.
Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Stand: 4.6.2019:
"Länderspezifische Anmerkungen
Im Kapitel 3. "Sicherheitslage" wurde nicht auf den EASO-Bericht "Afghanistan Security Situation - Update" vom Mai 2018 verwiesen, da dieser zum Großteil auf den Informationen dieses LIBs beruht. Die Informationen des EASO-Berichts stammen somit aus zahlreichen Quellen, die ebenso von der Staatendokumentation des BFA zur Erstellung des Kapitels über die Sicherheitslage dieses LIBs verwendet wurden. Des Weiteren wurden Eingaben aus dem "peer review" von unterschiedlichen Mitgliedsstaaten in dieser Ausarbeitung berücksichtigt. Damit ergibt sich ein breiter und vor allem gemeinsamer Wissensstand bezüglich der Ereignisse und der aktuellen Lage in Afghanistan innerhalb der europäischen Asylbehörden.
[...]
1. Neueste Ereignisse - Integrierte Kurzinformationen
KI vom 4.6.2019, politische Ereignisse, zivile Opfer, Anschläge in Kabul, IOM (relevant für Abschnitt 3/Sicherheitslage; Abschnitt 2/Politische Lage; Abschnitt 23/ Rückkehr).
Politische Ereignisse: Friedensgespräche. Loya Jirga, Ergebnisse Parlamentswahl
Ende Mai 2019 fand in Moskau die zweite Runde der Friedensgespräche zwischen den Taliban und afghanischen Politikern (nicht der Regierung, Anm.) statt. Bei dem Treffen äußerte ein Mitglied der Taliban, Amir Khan Muttaqi, den Wunsch der Gruppierung nach Einheit der afghanischen Bevölkerung und nach einer "inklusiven" zukünftigen Regierung. Des Weiteren behauptete Muttaqi, die Taliban würden die Frauenrechte respektieren wollen. Ein ehemaliges Mitglied des afghanischen Parlaments, Fawzia Koofi, äußerte dennoch ihre Bedenken und behauptete, die Taliban hätten kein Interesse daran, Teil der aktuellen Regierung zu sein, und dass die Gruppierung weiterhin für ein islamisches Emirat stünde. (Tolonews 31.5.2019a).
Vom 29.4.2019 bis 3.5.2019 tagte in Kabul die "große Ratsversammlung" (Loya Jirga). Dabei verabschiedeten deren Mitglieder eine Resolution mit dem Ziel, einen Friedensschluss mit den Taliban zu erreichen und den inner-afghanischen Dialog zu fördern. Auch bot Präsident Ghani den Taliban einen Waffenstillstand während des Ramadan von 6.5.2019 bis 4.6.2019 an, betonte aber dennoch, dass dieser nicht einseitig sein würde. Des Weiteren sollten 175 gefangene Talibankämpfer freigelassen werden (BAMF 6.5.2019). Einer weiteren Quelle zufolge wurden die kritischen Äußerungen zahlreicher Jirga-Teilnehmer zu den nächtlichen Militäroperationen der USA nicht in den Endbericht aufgenommen, um die Beziehungen zwischen den beiden Staaten nicht zu gefährden. Die Taliban nahmen an dieser von der Regierung einberufenen Friedensveranstaltung nicht teil, was wahrscheinlich u.a. mit dem gescheiterten Dialogtreffen, das für Mitte April 2019 in Katar geplant war, zusammenhängt. Dort wäre die Regierung zum ersten Mal an den Friedensgesprächen mit den Taliban beteiligt gewesen. Nachdem erstere jedoch ihre Teilnahme an die Bedingung geknüpft hatte, 250 Repräsentanten nach Doha zu entsenden und die Taliban mit Spott darauf reagierten, nahm letztendlich kein Regierungsmitarbeiter an der Veranstaltung teil. So fanden Gespräche zwischen den Taliban und Exil-Afghanen statt, bei denen viele dieser das Verhalten der Regierung öffentlich kritisierten (Heise 16.5.2019).
Anfang Mai 2019 fand in Katar auch die sechste Gesprächsrunde zwischen den Taliban und den USA statt. Der Sprecher der Taliban in Doha, Mohammad Sohail Shaheen, betonte, dass weiterhin Hoffnung hinsichtlich der inner-afghanischen Gespräche bestünde. Auch konnten sich der Quelle zufolge die Teilnehmer zwar bezüglich einiger Punkte einigen, dennoch müssten andere "wichtige Dinge" noch behandelt werden (Heise 16.5.2019).
Am 14.5.2019 hat die unabhängige Wahlkommission (Independent Electoral Commission, IEC) die Wahlergebnisse der Provinz Kabul für das afghanische Unterhaus (Wolesi Jirga) veröffentlicht (AAN 17.5.2019; vgl. IEC 14.5.2019, IEC 15.5.2019). Somit wurde nach fast sieben Monaten (die Parlamentswahlen fanden am 20.10.2018 und 21.10.2018 statt) die Stimmenauszählung für 33 der 34 Provinzen vervollständigt. In der Provinz Ghazni soll die Wahl zusammen mit den Präsidentschafts- und Provinzialratswahlen am 28.9.2019 stattfinden. In seiner Ansprache zur Angelobung der Parlamentsmitglieder der Provinzen Kabul und Paktya am 15.5.2019 bezeichnete Ghani die siebenmonatige Wahl als "Katastrophe" und die beiden Wahlkommissionen, die IEC und die Electoral Complaints Commission (ECC), als "ineffizient" (AAN 17.5.2019).
Zivile-Opfer, UNAMA-Bericht
Die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) registrierte im ersten Quartal 2019 (1.1.2019 - 31.3.2019) 1.773 zivile Opfer (581 Tote und 1.192 Verletzte), darunter waren 582 der Opfer Kinder (150 Tote und 432 Verletzte). Dies entspricht einem Rückgang der gesamten Opferzahl um 23% gegenüber dem gleichen Zeitraum des Vorjahres, welches somit der niedrigste Wert für das erste Jahresquartal seit 2013 ist (UNAMA 24.4.2019).
Diese Verringerung wurde durch einen Rückgang der Zahl ziviler Opfer von Selbstmordanschlägen mit IED (Improvised Explosive Devices - unkonventionelle Spreng- und Brandvorrichtung/Sprengfallen) verursacht. Der Quelle zufolge könnten die besonders harten Winterverhältnisse in den ersten drei Monaten des Jahres 2019 zu diesem Trend beigetragen haben. Es ist unklar, ob der Rückgang der zivilen Opfer wegen Maßnahmen der Konfliktparteien zur Verbesserung des Schutzes der Zivilbevölkerung oder durch die laufenden Gespräche zwischen den Konfliktparteien beeinflusst wurde (UNAMA 24.4.2019).
Die Zahl der zivilen Opfer aufgrund von Nicht-Selbstmord-Anschlägen mit IEDs durch regierungsfeindliche Gruppierungen und Luft- sowie Suchoperationen durch regierungsfreundliche Gruppierungen ist gestiegen. Die Zahl der getöteten Zivilisten, die regierungsfreundlichen Gruppierungen zugeschrieben wurden, übertraf im ersten Quartal 2019 die zivilen Todesfälle, welche von regierungsfeindlichen Elementen verursacht wurden (UNAMA 24.4.2019).
Kampfhandlungen am Boden waren die Hauptursache ziviler Opfer und machten etwa ein Drittel der Gesamtzahl aus. Der Einsatz von IEDs war die zweithäufigste Ursache für zivile Opfer: Im Gegensatz zu den Trends von 2017 und 2018 wurde die Mehrheit der zivilen Opfer von IEDs nicht durch Selbstmordanschläge verursacht, sondern durch Angriffe, bei denen der Angreifer nicht seinen eigenen Tod herbeiführen wollte. Luftangriffe waren die Hauptursache für zivile Todesfälle und die dritthäufigste Ursache für zivile Opfer (Verletzte werden auch mitgezählt, Anm.), gefolgt von gezielten Morden und explosiven Kampfmittelrückständen (UXO - unexploded ordnance). Am stärksten betroffen waren Zivilisten in den Provinzen Kabul, Helmand, Nangarhar, Faryab und Kunduz (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 24.4.2019).
Anschläge in Kabul-Stadt
Ende Mai 2019 fanden in Kabul-Stadt einige Anschläge und gezielte Tötungen in kurzen Abständen zu einander statt: Am 26.5.2019 wurde ein leitender Mitarbeiter einer NGO in Kart-e Naw (PD5, Police District 5) durch unbekannte bewaffnete Männer erschossen (Tolonews 27.5.2019a). Am 27.5.2019 wurden nach der Explosion einer Magnetbombe, die gegen einen Bus von Mitarbeitern des Ministeriums für Hadsch und religiöse Angelegenheiten gerichtet war, zehn Menschen verletzt. Die Explosion fand in Parwana-e Do (PD2) statt. Zum Vorfall hat sich keine Gruppierung bekannt (Tolonews 27.5.2019b).
Des Weiteren wurden im Laufe der letzten zwei Maiwochen vier Kontrollpunkte der afghanischen Sicherheitskräfte durch unbekannte bewaffnete Männer angegriffen (Tolonews 31.5.2019b).
Am 30.5.2019 wurden in Folge eines Selbstmordangriffes nahe der Militärakademie Marshal Fahim im Stadtteil Char Rahi Qambar (PD5) sechs Personen getötet und 16 Personen, darunter vier Zivilisten, verletzt. Die Explosion erfolgte, während die Kadetten die Universität verließen (1 TV NEWS 30.5.2019). Der Islamische Staat (IS) bekannte sich zu dem Anschlag (AJ 30.5.2019).
Am 31.5.2019 wurden sechs Personen, darunter vier Zivilisten, getötet und fünf Personen, darunter vier Mitglieder der US-Sicherheitskräfte, verletzt, nachdem ein mit Sprengstoff beladenes Auto in Qala-e Wazir (PD9) detonierte. Quellen zufolge war das ursprüngliche Ziel des Angriffs ein Konvoi ausländischer Sicherheitskräfte (Tolonews 31.5.2019c).
Am 2.6.2019 kam nach der Detonation von mehreren Bomben eine Person ums Leben und 17 weitere wurden verletzt. Die Angriffe fanden im Westen der Stadt statt, und einer davon wurde von einer Klebebombe, die an einem Bus befestigt war, verursacht. Einer Quelle zufolge transportierte der Bus Studenten der Kabul Polytechnic University (TW 2.6.2019). Der IS bekannte sich zu den Anschlägen und beanspruchte den Tod von "mehr als 30 Schiiten und Mitgliedern der afghanischen Sicherheitskräfte" für sich. Die Operation erfolgte in zwei Phasen: Zuerst wurde ein Bus, der 25 Schiiten transportierte, angegriffen, und darauf folgend detonierten zwei weitere Bomben, als sich "Sicherheitselemente" um den Bus herum versammelten. Vertreter des IS haben u.a. in Afghanistan bewusst und wiederholt schiitische Zivilisten ins Visier genommen und sie als "Polytheisten" bezeichnet. (LWJ 2.6.2019).
Am 3.6.2019 kamen nach einer Explosion auf der Darul Aman Road in der Nähe der American University of Afghanistan fünf Menschen ums Leben und zehn weitere wurden verletzt. Der Anschlag richtete sich gegen einen Bus mit Mitarbeitern der Independent Administrative Reform and Civil Service Commission (Tolonews 3.6.2019)
US-Angaben zufolge ist die Zahl der IS-Anhänger in Afghanistan auf ca. 5.000 gestiegen, fünfmal so viel wie vor einem Jahr. Gemäß einer Quelle profitiert die Gruppierung vom "zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan und von aus Syrien geflohenen Kämpfern". Des Weiteren schließen sich enttäuschte Mitglieder der Taliban sowie junge Menschen ohne Zukunftsperspektive dem IS an, der in Kabul, Nangarhar und Kunar über Zellen verfügt (BAMF 3.6.2019). US-Angaben zufolge ist es "sehr wahrscheinlich", dass kleinere IS-Zellen auch in Teilen Afghanistans operieren, die unter der Kontrolle der Regierung oder der Taliban stehen (VOA 21.5.2019). Eine russische Quelle berichtet wiederum, dass ca. 5.000 IS-Kämpfer entlang der Nordgrenze tätig sind und die Nachbarländer bedrohen. Der Quelle zufolge handelt es sich dabei um Staatsbürger der ehemaligen sowjetischen Republiken, die mit dem IS in Syrien gekämpft haben (Newsweek 21.5.2019).
Anmerkung der Staatendokumentation: Zur besseren Ortung der oben beschriebenen Vorfälle folgt eine kartografische Darstellung der Staatendokumentation mit der Einteilung der Stadt Kabul in Polizeidistrikte: (Quelle: BFA 13.2.2019)
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Rückkehr
Die International Organization for Migration (IOM) gewährt seit April 2019 keine temporäre Unterkunft für zwangsrückgeführte Afghanen mehr. Diese erhalten eine Barzuwendung von ca. 150 Euro sowie Informationen über mögliche Unterkunftsmöglichkeiten. Gemäß dem Europäischen Auswärtigen Amt (EAD) nutzten nur wenige Rückkehrer die Unterbringungsmöglichkeiten von IOM (BAMF 20.5.2019).
[...]
3. Sicherheitslage
Wegen einer Serie von öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen in städtischen Zentren, die von regierungsfeindlichen Elementen ausgeführt wurden, erklärten die Vereinten Nationen (UN) im Februar 2018 die Sicherheitslage für sehr instabil (UNGASC 27.2.2018).
Für das Jahr 2017 registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) landesweit 29.824 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahresvergleich wurden von INSO 2016 landesweit 28.838 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert und für das Jahr 2015 25.288. Zu sicherheitsrelevanten Vorfällen zählt INSO Drohungen, Überfälle, direkter Beschuss, Entführungen, Vorfälle mit IEDs (Sprengfallen/ Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und andere Arten von Vorfällen (INSO o.D.).
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(Darstellung Staatendokumentation beruhend auf den INSO-Zahlen aus den Jahren 2015, 2016, 2017).
Im Vergleich folgt ein monatlicher Überblick der sicherheitsrelevanten Vorfälle für die Jahre 2016, 2017 und 2018 in Afghanistan (INSO o.D.)
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(Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf INSO o.D.)
Für das Jahr 2017 registrierte die UN insgesamt 23.744 sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan (UNGASC 27.2.2018); für das gesamte Jahr 2016 waren es 23.712 (UNGASC 9.3.2017). Landesweit wurden für das Jahr 2015 insgesamt 22.634 sicherheitsrelevanter Vorfälle registriert (UNGASC 15.3.2016).
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(Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf UNGASC 15.3.2016, UNGASC 9.3.2017, UNGASC 27.2.2018)
Es folgt ein Jahresvergleich der sicherheitsrelevanten Vorfälle, die von der UN und der NGO
INSO in den Jahren 2015, 2016 und 2017 registriert wurden:
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(Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf INSO (o.D.), UN GASC 15.3.2016, UNGASC 9.3.2017, UNGASC 27.2.2018)
Im Jahr 2017 waren auch weiterhin bewaffnete Zusammenstöße Hauptursache (63%) aller registrierten sicherheitsrelevanten Vorfälle, gefolgt von IEDs (Sprengfallen/ Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und Luftangriffen. Für das gesamte Jahr 2017 wurden 14.998 bewaffnete Zusammenstöße registriert (2016: 14.977 bewaffnete Zusammenstöße) (USDOD 12.2017). Im August 2017 stuften die Vereinten Nationen (UN) Afghanistan, das bisher als "Post-Konflikt-Land" galt, wieder als "Konfliktland" ein; dies bedeute nicht, dass kein Fortschritt stattgefunden habe, jedoch bedrohe der aktuelle Konflikt die Nachhaltigkeit der erreichten Leistungen (UNGASC 10.8.2017).
Die Zahl der Luftangriffe hat sich im Vergleich zum Jahr 2016 um 67% erhöht, die gezielter Tötungen um 6%. Ferner hat sich die Zahl der Selbstmordattentate um 50% erhöht.Östlichen Regionen hatten die höchste Anzahl an Vorfällen zu verzeichnen, gefolgt von südlichen Regionen. Diese beiden Regionen zusammen waren von 55% aller sicherheitsrelevanten Vorfälle betroffen (UNGASC 27.2.2018). Für den Berichtszeitraum 15.12.2017 - 15.2.2018 kann im Vergleich zum selben Berichtszeitraum des Jahres 2016, ein Rückgang (-6%) an sicherheitsrelevanten Vorfällen verzeichnet werden (UNGASC 27.2.2018).
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(Darstellung der Staatendokumentation)
Afghanistan ist nach wie vor mit einem aus dem Ausland unterstützten und widerstandsfähigen Aufstand konfrontiert. Nichtsdestotrotz haben die afghanischen Sicherheitskräfte ihre Entschlossenheit und wachsenden Fähigkeiten im Kampf gegen den von den Taliban geführten Aufstand gezeigt. So behält die afghanische Regierung auch weiterhin Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, die wichtigsten Verkehrsrouten und den Großteil der Distriktzentren (USDOD 12.2017). Zwar umkämpften die Taliban Distriktzentren, sie konnten aber keine
Provinzhauptstädte (bis auf Farah-Stadt; vgl. AAN 6.6.2018) bedrohen - ein signifikanter Meilenstein für die ANDSF (USDOD 12.2017; vgl. UNGASC 27.2.2018); diesen Meilenstein schrieben afghanische und internationale Sicherheitsbeamte den intensiven Luftangriffen durch die afghanische Nationalarmee und der Luftwaffe sowie verstärkter Nachtrazzien durch afghanische Spezialeinheiten zu (UNGASC 27.2.2018).
Die von den Aufständischen ausgeübten öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe in städtischen Zentren beeinträchtigten die öffentliche Moral und drohten das Vertrauen in die Regierung zu untergraben. Trotz dieser Gewaltserie in städtischen Regionen war im Winter landesweit ein Rückgang an Talibanangriffen zu verzeichnen (UNGASC 27.2.2018). Historisch gesehen gehen die Angriffe der Taliban im Winter jedoch immer zurück, wenngleich sie ihre Angriffe im Herbst und Winter nicht gänzlich einstellen. Mit Einzug des Frühlings beschleunigen die Aufständischen ihr Operationstempo wieder. Der Rückgang der Vorfälle im letzten Quartal 2017 war also im Einklang mit vorangegangenen Schemata (LIGM 15.2.2018).
Anschläge bzw. Angriffe und Anschläge auf hochrangige Ziele
Die Taliban und weitere aufständische Gruppierungen wie der Islamische Staat (IS) verübten auch weiterhin "high-profile"-Angriffe, speziell im Bereich der Hauptstadt, mit dem Ziel, eine Medienwirksamkeit zu erlangen und damit ein Gefühl der Unsicherheit hervorzurufen und so die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben (USDOD 12.2017; vgl. SBS 28.2.2018, NZZ 21.3.2018, UNGASC 27.2.2018). Möglicherweise sehen Aufständische Angriffe auf die Hauptstadt als einen effektiven Weg, um das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung zu untergraben, anstatt zu versuchen, Territorium in ländlichen Gebieten zu erobern und zu halten (BBC 21.3.2018).
Die Anzahl der öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe hatte sich von 1.6. - 20.11.2017 im Gegensatz zum Vergleichszeitraum des Vorjahres erhöht (USDOD 12.2017). In den ersten Monaten des Jahres 2018 wurden verstärkt Angriffe bzw. Anschläge durch die Taliban und den IS in verschiedenen Teilen Kabuls ausgeführt (AJ 24.2.2018; vgl. Slate 22.4.2018). Als Antwort auf die zunehmenden Angriffe wurden Luftangriffe und Sicherheitsoperationen verstärkt, wodurch Aufständische in einigen Gegenden zurückgedrängt wurden (BBC 21.3.2018); auch wurden in der Hauptstadt verstärkt Spezialoperationen durchgeführt, wie auch die Bemühungen der USAmerikaner, Terroristen zu identifizieren und zu lokalisieren (WSJ 21.3.2018).
Landesweit haben Aufständische, inklusive der Taliban und des IS, in den Monaten vor Jänner 2018 ihre Angriffe auf afghanische Truppen und Polizisten intensiviert (TG 29.1.2018; vgl. BBC 29.1.2018); auch hat die Gewalt Aufständischer gegenüber Mitarbeiter/innen von Hilfsorganisationen in den letzten Jahren zugenommen (The Guardian 24.1.2018). Die Taliban verstärken ihre Operationen, um ausländische Kräfte zu vertreiben; der IS hingegen versucht, seinen relativ kleinen Einflussbereich zu erweitern. Die Hauptstadt Kabul ist in diesem Falle für beide Gruppierungen interessant (AP 30.1.2018).
Angriffe auf afghanische Sicherheitskräfte und Zusammenstöße zwischen diesen und den Taliban finden weiterhin statt (AJ 22.5.2018; AD 20.5.2018).
Registriert wurde auch eine Steigerung öffentlichkeitswirksamer gewalttätiger Vorfälle (UNGASC 27.2.2018), von denen zur Veranschaulichung hier auszugsweise einige Beispiele wiedergegeben werden sollen (Anmerkung der Staatendokumentation: Die folgende Liste enthält öffentlichkeitswirksame (high-profile) Vorfälle sowie Angriffe bzw. Anschläge auf hochrangige Ziele und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit).
* Selbstmordanschlag vor dem Ministerium für ländliche Rehabilitation und Entwicklung (MRRD) in Kabul: Am 11.6.2018 wurden bei einem Selbstmordanschlag vor dem Eingangstor des MRRD zwölf Menschen getötet und 30 weitere verletzt. Quellen zufolge waren Frauen, Kinder und Mitarbeiter des Ministeriums unter den Opfern (AJ 11.6.2018). Der Islamische Staat (IS) bekannte sich zum Angriff (Reuters 11.6.2018; Gandhara 11.6.2018).
* Angriff auf das afghanische Innenministerium (MoI) in Kabul: Am 30.5.2018 griffen bewaffnete Männer den Sitz des MoI in Kabul an, nachdem vor dem Eingangstor des Gebäudes ein mit Sprengstoff geladenes Fahrzeug explodiert war. Bei dem Vorfall kam ein Polizist ums Leben. Die Angreifer konnten nach einem zweistündigen Gefecht von den Sicherheitskräften getötet werden. Der Islamische Staat (IS) bekannte sich zum Angriff (CNN 30.5.2018; vgl. Gandhara 30.5.2018)
* Angriff auf Polizeistützpunkte in Ghazni: Bei Taliban-Anschlägen auf verschiedene Polizeistützpunkte in der afghanischen Provinz Ghazni am 21.5.2018 kamen mindestens 14 Polizisten ums Leben (AJ 22.5.2018).
* Angriff auf Regierungsbüro in Jalalabad: Nach einem Angriff auf die Finanzbehörde der Provinz Nangarhar in Jalalabad kamen am 13.5.2018 mindestens zehn Personen, darunter auch Zivilisten, ums Leben und 40 weitere wurden verletzt (Pajhwok 13.5.2018; vgl. Tolonews 13.5.2018). Die Angreifer wurden von den Sicherheitskräften getötet (AJ 13.5.2018). Quellen zufolge bekannte sich der Islamische Staat (IS) zum Angriff (AJ 13.5.2018).
* Angriff auf Polizeireviere in Kabul: Am 9.5.2018 griffen bewaffnete Männer jeweils ein Polizeirevier in Dasht-e-Barchi und Shar-i-Naw an und verursachten den Tod von zwei Polizisten und verwundeten sechs Zivilisten. Auch wurden Quellen zufolge zwei Attentäter von den Sicherheitskräften getötet (Pajhwok 9.5.2018). Der IS bekannte sich zum Angriff (Pajhwok 9.5.2018; vgl. Tolonews 9.5.2018).
* Selbstmordangriff in Kandahar: Bei einem Selbstmordanschlag auf einen Konvoi der NATO-Truppen in Haji Abdullah Khan im Distrikt Daman der Provinz Kandahar sind am 30.4.2018 elf Kinder ums Leben gekommen und 16 weitere Menschen verletzt worden; unter den Verletzten befanden sich u.a. rumänische Soldaten (Tolonews 30.4.2018b; vgl. APN 30.4.2018b, Focus 30.4.2018, IM 30.4.2018). Weder der IS noch die Taliban reklamierten den Anschlag für sich (Spiegel 30.4.2018; vgl. Tolonews 30.4.2018b).
* Doppelanschlag in Kabul: Am 30.4.2018 fand im Bezirk Shash Derak in der Hauptstadt Kabul ein Doppelanschlag statt, bei dem Selbstmordattentäter zwei Explosionen verübten (AJ 30.4.2018; vgl. APN 30.4.2018a). Die erste Detonation erfolgte in der Nähe des Sitzes des afghanischen Geheimdienstes (NDS) und wurde von einem Selbstmordattentäter auf einem Motorrad verübt; dabei wurden zwischen drei und fünf Menschen getötet und zwischen sechs und elf weitere verletzt (DZ 30.4.2018; vgl. APN 30.4.2018b); Quellen zufolge handelte es sich dabei um Zivilisten (Focus 30.4.2018). Die zweite Detonation ging von einem weiteren Selbstmordattentäter aus, der sich, als Reporter getarnt, unter die am Anschlagsort versammelten Journalisten, Sanitäter und Polizisten gemischt hatte (DZ 30.4.2018; vgl. APN 30.4.2018b, Pajhwok 30.4.2018, Tolonews 30.4.2018a). Dabei kamen u.a. zehn Journalisten ums Leben, die bei afghanischen sowie internationalen Medien tätig waren (TI 1.5.2018; vgl. AJ 30.4.2018, APN 30.4.2018a,). Bei den beiden Anschlägen sind Quellen zufolge zwischen 25 und 29 Personen ums Leben gekommen und 49 verletzt worden (AJ 30.4.2018; vgl. APN 30.4.2018a, DZ 30.4.2018, Tolonews 30.4.2018a). Der IS bekannte sich zu beiden Angriffen (DZ 30.4.2018; vgl. APN 30.4.2018a). Quellen zufolge sind Geheimdienstmitarbeiter das Ziel des Angriffes gewesen (DZ 30.4.2018; vgl. APN 30.4.2018a).
* Angriff auf die Marshal Fahim Militärakademie: Am 29.1.2018 attackierten fünf bewaffnete Angreifer einen militärischen Außenposten in der Nähe der Marshal Fahim Militärakademie (auch bekannt als Verteidigungsakademie), die in einem westlichen Außendistrikt der Hauptstadt liegt. Bei dem Vorfall wurden mindestens elf Soldaten getötet und 15 weitere verletzt, bevor die vier Angreifer getötet und ein weiterer gefasst werden konnten. Der IS bekannte sich zu dem Vorfall (Reuters 29.1.2018; vgl. NYT 28.1.2018).
* Bombenangriff mit einem Fahrzeug in Kabul: Am 27.1.2018 tötete ein Selbstmordattentäter der Taliban mehr als 100 Menschen und verletzte mindestens 235 weitere (Reuters 27.1.2018; vgl. TG 28.1.2018). Eine Bombe - versteckt in einem Rettungswagen - detonierte in einem schwer gesicherten Bereich der afghanischen Hauptstadt (TG 27.1.2018; vgl. TG 28.1.2018) - dem sogenannten Regierungs- und Diplomatenviertel (Reuters 27.1.2018).
* Angriff auf eine internationale Organisation (Save the Children - SCI) in Jalalabad: Am 24.1.2018 brachte ein Selbstmordattentäter ein mit Sprengstoff beladenes Fahrzeug am Gelände der Nichtregierungsorganisation (NGO) Save The Children in der Provinzhauptstadt Jalalabad zur Explosion. Mindestens zwei Menschen wurden getötet und zwölf weitere verletzt; der IS bekannte sich zu diesem Vorfall (BBC 24.1.2018; vgl. Reuters 24.1.2018, TG 24.1.2018).
* Angriff auf das Hotel Intercontinental in Kabul: Am 20.1.2018 griffen fünf bewaffnete Männer das Luxushotel Intercontinental in Kabul an. Der Angriff wurde von afghanischen Truppen abgewehrt, nachdem die ganze Nacht um die Kontrolle über das Gebäude gekämpft worden war (BBC 21.1.2018; vgl. DW 21.1.2018). Dabei wurden mindestens 14 Ausländer/innen und vier Afghan/innen getötet. Zehn weitere Personen wurden verletzt, einschließlich sechs Mitglieder der Sicherheitskräfte (NYT 21.1.2018). 160 Menschen konnten gerettet werden (BBC 21.1.2018). Alle fünf Angreifer wurden von den Sicherheitskräften getötet (Reuters 20.1.2018). Die Taliban bekannten sich zu dem Angriff (DW 21.1.2018).
* Selbstmordattentat mit einem mit Sprengstoff beladenen Tanklaster: Am 31.5.2017 kamen bei einem Selbstmordattentat im hochgesicherten Diplomatenviertel Kabuls mehr als 150 Menschen ums Leben, mindestens 300 weitere wurden schwer verletzt (FAZ 6.6.2017; vgl. AJ 31.5.2017, BBC 31.5.2017; UN News Centre 31.5.2017). Der IS bekannte sich zu diesem Vorfall (FN 7.6.2017).
Angriffe gegen Gläubige und Kultstätten
Registriert wurde eine steigende Anzahl der Angriffe gegen Glaubensstätten, religiöse Führer sowie Gläubige; 499 zivile Opfer (202 Tote und 297 Verletzte) waren im Rahmen von 38 Angriffen im Jahr 2017 zu verzeichnen. Die Anzahl dieser Art Vorfälle hat sich im Gegensatz zum Jahr 2016 (377 zivile Opfer, 86 Tote und 291 Verletzte bei 12 Vorfällen) verdreifacht, während die Anzahl ziviler Opfer um 32% gestiegen ist (UNAMA 2.2018). Auch verzeichnete die UN in den Jahren 2016 und 2017 Tötungen, Entführungen, Bedrohungen und Einschüchterungen von religiösen Personen - hauptsächlich durch regierungsfeindliche Elemente. Religiösen Führern ist es nämlich möglich, durch ihre Predigten öffentliche Standpunkte zu verändern, wodurch sie zum Ziel von regierungsfeindlichen Elementen werden (UNAMA 7.11.2017). Ein Großteil der zivilen Opfer waren schiitische Muslime. Die Angriffe wurden von regierungsfeindlichen Elementen durchgeführt - hauptsächlich dem IS (UNAMA 7.11.2017; vgl. UNAMA 2.2018). Es wurden aber auch Angriffe auf sunnitische Moscheen und religiöse Führer ausgeführt (TG 20.10.2017; vgl. UNAMA 7.11.2017)
Diese serienartigen und gewalttätigen Angriffe gegen religiöse Ziele, haben die afghanische Regierung veranlasst, neue Maßnahmen zu ergreifen, um Gebetsstätten zu beschützen: landesweit wurden 2.500 Menschen rekrutiert und bewaffnet, um 600 Moscheen und Tempel vor Angriffen zu schützen (UNGASC 20.12.2017).
Zur Veranschaulichung werden im Folgenden auszugsweise einige Beispiele von Anschlägen gegen Gläubige und Glaubensstätten wiedergegeben (Anmerkung der Staatendokumentation: Die folgende Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit)
* Angriff auf Treffen der Religionsgelehrten in Kabul: Am 4.6.2018 fand während einer loya jirga zwischen mehr als 2.000 afghanischen Religionsgelehrten, die durch eine Fatwa zur Beendigung der Gewalt aufriefen, ein Selbstmordanschlag statt. Bei dem Angriff kamen 14 Personen ums Leben und weitere wurden verletzt (Tolonews 7.6.2018; vgl. Reuters 5.6.2018). Quellen zufolge bekannte sich der IS zum Angriff (Reuters 5.6.2018; vgl. RFE/RL 5.6.2018).
* Angriff auf Kricket-Stadion in Jalalabad: Am 18.5.2018, einem Tag nach Anfang des Fastenmonats Ramadan, kamen bei einem Angriff während eines Kricket-Matchs in der Provinzhauptstadt Nangarhars Jalalabad mindestens acht Personen ums Leben und mindestens 43 wurden verletzt (TRT 19.5.2018; vgl. Tolonews 19.5.2018, TG 20.5.2018). Quellen zufolge waren das direkte Ziel dieses Angriffes zivile Zuschauer des Matchs (TG 20.5.2018; RFE/RL 19.5.2018), dennoch befanden sich auch Amtspersonen unter den Opfern (TNI 19.5.2018). Quellen zufolge bekannte sich keine regierungsfeindliche Gruppierung zum Angriff (RFE/RL 19.5.2018); die Taliban dementierten ihre Beteiligung an dem Anschlag (Tolonews 19.5.2018; vgl. TG 20.5.2018).
* Selbstmordanschlag während Nowruz-Feierlichkeiten: Am 21.3.2018 (Nowruz-Fest; persisches Neujahr) kam es zu einem Selbstmordangriff in der Nähe des schiitischen Karte Sakhi-Schreins, der von vielen afghanischen Gemeinschaften - insbesondere auch der schiitischen Minderheit - verehrt wird. Sie ist ein zentraler Ort, an dem das Neujahrsgebet in Kabul abgehalten wird. Viele junge Menschen, die tanzten, sangen und feierten, befanden sich unter den 31 getöteten; 65 weitere wurden verletzt (BBC 21.3.2018). Die Feierlichkeiten zu Nowruz dauern in Afghanistan mehrere Tage und erreichen ihren Höhepunkt am 21. März (NZZ 21.3.2018). Der IS bekannte sich auf seiner Propaganda Website Amaq zu dem Vorfall (RFE/RL 21.3.2018).
* Angriffe auf Moscheen: Am 20.10.2017 fanden sowohl in Kabul, als auch in der Provinz Ghor Angriffe auf Moscheen statt: während des Freitagsgebets detonierte ein Selbstmordattentäter seine Sprengstoffweste in der schiitischen Moschee, Imam Zaman, in Kabul. Dabei tötete er mindestens 30 Menschen und verletzte 45 weitere. Am selben Tag, ebenso während des Fr