TE Bvwg Erkenntnis 2020/2/11 W260 2201728-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 11.02.2020
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Entscheidungsdatum

11.02.2020

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4

Spruch

W260 2201728-1/11E

Schriftliche Ausfertigung des am 12.11.2019 mündlich verkündeten Erkenntnisses

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Markus BELFIN als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch Magistrat der Stadt Wien, Kinder- und Jugendhilfe, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich, Außenstelle Wiener Neustadt, vom 05.06.2018, Zl. 1089772000-151484521, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:

A)

I. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. gemäß § 3 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

II. Hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird der Beschwerde stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigten bis zum 12.11.2020 erteilt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der minderjährige XXXX (im Folgenden "Beschwerdeführer"), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste illegal in das Bundesgebiet ein und stellte am 04.10.2015 gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Bei der Erstbefragung am 05.10.2015 vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der Beschwerdeführer im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Dari an, dass er afghanischer Staatsangehöriger wäre, aus der Provinz Kandahar stammen würde, der Volksgruppe der Hazara angehören würde und schiitischer Moslem wäre. Er hätte fünf Jahre lang die Grundschule besucht. Die Eltern, ein Bruder und zwei Schwestern leben noch im Herkunftsstaat. Ein Bruder wäre zusammen mit dem Beschwerdeführer nach Österreich gelangt. Zu seinen Fluchtgründen befragt sagte der Beschwerdeführer, sein Vater hätte ihn und seinen Bruder aus Angst, dass sie entführt werden, aus Afghanistan weggeschickt. In Afghanistan wäre die Sicherheitslage schlecht und viele Jugendliche würden entführt werden. Außerdem möchte er lernen und eine bessere Zukunft haben. In den Schulen in Afghanistan würde nicht die Intelligenz der Kinder, sondern die Beziehungen und das Geld der Eltern zählen.

3. Am 16.04.2018 wurde der Beschwerdeführer im Beisein seiner gesetzlichen Vertretung und in Anwesenheit seiner Pflegemutter als Vertrauensperson vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge "belangte Behörde") niederschriftlich einvernommen. Hinsichtlich seines Fluchtgrundes führte der Beschwerdeführer zusammengefasst aus, sein Vater hätte bei der Firma "Green Leaf" gearbeitet. Die Taliban hätten nicht gewollt, dass sein Vater für die Ungläubigen arbeite. Es hätte daher Drohungen gegen die Familie gegeben und sie wären mehrmals umgezogen. Der Vater hätte seine berufliche Tätigkeit aber nicht aufgegeben. Da die Drohungen nicht aufgehört hätten und auch viele Jugendliche verschleppt worden wären, wären der Beschwerdeführer und sein Bruder außer Landes geschickt worden. Sein Vater wäre dann einmal verschleppt, aber wieder freigelassen worden. Der Beschwerdeführer und sein Bruder wären nicht persönlich bedroht worden. Seine Familie wäre mittlerweile nach Pakistan ausgereist. Der Beschwerdeführer würde nicht nach Afghanistan zurückkehren können, da er dort niemanden mehr habe. Im Zuge der Einvernahme vor der belangten Behörde wurde ein Konvolut an Integrationsunterlagen vorgelegt.

4. Mit Stellungnahme seiner gesetzlichen Vertretung vom 27.04.2018 brachte der Beschwerdeführer zusammengefasst vor, dass er mit seiner Familie im mehrheitlich paschtunischen Kandahar gelebt hätte und aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Minderheit der schiitischen Hazara mehrfach diskriminiert worden wäre. Aufgrund der Tätigkeit seines Vaters für ein internationales Unternehmen wäre die Familie trotz mehrmaligen Umzuges persönlich bedroht worden. Zudem würde es immer wieder zu Entführungen von Jugendlichen im unmittelbaren Umfeld der Familie kommen. Auch der Beschwerdeführer wäre mehrmals von fremden Männern angesprochen worden und es wären ihm sexuelle Angebote gemacht worden, denen er jedoch immer entgangen wäre. In Österreich würde er nun eine westlich orientierte, offene Weltanschauung leben. Er würde auch seine Religion nicht mit der in Afghanistan geforderten Strenge leben. Da seine Familie mittlerweile nach Pakistan geflohen wäre, würde für den Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan keine familiäre Unterstützung bestehen. Der minderjährige Beschwerdeführer wäre bei einer Rückkehr völlig auf sich alleine gestellt.

Der Stellungnahme wurden Integrationsunterlagen beigelegt.

5. Mit nunmehr angefochtenem Bescheid vom 05.06.2018 wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab. Gemäß § 57 AsylG 2005 erteilte die belangte Behörde dem Beschwerdeführer keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.). Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG wurde gemäß § 9 Abs. 2 und 3 BFA-VG auf Dauer unzulässig erklärt. Gemäß § 58 Abs. 2 und 3 AsylG iVm § 55 AsylG wurde dem Beschwerdeführer eine Aufenthaltsberechtigung plus gemäß § 55 Abs. 1 AsylG erteilt (Spruchpunkt IV.).

In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers und zur Lage in seinem Herkunftsstaat. Der Beschwerdeführer habe keine Verfolgung glaubhaft gemacht und es bestünden keine stichhaltigen Gründe gegen eine Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan. Im Falle der Rückkehr drohe ihm keine Gefahr, die eine Erteilung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würde. Er sei ein arbeitsfähiger junger Mann, der bei einer Rückkehr nach Afghanistan, speziell nach Kabul, gemeinsam mit seinem volljährigen Bruder in der Lage sei, sein notdürftiges Überleben zu sichern.

Der Beschwerdeführer hätte bereits erkennbare Integrationsschritte in sprachlicher und gesellschaftlicher Hinsicht gesetzt. Bezüglich einer Abwägung gemäß Art. 8 EMRK würden die privaten Interessen des Beschwerdeführers an einem Verbleib in Österreich die öffentlichen Interessen an der Beendigung seines Aufenthaltes in Österreich überwiegen. Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung werde daher auf Dauer unzulässig erklärt. Der Beschwerdeführer habe das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 IntG erfüllt und werde ihm daher eine "Aufenthaltsberechtigung plus" erteilt.

6. Gegen Spruchpunkt I. und II. des oben genannten Bescheides wurde fristgerecht Beschwerde erhoben. In der Beschwerde wurde inhaltliche Rechtswidrigkeit, sowie Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend gemacht. Insbesondere wurde moniert, dass der Behörde aufgrund der Minderjährigkeit des Beschwerdeführers eine erhöhte Ermittlungstätigkeit obliege. Der Beschwerdeführer sei als minderjähriger Flüchtling besonders vulnerabel. Die belangte Behörde habe es unterlassen, ihn genauer zum vorgebrachten Fluchtgrund, dass er westliche Werte verinnerlicht hätte, sowie nicht nach strengen religiösen Regeln lebe, zu befragen. Außerdem wäre der Beschwerdeführer in Afghanistan durch die "Bacha Bazi"-Tradition gefährdet. Entgegen der Ansicht der belangten Behörde würde ihn Afghanistan keine innerstaatliche Fluchtalternative bestehen.

7. Die Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt langten am 24.07.2018 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

8. Mit Stellungnahme und Beweisantrag seiner Vertretung vom 04.11.2019 wurde erneut auf die westliche Lebensweise und auf den Zugang des Beschwerdeführers zum Thema Religion hingewiesen. Man könne ihn mittlerweile als "Atheist" bezeichnen. Zum Beweis seiner atheistischen, dem radikalen Islam widersprechenden Weltanschauung werde die Einvernahme seiner Pflegemutter als Zeugin beantragt. Der Beschwerdeführer legte ergänzende Länderberichte vor.

9. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 12.11.2019 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch. Der Beschwerdeführer wurde im Beisein seiner gesetzlichen Vertreterin, eines Dolmetschers für die Sprache Dari und eines Vertreters der belangten Behörde zu seinen Fluchtgründen, zu seinen persönlichen Umständen im Herkunftsstaat und zu seiner Situation in Österreich befragt. XXXX , die Pflegemutter des Beschwerdeführers, wurde als Zeugin befragt.

Das Bundesverwaltungsgericht legte im Rahmen der Verhandlung die aktuellen Länderinformationen zu Afghanistan, genauer das Länderinformationsblatt Afghanistan samt Kurzinformation vom 04.06.2019, die aktuellen UNHCR Richtlinien vom 30.08.2018, Auszüge aus den aktuellen EASO Leitlinien zu Afghanistan vom Juni 2018, sowie eine ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Situation von 1) vom Islam abgefallenen Personen (Apostaten), 2) christlichen KonvertitInnen, 3) Personen, die Kritik am Islam äußern, 4) Personen, die sich nicht an die Regeln des Islam halten und 5) Rückkehrern aus Europa (jeweilige rechtliche Lage, staatliche und gesellschaftliche Behandlung, Diskriminierung, staatlicher bzw. rechtlicher Schutz bzw. Schutz durch internationale Organisationen, regionale Unterschiede, Möglichkeiten zur Ausübung des christlichen Glaubens, Veränderungen hinsichtlich der Lage der christlichen Gemeinschaft) [a-10159] vom 1. Juni 2017, vor.

Der erkennende Richter gab dem Beschwerdeführer und der belangten Behörde die Möglichkeit, in diese herkunftsstaatsbezogenen Berichte Einsicht zu nehmen, sowie zu den vom Richter dargelegten Feststellungen eine Stellungnahme abzugeben. Die gesetzliche Vertreterin des Beschwerdeführers sowie der Beschwerdeführervertreter verzichteten auf die Abgabe einer schriftlichen Stellungnahme und gaben eine mündliche Stellungnahme ab.

In der mündlichen Beschwerdeverhandlung am 12.11.2019 wurde das Erkenntnis im gegenständlichen Verfahren mündlich verkündet. Die Verfahrensparteien gaben in der Verhandlung keine Erklärung ab.

10. In der Folge stellte die gesetzliche Vertreterin des Beschwerdeführers fristgemäß den Antrag auf schriftliche Ausfertigung des am 12.11.2019 mündlich verkündeten Erkenntnisses.

11. Mit Schreiben vom 21.11.2019 übermittelte die belangte Behörde ein Schreiben der Staatsanwaltschaft Wien vom 08.11.2019, wonach ein Verfahren gegen den Beschwerdeführer als Beschuldigten wegen § 83 Abs. 1 StGB am 08.05.2019 gemäß § 191 (1) StPO eingestellt wurde.

12. Das Bundesverwaltungsgericht hielt am 05.02.2020 Nachschau im Strafregister der Republik Österreich, wonach der Beschwerdeführer unbescholten ist.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und ist am XXXX geboren.

Er ist afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und schiitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Dari.

Er ist minderjährig und gesund. Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Kinder.

Der Beschwerdeführer wurde in der Provinz Kandahar geboren, wo er bis zu seiner Ausreise aus Afghanistan im Herbst 2015 lebte. Er besuchte fünf Jahre lang die Grundschule in Afghanistan; er verfügt über keine Berufsausbildung.

Die Eltern, ein Bruder, zwei Schwestern sowie die Großmutter des Beschwerdeführers sind in Pakistan aufhältig. Der Vater arbeitet als Hilfsarbeiter in Pakistan. Der Beschwerdeführer hat Kontakt zu seinen Familienangehörigen in Pakistan.

In Afghanistan lebt ein Onkel mütterlicherseits, der drogenabhängig ist. Zu diesem Onkel besteht kein Kontakt. Der Beschwerdeführer kann im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan nicht mit Unterstützung seiner Familie rechnen.

Ein Bruder des Beschwerdeführers namens XXXX , geb. XXXX , lebt in Österreich. Sein Asylverfahren ist hinsichtlich des Antrages auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und des Status des subsidiär Schutzberechtigten rechtskräftig negativ abgeschlossen. Ihm wurde eine Aufenthaltsberechtigung plus erteilt.

Der Beschwerdeführer ist Zivilist.

Der Beschwerdeführer reiste ca. im September 2015 aus Afghanistan aus und gelangte in der Folge illegal ins Bundesgebiet und stellte am 04.10.2015 verfahrensgegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

Mit gegenständlichem Bescheid der belangten Behörde vom 05.06.2018 wurde die Erlassung einer Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig erklärt und dem Beschwerdeführer eine Aufenthaltsberechtigung plus gemäß § 55 Abs. 1 AsylG erteilt.

Der Beschwerdeführer absolviert derzeit eine Lehre.

Er ist kontakt- und kommunikationsfreudig und spricht fließend Deutsch.

Im Strafregister der Republik Österreich scheinen keine Verurteilungen auf.

1.2. Zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers:

Das vom Beschwerdeführer dargelegte Fluchtvorbringen, dass sein Vater für ein internationales Unternehmen in Afghanistan gearbeitet hätte und der Vater und die gesamte Familie deshalb von den Taliban bedroht worden wären, liegt nicht vor und konnte keine den Beschwerdeführer persönlich treffende Bedrohung festgestellt werden.

Den Beschwerdeführer droht konkret und individuell keine Bedrohung wegen der Ausübung von physischer und psychischer Gewalt und/oder sexuellem Missbrauch - auch auf Grund der Praxis des "Bacha Bazi".

Dem Beschwerdeführer droht wegen der Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara oder zur schiitischen Religion konkret und individuell keine physische und/oder psychische Gewalt in Afghanistan. Nicht jeder Angehörige der Volksgruppe der Hazara oder der schiitischen Religion ist in Afghanistan physischer und/oder psychischer Gewalt ausgesetzt.

Der Beschwerdeführer ist im Falle der Rückkehr nach Afghanistan aufgrund seines behaupteten Abfalles vom muslimischen Glauben keiner psychischer und oder psychischer Gewalt ausgesetzt, noch ist dies einer der Gründe für das Verlassen seines Heimatlandes gewesen. Personen, die sich - ohne Zuwendung zu einer anderen Religion - lediglich nicht für den Islam interessieren und etwa nicht in die Moschee gehen, sind keiner maßgeblichen Gefahr ausgesetzt. Der Beschwerdeführer geht aktiv keiner (neuen) religiösen Überzeugung nach.

Es kann nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan auf Grund seiner "westlichen Wertehaltung" psychische oder physische Gewalt drohen würde.

Dem Beschwerdeführer droht alleine aufgrund seines Alters bzw. vor dem Hintergrund der Situation von Kindern in Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keine physische und/oder psychische Gewalt asylrelevanter Intensität.

Der Beschwerdeführer war in seinem Herkunftsstaat Afghanistan keiner psychischen oder physischen Gewalt aus Gründen seiner Volksgruppenzugehörigkeit, Religion, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe ausgesetzt, noch hat er eine solche, im Falle seiner Rückkehr, zu befürchten.

Der Beschwerdeführer wurde in Afghanistan nie persönlich bedroht oder angegriffen, es droht ihm auch künftig keine psychische und/oder physische Gewalt von staatlicher Seite, und/oder von Aufständischen, und/oder von sonstigen privaten Verfolgern in seinem Herkunftsstaat.

Auch sonst haben sich im Verfahren keine Hinweise für eine dem Beschwerdeführer in Afghanistan individuell drohende Verfolgung ergeben.

1.3. Zu einer möglichen Rückkehr der Beschwerdeführer in den Herkunftsstaat:

Der Beschwerdeführer stammt aus der Provinz Kandahar. Dies ist eine Provinz, in welcher willkürliche Gewalt ein derart hohes Ausmaß erreicht, dass im Einzelfall nur geringe Voraussetzungen erfüllt sein müssen, um berechtigten Grund für die Annahme zu liefern, dass Zivilisten, welche in die betreffende Provinz rückgebracht würden, eine reelle Gefahr, ernsthaften Schaden im Sinne von Artikel 15c der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen, zu gewärtigen hätte.

In seiner Herkunftsprovinz sind nach den aktuellen Länderinformationen Aufständische tätig, und es kann nicht mit maßgeblicher Sicherheit ausgeschlossen werden, dass der Beschwerdeführer als (minderjähriger) Zivilist ernsthaften Schaden an Leib und Leben im Falle einer Rückkehr in seine Herkunftsprovinz nehmen könnte, zumal eine hohe Zahl an minderjährigen Opfern besteht. Das Bestehen einer reellen Gefahr im Sinne einer schwerwiegenden individuellen Bedrohung des Beschwerdeführers kann vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen nicht ausgeschlossen werden und findet darüber hinaus Deckung in den Risikoprofilen der UNHCR-Richtlinien, wonach Kinder Zwangskinderarbeit, gefährlicher Kinderarbeit in Zusammenschau mit Misshandlungen und Gewalt ausgesetzt sind. Aus diesem Grund ist ihm eine Rückkehr in seine Herkunftsprovinz Kandahar aktuell nicht möglich.

Eine innerstaatliche Fluchtalternative ist nicht möglich und im gegenständlichen Fall nicht zumutbar:

Bei dem Beschwerdeführer handelt es sich um einen Minderjährigen im Alter von 15 Jahren, der bis zu seiner Ausreise aus Afghanistan im Jahr 2015 im Familienverband mit seiner zum damaligen Zeitpunkt in der Provinz Kandahar ansässigen Familie gelebt hat.

Die Eltern und Geschwister des Beschwerdeführers sind mittlerweile in Pakistan aufhältig. Der Beschwerdeführer oder seine Familie verfügen in Afghanistan weder über eigenes Vermögen noch verfügt der Beschwerdeführer in Afghanistan über eigene Möglichkeiten der Existenzsicherung.

Der Beschwerdeführer gehört als unbegleiteter Minderjähriger einer besonders vulnerablen Gruppe an (VwGH 21.03.2018, Ra 2017/18/0474 bis 0479-9).

Im Hinblick auf die in den afghanischen Großstädten ohnehin bereits angespannte Arbeitsmarktsituation kommt hinzu, dass der gerade 15 Jahre alte Beschwerdeführer im Herkunftsstaat zwar fünf Jahre lang die Grundschule besucht hat, aber über keine Berufserfahrung verfügt. Dem Beschwerdeführer würde bei einer Rückkehr zum Beispiel nach Mazar-e Sharif kein tragfähiges familiäres Netzwerk zur Verfügung stehen. Es wird unter Beachtung der Informationen zur Situation von Kindern in Afghanistan festgestellt, dass der Beschwerdeführer bei einer Ansiedlung in einer Stadt wie Mazar-e Sharif einem realen Risiko ausgesetzt wäre, in eine existenzbedrohende (Not-)Lage zu geraten. Daher kann der Beschwerdeführer auch nicht in zumutbarer Weise auf die Übersiedlung in andere Landesteile Afghanistans verwiesen werden.

Aufgrund einer Zusammenschau dieser Umstände steht im gegenständlichen Fall fest, dass dem minderjährigen, mittellosen, Beschwerdeführer, der über keinen familiären Anschluss in Afghanistan und über keine Berufserfahrung verfügt, bei einer Rückkehr nach Afghanistan die reale Gefahr einer Verletzung nach Art. 3 EMRK drohen würde und eine innerstaatliche Fluchtalternative z.B. nach Mazar-e Sharif nicht möglich ist, da sich die Gefahr im gesamten Staatsgebiet verwirklichen könnte.

1.4. Zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat Afghanistan:

Zur Lage in Afghanistan werden die im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation samt Kurzinformation vom 29.06.2018 mit Stand vom 04.06.2019 (LIB), in den UNHCR Richtlinien vom 30.08.2019 (UNHCR) und den EASO Leitlinien zu Afghanistan vom Juni 2018 (EASO) enthaltenen folgenden Informationen als entscheidungsrelevant festgestellt:

1.4.1. Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen andere gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren. Ausländische Streitkräfte und Regierungsvertreter sowie die als ihre Verbündeten angesehenen Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte und Vertreter der afghanischen Regierung sind prioritäre Ziele der Aufständischen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und komplexen Angriffen auf staatliche Einrichtungen aus. In einigen Teilen des Landes ist fehlende Sicherheit die größte Bewegungseinschränkung. In bestimmten Gebieten machen Gewalt durch Aufständische, Landminen und improvisierte Sprengfallen (IEDs) das Reisen besonders gefährlich, speziell in der Nacht. Bewaffnete Aufständischengruppen betreiben illegale Checkpoints und erpressen Geld und Waren. (LIB)

1.4.2. Herkunftsprovinz Kandahar

Die südliche Provinz Kandahar ist als kommerzielles Zentrum des Landes bekannt. Im Norden grenzt Kandahar an die Provinz Uruzgan, im Süden an Pakistan, im Osten an die Provinz Zabul und im Westen an die Provinz Helmand. Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 1.279.520 geschätzt. Die Provinz besteht aus folgenden Distrikten: Kandahar Stadt/City, Dand, Zherai, Daman, Arghandab, Arghestan, Panjwai, Maroof, Spin Boldak, Maiwand, Shawalikot, Takhta Pul, Khakriz, Nish, Ghorak, Rigistan, Mianshin, und Shoraba. Die Provinzhauptstadt Kandahar City wird als eine der strategisch wichtigsten und vielschichtigsten Städte Afghanistans erachtet. In Kandahar gibt es einen internationalen Flughafen. In der Provinz leben neben Paschtunen auch Belutschen, Tadschiken, Hindus und Hazara.

Auch in der Provinz Kandahar wurde eine Steigerung des Mohnanbaus um 37% (+ 7.500 Hektar) registriert; insgesamt 28.010 Hektar, gleichzeitig wurden in der Provinz 48 Hektar vernichtet, im Jahr 2016 waren es noch vier Hektar. Im Rahmen von Bemühungen der afghanischen Regierung, Alternativen für afghanische Bauern, die Drogen anbauen, zu finden, werden diese Pistazienfelder erhalten; so werden z.B. in Kandahar 250 Felder zur Verfügung gestellt.

Durch die Provinz Kandahar verläuft die 557 km lange Kabul-Kandahar-Autobahn. Anrainer/innen zufolge ist der Autobahnabschnitt in Kandahar wegen der intensiven Nutzung in den letzten Jahren, der gesunkenen Wartung und der Angriffe von Aufständischen in schlechtem Zustand. Die Provinz Kandahar verfügt über einen internationalen Flughafen.

Auch soll hinkünftig die Turkmenistan-Afghanistan-Pakistan-India (TAPI) Gaspipeline, neben vier weiteren Provinzen (Herat, Farah, Nimroz und Helmand), auch durch die Provinz Kandahar gehen. Diese Provinzen sind weitgehend unter Kontrolle der Taliban und die Sicherheitslage in ihnen ist problematisch. Für den Bau der Pipeline ist es daher günstig, dass die Taliban und das Nachbarland Pakistan ihre Kooperation für das TAPI-Projekt gezeigt haben. Diese Pipeline wird Erdgas von Turkmenistan nach Pakistan und Indien via Afghanistan transportieren. Die Pipeline soll in Afghanistan entlang des Autobahnteils Kandahar-Herat errichtet werden; um Sicherheit für das TAPI-Projekt zu gewähren sind tausende Sicherheitskräfte entsandt worden.

Allgemeine Information zur Sicherheitslage

Die Sicherheitslage, die sich Quellen zufolge in den letzten Jahren verbessert hatte, verschlechterte sich im Mai 2017 und in den Anfangsmonaten des Jahres 2018 wieder, nachdem die Taliban ihre Aktivitäten in der Provinz verstärkten. Insbesondere die abgelegenen Distrikte der Provinz waren davon betroffen, da sich die Taliban auf die südlichen Provinzen im Rahmen ihrer Frühlingsoffensive konzentrierten.

Im Berichtszeitraum 15.12.2017-15.2.2018 haben laut Vereinten Nationen (UN) regierungsfeindliche Elemente auch weiterhin Druck auf die afghanischen Sicherheitskräfte ausgeübt, indem koordinierte Angriffe auf Kontrollpunkte der afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte in Kandahar verübt wurden.

Im Zeitraum 1.1.2017-30.4.2018 wurden in der Provinz 186 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert.

Kandahar war im Jahr 2017 die Provinz mit der viert-höchsten Anzahl registrierter Anschläge in Afghanistan.

Im gesamten Jahr 2017 wurden in Kandahar 716 zivile Opfer (271 getötete Zivilisten und 445 Verletzte) registriert. Hauptursache waren IEDs, gefolgt von Bodenoffensiven und Blindgängern/Landminen. Dies deutet einen Rückgang von 18% im Gegensatz zum Vergleichsjahr 2016.

Militärische Operationen in Kandahar

Im März 2018 wurde verlautbart, dass die Sicherheitskräfte im vorangegangenen Monat Operationen in der Provinz ausgeführt haben.

Luftangriffe werden durchgeführt; dabei wurden Aufständische getötet. Des weiteren kam es zu Zusammenstößen zwischen Talibanaufständischen und Sicherheitskräften.

Auch Polizistinnen helfen an der Front mit: Rund 110 weibliche Offiziere dienen Kandahar-weit an verschiedenen Orten, inklusive dem Flughafen. Frauen spielen eine essentielle Rolle in Gegenden und Situationen, die Männern nicht zugänglich sind - wie z.B. die Interaktion mit Frauen an Kontrollpunkten.

Regierungsfeindliche Gruppierungen in Kandahar

Kandahar ist eine ehemalige Festung der Taliban, nachdem die Provinz als Gründungsort der Gruppierung erachtet wird, gilt sie als strategisch wichtig für die Taliban. Als wichtige Einnahmequelle der Taliban ist in der Provinz Kandahar die Opiumproduktion. Die Provinz grenzt an Pakistans Belutschistan an, eine Provinz die der Gruppierung als sicherer Rückzugsort und generelles Rekrutierungszentrum dient. Einer Quelle vom Oktober 2017 zufolge haben die Taliban - wie bereits erwähnt - ihre Angriffe auf die afghanischen Sicherheitskräfte verstärkt. Sie haben außerdem versucht, in Kandahar Gebiete zurückzugewinnen, die sie vor Jahren verloren hatten.

Zwischen 1.1.2017 und 15.7.2017 wurden IS-bezogene Vorfälle (Gewalt gegen die Zivilbevölkerung) in der Provinz Kandahar registriert.

1.4.3. Provinz Balkh bzw. Stadt Mazar-e Sharif

Bei der Provinz Balkh handelt es sich um eine jener Provinzen, in denen es zu willkürlicher Gewalt kommt, jedoch nicht auf hohem Niveau, und dementsprechend ist ein höheres Maß an Einzelelementen erforderlich ist, um wesentliche Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass ein in dieses Gebiet zurückgekehrter Zivilist einem realen ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen (EASO).

Die Stadt Mazar-e Sharif wird von EASO als eine jener Regionen eingestuft, in welcher willkürliche Gewalt auf einem so niedrigen Niveau stattfindet, dass im Allgemeinen kein reales Risiko besteht, dass ein Zivilist aufgrund willkürlicher Gewalt im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie persönlich betroffen wird (EASO).

Balkh liegt im Norden Afghanistans und grenzt im Norden an Usbekistan, im Nordosten an Tadschikistan, im Osten an Kunduz und Baghlan, im Südosten an Samangan, im Südwesten an Sar-e Pul, im Westen an Jawzjan und im Nordwesten an Turkmenistan. Die Provinzhauptstadt ist Mazar-e Sharif. Die Provinz ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Balkh, Char Bolak, Char Kent, Chimtal, Dawlat Abad, Dehdadi, Kaldar, Kishindeh, Khulm, Marmul, Mazar-e Sharif, Nahri Shahi, Sholgara, Shortepa und Zari (LIB).

Nach Schätzung der zentralen Statistikorganisation Afghanistan (CSO) für den Zeitraum 2019-20 leben 1.475.649 Personen in der Provinz Balkh, davon geschätzte 469.247 in der Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif. Balkh ist eine ethnisch vielfältige Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird (LIB).

Balkh zählt zu den relativ stabilen und ruhigen Provinzen Nordafghanistans, in welcher die Taliban in der Vergangenheit keinen Fuß fassen konnten. Die vergleichsweise ruhige Sicherheitslage war vor allem auf das Machtmonopol des ehemaligen Kriegsherrn und späteren Gouverneurs von Balkh, Atta Mohammed Noor, zurückzuführen. In den letzten Monaten versuchen Aufständische der Taliban die nördliche Provinz Balkh aus benachbarten Regionen zu infiltrieren. Drei Schlüsseldistrikte, Zari, Sholagara und Chahar Kant, zählen zu jenen Distrikten, die in den letzten Monaten von Sicherheitsbedrohungen betroffen waren. Die Taliban überrannten keines dieser Gebiete. Einem UN-Bericht zufolge, gibt es eine Gruppe von rund 50 Kämpfern in der Provinz Balkh, welche mit dem Islamischen Staat (IS) sympathisiert. Bei einer Militäroperation im Februar 2019 wurden unter anderem in Balkh IS-Kämpfer getötet (LIB).

Das Hauptquartier des 209. ANA Shaheen Corps befindet sich im Distrikt Dehdadi. Es ist für die Sicherheit in den Provinzen Balkh, Jawzjan, Faryab, Sar-e-Pul und Samangan zuständig und untersteht der NATO-Mission Train, Advise, and Assist Command - North (TAAC-N), welche von deutschen Streitkräften geleitet wird. Deutsche Bundeswehrsoldaten sind in Camp Marmal in Mazar-e Sharif stationiert (LIB).

Im Jahr 2018 dokumentierte UNAMA 227 zivile Opfer (85 Tote und 142 Verletzte) in Balkh. Dies entspricht einer Steigerung von 76% gegenüber 2017. Die Hauptursache für die Opfer waren Bodenkämpfe, gefolgt von improvisierten Bomben (IEDS; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen. UNAMA verzeichnete für das Jahr 2018 insgesamt 99 zivile Opfer durch Bodenkämpfe in der Provinz. Hinsichtlich der nördlichen Region, zu denen UNAMA auch die Provinz Balkh zählt, konnte in den ersten 6 Monaten ein allgemeiner Anstieg ziviler Opfer verzeichnet werden (LIB).

Im Winter 2018/2019 und Frühjahr 2019 wurden ANDSF-Operationen in der Provinz Balkh durchgeführt. Die ANDSF führen auch weiterhin regelmäßig Operationen in der Provinz unter anderem mit Unterstützung der US-amerikanischen Luftwaffe durch. Taliban-Kämpfer griffen Einheiten der ALP, Mitglieder regierungsfreundlicher Milizen und Sicherheitsposten beispielsweise in den Distrikten Chahrbulak, Chemtal, Dawlatabad und Nahri Shahi an (LIB).

Berichten zufolge, errichten die Taliban auf wichtigen Verbindungsstraßen, die unterschiedliche Provinzen miteinander verbinden, immer wieder Kontrollpunkte. Dadurch wird das Pendeln für Regierungsangestellte erschwert. Insbesondere der Abschnitt zwischen den Provinzen Balkh und Jawjzan ist von dieser Unsicherheit betroffen (LIB).

UNOCHA meldete für den Zeitraum vom 01.01.2018 bis 30.06.2019 rund 5.600 Personen, welche konfliktbedingt aus der Provinz Balkh vertrieben wurden, welche hauptsächlich in der Provinz selbst in den Distrikten Nahri Shahi und Kishindeh Zuflucht fanden Zuflucht fanden und somit allesamt in der Provinz verblieben (LIB).

Im Zeitraum 01.01.2018 bis 30.06.2019 meldete UNOCHA rund 30.000 Vertriebene in die Provinz Balkh, welche aus den Provinzen Faryab, Sar-e-Pul, aus Balkh selbst, Jawzjan, Samangan und Sar-e-Pul stammten (LIB).

1.4.4. Sichere Einreise

Die Stadt Mazar-e Sharif ist über den internationalen Flughafen sicher erreichbar. Der Flughafen von Mazar-e Sharif (MRZ) liegt 9 km östlich der Stadt im Bezirk Marmul. Die Befahrung der Straßen von diesem Flughafen bis zur Stadt Mazar-e Sharif ist zur Tageszeit im Allgemeinen sicher. (EASO)

1.4.5. Wirtschafts- und Versorgungslage

Zur Wirtschafts- und Versorgungslage ist festzuhalten, dass Afghanistan weiterhin ein Land mit hoher Armutsrate und Arbeitslosigkeit ist. Seit 2002 hat Afghanistan mit Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft wichtige Fortschritte beim Wiederaufbau seiner Wirtschaft erzielt. Nichtsdestotrotz bleiben bedeutende Herausforderungen bestehen, da das Land weiterhin von Konflikten betroffen, arm und von Hilfeleistungen aus dem Ausland abhängig ist (LIB).

Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor (einschließlich illegaler Aktivitäten), der 80 bis 90 % der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tatsächliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft, wobei der landwirtschaftliche Sektor gemäß Prognosen der Weltbank im Jahr 2019 einen Anteil von 18,7 % am Bruttoinlandsprodukt (BIP) hat (Industrie: 24,1%, tertiärer Sektor: 53,1%; WB 7.2019). Das BIP Afghanistans betrug im Jahr 2018 19,36 Mrd. US-Dollar (LIB).

Fähigkeiten, die sich Rückkehrer/innen im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Bei der Arbeitssuche spielen persönliche Kontakte eine wichtige Rolle. Eine Quelle betont jedoch die Wichtigkeit von Netzwerken, ohne die es nicht möglich sei, einen Job zu finden. Bei Ausschreibung einer Stelle in einem Unternehmen gibt es in der Regel eine sehr hohe Anzahl an Bewerbungen und durch persönliche Kontakte und Empfehlungen wird mitunter Einfluss und Druck auf den Arbeitgeber ausgeübt. Eine im Jahr 2012 von der ILO durchgeführte Studie über die Beschäftigungsverhältnisse in Afghanistan bestätigt, dass Arbeitgeber persönliche Beziehungen und Netzwerke höher bewerten als formelle Qualifikationen. Analysen der norwegischen COI-Einheit Landinfo zufolge, gibt es keine Hinweise darüber, dass sich die Situation seit 2012 geändert hätte (LIB).

Laut Daten der Afghanistan Living Conditions Survey (ALCS) 2016 - 2017 können 2 Millionen Afghanen - das sind 23,9% der gesamten Erwerbsbevölkerung - als arbeitslos eingestuft werden, was bedeutet, dass sie nicht arbeiten oder eine Beschäftigung suchen, oder weniger als acht Stunden pro Woche arbeiten.

Junge Afghanen treten jedes Jahr in großer Zahl in den Arbeitsmarkt ein, aber die Beschäftigungsmöglichkeiten können aufgrund unzureichender Entwicklungsressourcen und mangelnder Sicherheit nicht mit dem Bevölkerungswachstum mithalten. Afghanistan war seit 2011-2012 mit einem starken Anstieg der Armut konfrontiert, wobei sowohl die städtischen als auch die ländlichen Armutsraten zunahmen. In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5% der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80% der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlings- und Sommermonaten relativ niedrig (rund 20%), während sie im Winter 32,5% erreichen kann (EASO).

1.4.6. Wirtschafts- und Versorgungslage der Stadt Mazar-e Sharif

Mazar-e Sharif ist ein regionales Handelszentrum für Nordafghanistan und ein Industriezentrum mit großen Produktionsbetrieben und einer großen Anzahl kleiner und mittlerer Unternehmen, die Kunsthandwerk, Teppiche und Teppiche anbieten. Mazar-e Sharif gilt im Vergleich zu Herat oder Kabul als relativ stabiler. Die größte Gruppe von Arbeitern in der Stadt Mazar-e Sharif sind im Dienstleistungsbereich und als Verkäufer tätig (EASO).

In Mazar-e Sharif besteht laut EASO grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bietet die Stadt Mazar-e Sharif die Möglichkeit von "Teehäusern", die mit 30 Afghani (das sind ca. ? 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. ? 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. "Teehäuser" werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO).

Die meisten Menschen in Mazar-e Sharif haben Zugang zu erschlossener Wasserversorgung (76%), welche in der Regel in Rohrleitungen oder aus Brunnen erfolgt. 92% der Haushalte haben Zugang zu besseren Sanitäreinrichtungen (EASO).

Laut dem Opium Survey von UNODC für das Jahr 2018 belegt Balkh den 7. Platz unter den zehn größten Schlafmohn produzierenden Provinzen Afghanistans. Aufgrund der Dürre sank der Mohnanbau in der Provinz 2018 um 30% gegenüber 2017 (LIB).

1.4.7. Ethnische Minderheiten

In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 32 und 35 Millionen Menschen. Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht. Schätzungen zufolge, sind: 40 bis 42% Paschtunen, 27 bis 30% Tadschiken, 9 bis 10% Hazara, 9% Usbeken, ca. 4% Aimaken, 3% Turkmenen und 2% Belutschen. Weiters leben in Afghanistan eine große Zahl an kleinen und kleinsten Völkern und Stämmen, die Sprachen aus unterschiedlichsten Sprachfamilien sprechen (LIB).

Artikel 4 der Verfassung Afghanistans besagt: "Die Nation Afghanistans besteht aus den Völkerschaften der Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Paschai, Nuristani, Aimaq, Araber, Kirgisen, Qizilbasch, Gojar, Brahui und anderen Völkerschaften. Das Wort ?Afghane' wird für jeden Staatsbürger der Nation Afghanistans verwendet". Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnischen Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Artikel 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser Sprachen spricht: Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri. Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz, beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen zu haben, in denen sie eine Minderheit darstellen (LIB).

Der Gleichheitsgrundsatz ist in der afghanischen Verfassung rechtlich verankert, wird allerdings in der gesellschaftlichen Praxis immer wieder konterkariert. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag besteht fort und wird nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (LIB).

Die schiitische Minderheit der Hazara, zu welchen der Beschwerdeführer zählt, macht etwa 9 bis 10% der Bevölkerung aus. Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt; der Hazaradjat [zentrales Hochland] umfasst die Provinzen Bamyan, Ghazni, Daikundi und den Westen der Provinz (Maidan) Wardak sowie Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis, und Sar-e Pul. Jahrzehntelange Kriege und schwierige Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul, getrieben. Hazara leben hauptsächlich in den zentralen und westlichen Provinzen sowie in Kabul (LIB).

Die Stadt Kabul ist in den letzten Jahrzehnten rasant gewachsen und ethnisch gesehen vielfältig. Viele Hazara leben unter anderem in Stadtvierteln im Westen der Stadt, insbesondere in Kart-e Se, Dasht-e Barchi sowie in den Stadtteilen Kart-e Chahar, Deh Buri , Afshar und Kart-e Mamurin (LIB).

Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild. Ethnische Hazara sind mehrheitlich Zwölfer-Schiiten, auch bekannt als Jafari Schiiten. Eine Minderheit der Hazara, die vor allem im nordöstlichen Teil des Hazaradjat lebt, ist ismailitisch. Ismailische Muslime, die vor allem, aber nicht ausschließlich, Hazara sind, leben hauptsächlich in Kabul sowie den zentralen und nördlichen Provinzen Afghanistans (LIB).

Die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, hat sich grundsätzlich verbessert und Hazara bekleiden inzwischen auch prominente Stellen in der Regierung und im öffentlichen Leben, sind jedoch in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert. Hazara werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung. Nichtsdestotrotz, genießt die traditionell marginalisierte schiitische muslimische Minderheit, zu der die meisten ethnischen Hazara gehören, seit 2001 eine zunehmende politische Repräsentation und Beteiligung an nationalen Institutionen (LIB).

Die Hazara-Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan. Sollte der dem Haushalt vorstehende Mann versterben, wird die Witwe Haushaltsvorständin, bis der älteste Sohn volljährig ist. Es bestehen keine sozialen und politischen Stammesstrukturen (LIB).

Hazara neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, was im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter steht. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen führen weiterhin zu Konflikten und Tötungen. Berichten zufolge halten Angriffe durch den ISKP und andere aufständische Gruppierungen auf spezifische religiöse und ethno-religiöse Gruppen - inklusive der schiitischen Hazara - an (LIB).

Während des Jahres 2018 intensivierte der IS Angriffe gegen die Hazara. Angriffe gegen Schiiten, davon vorwiegend gegen Hazara, forderten im Zeitraum 01.01.2018 bis 30.9.2018 211 Todesopfer. Das von schiitischen Hazara bewohnte Gebiet Dasht-e Barchi in Westkabul ist immer wieder Ziel von Angriffen. Die Regierung hat Pläne zur Verstärkung der Präsenz der afghanischen Sicherheitskräfte verlautbart. Angriffe werden auch als Vergeltung gegen mutmaßliche schiitische Unterstützung der iranischen Aktivitäten in Syrien durchgeführt (LIB).

In Randgebieten des Hazaradjat kommt es immer wieder zu Spannungen und teilweise gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Nomaden und sesshaften Landwirten, oftmals Hazara (LIB).

Die Hazara sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 10% in der Afghan National Army und der Afghan National Police repräsentiert. NGOs berichten, dass Polizeibeamte, die der Hazara-Gemeinschaft angehören, öfter als andere Ethnien in unsicheren Gebieten eingesetzt werden oder im Innenministerium an symbolische Positionen ohne Kompetenzen befördert werden (LIB).

1.4.8. Kinder

Die Situation der Kinder hat sich in den vergangenen Jahren verbessert. So werden mittlerweile rund zwei Drittel aller Kinder eingeschult. Während Mädchen unter der Taliban-Herrschaft fast vollständig vom Bildungssystem ausgeschlossen waren, machen sie von den heute ca. acht Millionen Schulkindern rund drei Millionen aus. Der Anteil der Mädchen nimmt jedoch mit fortschreitender Klassen- und Bildungsstufe ab. Den geringsten Anteil findet man im Süden und Südwesten des Landes (Helmand, Uruzgan, Zabul und Paktika). Landesweit gehen in den meisten Regionen Mädchen und Buben in der Volksschule in gemischten Klassen zur Schule; erst in der Mittel- und Oberstufe werden sie getrennt.

Bildungssystem in Afghanistan

Der Schulbesuch ist in Afghanistan bis zur Unterstufe der Sekundarbildung Pflicht (die Grundschule dauert sechs Jahre und die Unterstufe der Sekundarbildung drei Jahre). Das Gesetz sieht kostenlose Schulbildung bis zum Hochschulniveau vor.

Aufgrund von Unsicherheit, konservativen Einstellungen und Armut haben Millionen schulpflichtiger Kinder keinen Zugang zu Bildung - insbesondere in den südlichen und südwestlichen Provinzen. Manchmal fehlen auch Schulen in der Nähe des Wohnortes. Auch sind in von den Taliban kontrollierten Gegenden gewalttätige Übergriffe auf Schulkinder, insbesondere Mädchen, ein weiterer Hinderungsgrund beim Schulbesuch. Taliban und andere Extremisten bedrohen und greifen Lehrer/innen sowie Schüler/innen an und setzen Schulen in Brand. Nichtregierungsorganisationen sind im Bildungsbereich tätig, wie z. B. UNICEF, NRC, AWEC und Save the Children. Eine der Herausforderungen für alle Organisationen ist der Zugang zu jenen Gegenden, die außerhalb der Reichweite öffentlicher Bildung liegen. Der Bildungsstand der Kinder in solchen Gegenden ist unbekannt und Regierungsprogramme sind für sie unzugänglich - speziell, wenn die einzigen verfügbaren Bildungsstätten Madrassen sind. UNICEF unterstützt daher durch die Identifizierung von Dorfgemeinschaften, die mehr als drei Kilometer von einer ordentlichen Schule entfernt sind. Dort wird eine Dorfschule mit lediglich einer Klasse errichtet. UNICEF bezeichnet das als "classroom". Auf diese Art "kommt die Schule zu den Kindern". Auch wird eine Lehrkraft aus demselben, gegebenenfalls aus dem nächstgelegenen Dorf, ausgewählt - bevorzugt werden Frauen. Lehrkräfte müssen fortlaufend Tests des Provinzbüros des Bildungsministeriums absolvieren. Je nach Ausbildungsstand beträgt das monatliche Gehalt der Lehrkräfte zwischen US$ 90 und 120. Die Infrastruktur für diese Schulen wird von der Dorfgemeinschaft zur Verfügung gestellt, UNICEF stellt die Unterrichtsmaterialien. Aufgrund mangelnder Finanzierung sind Schulbücher knapp. Wenn keine geeignete Lehrperson gefunden werden kann, wendet sich UNICEF an den lokalen Mullah, um den Kindern des Dorfes doch noch den Zugang zu Bildung zu ermöglichen. UNICEF zufolge ist es wichtig, Kindern die Möglichkeit zu geben, auch später einem öffentlichen Schulplan folgen zu können.

In Afghanistan existieren zwei parallele Bildungssysteme; religiöse Bildung liegt in der Verantwortung des Klerus in den Moscheen, während die Regierung kostenfreie Bildung an staatlichen Einrichtungen bietet. Nachdem in den meisten ländlichen Gemeinden konservative Einstellungen nach wie vor präsent sind, ist es hilfreich, wenn beim Versuch Modernisierungen durchzusetzen, auf die Unterstützung lokaler Meinungsträger zurückgegriffen wird - vor allem lokaler religiöser Würdenträger, denen die Dorfgemeinschaft vertraut. Im Rahmen von Projekten arbeiten unterschiedliche UN-Organisationen mit religiösen Führern in den Gemeinden zusammen, um sie in den Bereichen Frauenrechte, Bildung, Kinderehen und Gewalt, aber auch Gesundheit, Ernährung und Hygiene zu beraten. Eines dieser Projekte wurde von UNDP angeboten; als Projektteilnehmer arbeiten die Mullahs der Gemeinden, die weiterzugebenden Informationen in ihre Freitagpredigten ein. Auch halten sie Workshops zu Themen wie Bildung für Mädchen, Kinderehen und Gewalt an Frauen. Auf diesem Wege ist es ihnen möglich eine Vielzahl von Menschen zu erreichen. Im Rahmen eines Projektes hat UNICEF im Jahr 2003 mit rund 80.000 Mullahs zusammengearbeitet, mit dem Ziel Informationen zu Gesundheit, Ernährung, Hygiene, Bildung und Sicherheit in ihre Predigten einzubauen. Die tatsächliche Herausforderung dabei ist es, die Informationen in den Predigten zu vermitteln, ohne dabei Widerstand innerhalb der Gemeinschaft hervorzurufen.

Der gewaltfreie Umgang mit Kindern hat sich in Afghanistan noch nicht als Normalität durchsetzen können. Körperliche Züchtigung und Übergriffe im familiären Umfeld, in Schulen oder durch die afghanische Polizei sind verbreitet. Dauerhafte und durchsetzungsfähige Mechanismen seitens des Bildungsministeriums, das Gewaltpotenzial einzudämmen, gibt es nicht. Gerade in ländlichen Gebieten gehört die Ausübung von Gewalt zu den gebräuchlichen Erziehungsmethoden an Schulen. Das Curriculum für angehende Lehrer beinhaltet immerhin Handreichungen zur Vermeidung eines gewaltsamen Umgangs mit Schülern. Einer Befragung in drei Städten zufolge (Jalalabad, Kabul und Torkham), berichteten Kinder von physischer Gewalt - auch der Großteil der befragten Eltern gab an, physische Gewalt als Disziplinierungsmethode anzuwenden. Eltern mit höherem Bildungsabschluss und qualifizierterem Beruf wendeten weniger Gewalt an, um ihre Kinder zu disziplinieren.

Kinderarbeit

Das Arbeitsgesetz in Afghanistan setzt das Mindestalter für Arbeit mit 18 Jahren fest; es erlaubt Jugendlichen ab 14 Jahren als Lehrlinge zu arbeiten und solchen über 15 Jahren "einfache Arbeiten" zu verrichten. 16- und 17-Jährige dürfen bis zu 35 Stunden pro Woche arbeiten. Kinder unter 14 Jahren dürfen unter keinen Umständen arbeiten. Das Arbeitsgesetz verbietet die Anstellung von Kindern in Bereichen, die ihre Gesundheit gefährden. In Afghanistan existiert eine Liste, die gefährliche Jobs definiert; dazu zählen: Arbeit im Bergbau, Betteln, Abfallentsorgung und Müllverbrennung, arbeiten an Schmelzöfen sowie in großen Schlachthöfen, arbeiten mit Krankenhausabfall oder Drogen, arbeiten als Sicherheitspersonal und Arbeit im Kontext von Krieg.

Afghanistan hat die Konvention zum Schutze der Kinder ratifiziert. Kinderarbeit ist in Afghanistan somit offiziell verboten. Berichten zufolge arbeiten mindestens 15% der schulpflichtigen Kinder. Viele Familien sind auf die Einkünfte ihrer Kinder angewiesen. Daher ist die konsequente Umsetzung eines Kinderarbeitsverbots schwierig. Es gibt allerdings Programme, die es Kindern erlauben sollen, zumindest neben der Arbeit eine Schulausbildung zu absolvieren. Auch ein maximaler Stundensatz und Maßnahmen zum Arbeitsschutz (wie z. B. das Tragen einer Schutzmaske beim Teppichknüpfen) wurden gesetzlich geregelt. Der Regierung fehlt es allerdings an durchsetzungsfähigen Überprüfungsmechanismen für diese gesetzlichen Regelungen. Allgemein kann gesagt werden, dass schwache staatliche Institutionen die effektive Durchsetzung des Arbeitsrechts hemmen und die Regierung zeigt nur geringe Bemühungen, Kinderarbeit zu verhindern oder Kinder aus ausbeuterischen Verhältnissen zu befreien.

Kinderarbeit bleibt ein tiefgreifendes Problem. Das Arbeitsministerium verweigert Schätzungen zur Zahl der arbeitenden Kinder in Afghanistan und begründet dies mit fehlenden Daten und Mängeln bei der Geburtenregistrierung. Dies schränkt die ohnehin schwachen Kapazitäten der Behörden bei der Durchsetzung des Mindestalters für Arbeit ein. Berichten zufolge werden weniger als 10% der Kinder bei Geburt registriert. Oft sind Kinder sexuellem Missbrauch durch erwachsene Arbeiter ausgesetzt.

Strafverfolgung von Kindern

Das Gesetz besagt, dass die Festnahme eines Kindes als letztes Mittel und so kurz wie möglich vorgenommen werden soll. Berichten zufolge mangelt es Kindern in Jugendhaftanstalten landesweit an Zugang zu adäquater Verpflegung, Gesundheitsvorsorge und Bildung. Festgenommenen Kindern werden oftmals Grundrechte wie z.B. die Unschuldsvermutung, das Recht auf einen Anwalt, oder das Recht auf Information über die Haftgründe sowie das Recht, nicht zu einem Geständnis gezwungen zu werden, verwehrt. Das Gesetz sieht eine eigene Jugendgerichtsbarkeit vor; wegen limitierter Ressourcen sind spezielle Jugendgerichte nur in sechs Gebieten funktionsfähig: Kabul, Herat, Balkh, Kandahar, Nangarhar und Kunduz. In anderen Provinzen, in denen keine speziellen Gerichte existieren, fallen Kinder unter die Zuständigkeit allgemeiner Gerichte. Im afghanischen Strafjustizsystem sind Kinder oftmals eher die Opfer als die Täter.

Viele Kinder sind unterernährt. Ca. 10% (laut offizieller Statistik 91 von 1.000, laut Weltbank 97 von 1.000) der Kinder sterben vor ihrem fünften Geburtstag. Straßenkinder gehören zu den am wenigsten geschützten Gruppen Afghanistans und sind jeglicher Form von Missbrauch und Zwang ausgesetzt. Nachdem im Jahr 2016 die Zahl getöteter oder verletzter Kinder gegenüber dem Vorjahr um 24% gestiegen war (923 Todesfälle, 2.589 Verletzte), sank sie 2017 um 10% (861 Todesfälle, 2.318 Verletzte). 2017 machten Kinder 30% aller zivilen Opfer aus. Die Hauptursachen sind Kollateralschäden bei Kämpfen am Boden (45%), Sprengfallen (17%) und zurückgelassene Kampfmittel (16%).

Rekrutierung von Kindern

Im Februar 2016 trat das Gesetz über das Verbot der Rekrutierung von Kindern im Militär in Kraft. Berichten zufolge rekrutieren die ANDSF und andere regierungsfreundliche Milizen in limitierten Fällen Kinder; die Taliban und andere regierungsfeindliche Gruppierungen benutzen Kinder regelmäßig für militärische Zwecke. Im Rahmen eines Regierungsprogramms werden Schulungen für ANP-Mitarbeiter zu Alterseinschätzung und Sensibilisierungskampagnen betreffend die Rekrutierung von Minderjährigen organisiert sowie Ermittlungen in angeblichen Kinderrekrutierungsfällen eingeleitet.

1.4.9. Religion, Apostasie und Konversion

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7% und die Schiiten auf 10 bis 19% der Gesamtbevölkerung geschätzt. Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha¿i und Christen machen weniger als ein Prozent der Bevölkerung aus (LIB).

Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben. Die Abkehr vom Islam gilt als Apostasie, die nach der Scharia strafbewehrt ist. Im Laufe des Untersuchungsjahres 2018 gab es keine Berichte über staatliche Verfolgungen aufgrund von Blasphemie oder Apostasie. Auch im Berichtszeitraum davor gab es keine Berichte zur staatlichen Strafverfolgung von Apostasie und Blasphemie.

Das Gesetz verbietet die Produktion und Veröffentlichung von Werken, die gegen die Prinzipien des Islam oder gegen andere Religionen verstoßen. Das neue Strafgesetzbuch 2017, welches im Februar 2018 in Kraft getreten ist, sieht Strafen für verbale und körperliche Angriffe auf Anhänger jedweder Religion und Strafen für Beleidigungen oder Verzerrungen gegen den Islam vor (LIB).

Die Religionsfreiheit hat sich seit 2001 zwar verbessert, jedoch wird diese noch immer durch Gewalt und Drangsalierung gegenüber religiösen Minderheiten und reformerischen Muslimen behindert (LIB).

Wegen konservativer sozialer Einstellungen und Intoleranz sowie der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Sicherheitskräfte, individuelle Freiheiten zu verteidigen, sind Personen, die mutmaßlich gegen religiöse und soziale Normen verstoßen, vulnerabel für Misshandlung. Mitglieder der Taliban und des Islamischen Staates (IS) töten und verfolgen weiterhin Mitglieder religiöser Minderheiten aufgrund ihres Glaubens oder ihrer Beziehungen zur Regierung. Da Religion und Ethnie oft eng miteinander verbunden sind, ist es schwierig, einen Vorfall ausschließlich durch die religiöse Zugehörigkeit zu begründen (LIB).

Der Anteil schiitischer Muslime an der Bevölkerung wird auf 10 bis 19% geschätzt. Zuverlässige Zahlen zur Größe der schiitischen Gemeinschaft sind nicht verfügbar und werden vom Statistikamt nicht erfasst. Gemäß Gemeindeleitern sind die Schiiten Afghanistans mehrheitlich Jafari-Schiiten (Zwölfer-Schiiten), 90% von ihnen gehören zur ethnischen Gruppe der Hazara. Unter den Schiiten gibt es auch Ismailiten (LIB).

Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten sind in Afghanistan selten. Beobachtern zufolge ist die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit zurückgegangen; dennoch existieren Berichte zu lokalen Diskriminierungsfällen. Gemäß Zahlen von UNAMA gab es im Jahr 2018 19 Fälle konfessionell motivierter Gewalt gegen Schiiten, bei denen 223 Menschen getötet und 524 Menschen verletzt wurden; ein zahlenmäßiger Anstieg der zivilen Opfer um 34%. In den Jahren 2016, 2017 und 2018 wurden durch den Islamischen Staat (IS) und die Taliban 51 terroristischen Angriffe auf Glaubensstätten und religiöse Anführer der Schiiten bzw. Hazara durchgeführt. Im Jahr 2018 wurde die Intensität der Attacken in urbanen Räumen durch den IS verstärkt (LIB).

Apostasie, Blasphemie, Konversion

Glaubensfreiheit, die auch eine freie Religionswahl beinhaltet, gilt in Afghanistan de facto nur eingeschränkt. Die Abkehr vom Islam (Apostasie) wird nach der Scharia als Verbrechen betrachtet, auf das die Todesstrafe steht (LIB).

Jeder Konvertit soll laut islamischer Rechtsprechung drei Tage Zeit bekommen, um seinen Konfessionswechsel zu widerrufen. Sollte es zu keinem Widerruf kommen, gilt Enthauptung als angemessene Strafe für Männer, während Frauen mit lebenslanger Haft bedroht werden. Ein Richter kann eine mildere Strafe verhängen, wenn Zweifel an der Apostasie bestehen. Auch kann die Regierung das Eigentum des/der Abtrünnigen konfiszieren und dessen/deren Erbrecht einschränken. Des Weiteren ist gemäß hanafitischer Rechtsprechung Missionierung illegal. Dasselbe gilt für Blasphemie, die in der hanafitischen Rechtsprechung unter die Kapitalverbrechen fällt und auch nach dem neuen Strafgesetzbuch unter der Bezeichnung "religionsbeleidigende Verbrechen" verboten ist (LIB).

Es gibt keine Berichte über die Verhängung der Todesstrafe aufgrund von Apostasie; auch auf höchster Ebene scheint die afghanische Regierung kein Interesse zu haben, negative Reaktionen oder Druck hervorzurufen - weder vom konservativen Teil der afghanischen Gesellschaft, noch von den liberalen internationalen Kräften, die solche Fälle verfolgt haben und auch zur Strafverfolgung von Blasphemie existieren keine Berichte (LIB).

Es kann jedoch einzelne Lokalpolitiker geben, die streng gegen mutmaßliche Apostaten vorgehen und es kann auch im Interesse einzelner Politiker sein, Fälle von Konversion oder Blasphemie für ihre eigenen Ziele auszunutzen (LIB).

Gefahr bis hin zur Ermordung droht Konvertiten hingegen oft aus dem familiären oder nachbarschaftlichen Umfeld. Die afghanische Gesellschaft hat generell eine sehr geringe Toleranz gegenüber Menschen, die als den Islam beleidigend oder zurückweisend wahrgenommen werden. Obwohl es auch säkulare Bevölkerungsgruppen gibt, sind Personen, die der Apostasie beschuldigt werden, Reaktionen von Familie, Gemeinschaften oder in einzelnen Gebieten von Aufständischen ausgesetzt, aber eher nicht von staatlichen Akteuren. Wegen konservativer sozialer Einstellungen und Intoleranz sowie der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Sicherheitskräfte, individuelle Freiheiten zu verteidigen, sind Personen, die mutmaßlich gegen religiöse und soziale Normen verstoßen, vulnerabel für Misshandlung (LIB).

Abtrünnige haben Zugang zu staatlichen Leistungen; es existiert kein Gesetz, Präzedenzfall oder Gewohnheiten, die Leistungen für Abtrünnige durch den Staat aufheben oder einschränken. Sofern sie nicht verurteilt und frei sind, können sie Leistungen der Behörden in Anspruch nehmen (LIB).

Abtrünnige bekennen sich üblicherweise in Afghanistan nicht öffentlich. Sollten sie ihre Meinung öffentlich kundtun und sich auf Diskussionen einlassen, um ihren abtrünnigen Glauben vergleichend mit dem Islam zu verteidigen, werden sie von der Gesellschaft schlecht behandelt. Staatliche Behörden werden nur dann eingreifen, wenn sich Abtrünnige öffentlich äußern und soziale Probleme hervorrufen (Staatendokumentation).

Abtrünnige haben Zugang zu staatlichen Leistungen. Es gibt in Afghanistan viele Menschen, die während des Ramadans nicht fasten und freitags nicht beten. In ländlichen Gebieten wird diesen Personen von der Gesellschaft nahegelegt, (zumindest) das Freitags- und Ramadan-Gebet einzuhalten. Die Gesellschaft behandelt das Nichtbeten als kleine Vergehen. Das Nicht-Fasten ist in ländlichen Gebieten eine heiklere Angelegenheit. Vorfälle schlechter Behandlung wegen Nicht-Fastens durch die Gesellschaft kommen vor. Es gibt keine Berichte zur offiziellen Strafverfolgung wegen des Nicht-Fastens zu Ramadan. In städtischen Gebieten ist die Gesellschaft flexibler und weniger streng (Staatendokumentation).

1.4.10. Rückkehrer

Die Zahlen der Rückkehrer aus Iran sind auf hohem Stand, während ein deutliches Nachlassen an Rückkehrern aus Pakistan zu verzeichnen ist (2017: 154.000; 2018: 46.000), was im Wesentlichen mit den afghanischen Flüchtlingen jeweils gewährten Rechten und dem gewährten Status in Iran bzw. Pakistan zu begründen ist. Insgesamt sind in den Jahren 2012-2018 ca. 3,2 Millionen Menschen nach Afghanistan zurückgekehrt. Seit dem Jahr 2016 hat sich die Zahl der Rückkehrer jedes Jahr deutlich verringert, jedoch hat sich die Zahl der Rückkehrer aus Europa leicht erhöht 15% aller Rückkehrer siedeln in die Provinz Nangarhar (LIB).

Je nach Organisation variieren die Angaben zur Zahl der Rückkehrer:

In den ersten vier Monaten des Jahres 2019 sind insgesamt 63.449

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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