Entscheidungsdatum
04.03.2020Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W273 2189432-1/16E
W273 2189429-1/17E
W273 2189431-1/15E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Isabel FUNK-LEISCH über die Beschwerde von 1. XXXX , geb. XXXX , 2. XXXX , geb. XXXX , 3. XXXX , geb. XXXX , alle StA. AFGHANISTAN, alle vertreten durch: Verein Menschenrechte Österreich, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Kärnten 1. vom XXXX , Zl. XXXX , 2. vom XXXX , Zl. XXXX , 3. vom XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 sowie XXXX und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 3 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX , XXXX und XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung für die Dauer eines Jahres erteilt.
IV. Die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos aufgehoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Alle Beschwerdeführer stellten am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich und wurden am nächsten Tag durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstmalig befragt (im Folgenden "Erstbefragung").
Dabei gab der Erstbeschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen an, dass er bis vor 35 Jahren für die afghanische Regierung gearbeitet habe. Als die Revolution gekommen sei, seien die Mujaheddin an die Macht gekommen. Zu diesem Zeitpunkt hätte seine Familie Probleme bekommen. Sie seien immer wieder verfolgt worden und hätten deshalb auch acht Jahre im Iran gelebt. Da sie gedacht hätten, dass sich die Situation in Afghanistan beruhigt habe, seien sie zurückgekehrt. Vier Monate vor ihrer Ausreise sei jedoch der Onkel des Erstbeschwerdeführers von den Mujaheddin mitgenommen und getötet worden. Auch seinen Vater hätten sie mitnehmen wollen. Deshalb sei der Erstbeschwerdeführer mit seiner Familie geflüchtet.
Die Zweitbeschwerdeführerin erstattete das gleiche Fluchtvorbringen. Für den minderjährigen Drittbeschwerdeführer wurden keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht.
2. Am XXXX fand eine Einvernahme der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden "Bundesamt" oder "BFA") statt (im Folgenden "Einvernahme"). Zu seinen Fluchtgründen befragt führte der Erstbeschwerdeführer aus, dass er in Mazar-e Sharif gemeinsam mit seinem Onkel ein Lebensmittelgeschäft betrieben habe, in dem sie auch Alkohol verkauft hätten. Wegen des Verkaufs von Alkohol sei einer seiner Söhne mit einem Messer angestochen worden. Sein Onkel sei ebenfalls wegen des Alkoholverkaufs getötet worden. Zuletzt sei zudem ein Fahrer seiner Transportfirma, der den Alkohol geliefert habe, von der Polizei erwischt worden. Er würde deshalb von der Polizei gesucht werden. Zusammen mit seiner Ehefrau und seinem jüngsten Sohn sei er deshalb geflüchtet.
Die Zweitbeschwerdeführerin und der Drittbeschwerdeführer machten in ihren Einvernahmen vor dem Bundesamt keine eigenen Fluchtgründe geltend.
3. Mit den angefochtenen Bescheiden wies das Bundesamt die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz zur Gänze ab (Spruchpunkt I. und II.) und erteilte den Beschwerdeführern keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.). Gegen die Beschwerdeführer wurden Rückkehrentscheidungen erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass ihre Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit vierzehn Tagen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).
4. Die Beschwerdeführer erhoben gegen die Bescheide fristgerecht gleichlautende Beschwerden und brachten im Wesentlichen vor, dass ihnen im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan Verfolgung durch religiöse Führer bzw. konservative Mitglieder der afghanischen Gesellschaft aufgrund des Verkaufs von Alkohol drohen würde. Dies stehe im Einklang mit den Länderberichten. Das Bundesamt habe es unterlassen, genügend Länderinformationen zur konkreten Situation der Asylwerber zu ermitteln bzw. in die Beweiswürdigung in Bezug auf § 8 AsylG mit ein zu beziehen. Verwiesen werde zudem auf eine gutachterliche Stellungnahme des Ländersachverständigen XXXX zur Sicherheits- und Versorgungslage in Kabul.
5. Das Bundesamt legte die Beschwerde dem Bundesverwaltungsgericht mit Schreiben vom XXXX vor.
6. Mit Schreiben vom XXXX und XXXX legten die Beschwerdeführer weitere Integrationsunterlagen vor.
7. Das Bundesverwaltungsgericht führte am XXXX in Anwesenheit einer Dolmetscherin für die Sprache Dari und der Rechtsvertreterin der Beschwerdeführer eine öffentliche mündliche Verhandlung durch. Das Bundesamt erschien entschuldigt nicht.
8. Mit Parteiengehör vom XXXX wurde den Parteien das aktualisierte Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 13. November 2019 zur Stellungnahme binnen einer Woche übermittelt.
9. Mit Schreiben vom XXXX nahmen die Beschwerdeführer Stellung zur Sicherheitslage in Mazar-e Sharif und legten Integrationsunterlagen betreffend die Zweitbeschwerdeführerin vor.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zu den Personen der Beschwerdeführer
Der Erstbeschwerdeführer führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist afghanischer Staatsangehöriger und schiitischer Moslem. Der Erstbeschwerdeführer gehört der Volksgruppe der Sadat an. Seine Muttersprache ist Dari. Der Erstbeschwerdeführer wurde in der Provinz Mazar e-Sharif geboren. Im Alter von zehn Jahren übersiedelte der Erstbeschwerdeführer mit seiner Familie nach Kabul, wo er zehn Jahre die Schule besuchte und anschließend als Offizier tätig war. Mit seiner Familie lebte der Erstbeschwerdeführer später zwei Jahre lang in Mazar-e Sharif, ehe sie für acht Jahre in den Iran zogen. Ca. XXXX zog die Familie wieder nach Mazar-e Sharif, wo sie bis zu ihrer Ausreise im Jahr XXXX lebte. Zuletzt betrieb der Erstbeschwerdeführer ein angemietetes Lebensmittelgeschäft und arbeitete daneben in einer Transportfirma in Mazar-e Sharif.
Die Zweitbeschwerdeführerin führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Sie ist afghanische Staatsangehörige und schiitische Muslimin. Die Zweitbeschwerdeführerin gehört der Volksgruppe der Sadat an. Ihre Muttersprache ist Dari. Die Zweitbeschwerdeführerin wuchs in Kabul auf und erhielt eine zehnjährige Schulbildung. Nach der Heirat lebte sie mit der Familie ihres Mannes in Mazar-e Sharif und im Iran.
Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind traditionell miteinander verheiratet. Sie haben insgesamt fünf gemeinsame Kinder: Zwei Töchter leben im Iran, eine Tochter lebt in der Stadt XXXX in Afghanistan. Der ältere Sohn XXXX (Beschwerdeführer im Verfahren XXXX ) lebt derzeit als Asylwerber in Frankreich. Der jüngste Sohn ist der minderjährige Drittbeschwerdeführer. Die Beschwerdeführer stehen in regelmäßigen telefonischen Kontakt zu ihren Kindern bzw. Geschwistern.
Der Drittbeschwerdeführer führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist afghanischer Staatsangehöriger und schiitischer Moslem. Der Erstbeschwerdeführer gehört der Volksgruppe der Sadat an. Seine Muttersprache ist Dari. In Afghanistan besuchte der Drittbeschwerdeführer zuletzt die Schule. Er verfügt über keine Arbeitserfahrung.
Die Eltern des Erstbeschwerdeführers verfügen über ein Wohnhaus in Mazar-e Sharif, das derzeit vermietet ist. Die Mieteinnahmen erhalten die Eltern des Erstbeschwerdeführers, die im Iran leben. Eine Tante mütterlicherseits des Erstbeschwerdeführers lebt in Pakistan, ein Onkel mütterlicherseits im Iran. Eine Schwester des Erstbeschwerdeführers lebt in der Türkei, eine in Österreich und vier im Iran. Weiters lebt ein Halbbruder im Iran. Der Erstbeschwerdeführer steht in Kontakt zu seinen Geschwistern. Die Eltern der Zweitbeschwerdeführerin sind bereits verstorben. Die Zweitbeschwerdeführerin hat zwei Brüder und drei Schwestern, wovon zwei Schwestern und ein Bruder in Österreich aufhältig sind. Ein Bruder lebt in Deutschland, eine Schwester lebt im Iran. Das Elternhaus der Zweitbeschwerdeführerin in Kabul wurde von ihren Brüdern vermietet. Die Zweitbeschwerdeführerin steht zu ihren in Österreich aufhältigen Geschwistern in Kontakt.
Die Beschwerdeführer wurden nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert und sind mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.
Die Beschwerdeführer sind gesund und arbeitsfähig.
1.2. Zum Leben der Beschwerdeführer in Österreich
Die Beschwerdeführer halten sich seit ihrer Antragstellung am XXXX aufgrund der vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG 2005 durchgehend rechtmäßig im Bundesgebiet auf.
Der Erstbeschwerdeführer hat bisher einen Deutschkurs (Teilnahmebestätigung Deutsch als Zweitsprache der XXXX ) absolviert. Der Erstbeschwerdeführer kann sich auf Deutsch verständlich machen und versteht auch einfache Aspekte einer Unterhaltung.
Die Zweitbeschwerdeführerin hat bisher mehrere Deutschkurse (Zeugnis zur Integrationsprüfung aus Inhalten der Sprachkompetenz A2 vom XXXX ) und einen Integrationskurs (Zeugnis zur Integrationsprüfung ÖIF vom XXXX ) besucht. Die Zweitbeschwerdeführerin kann sich auf Deutsch gut verständlich machen und versteht auch einfache Aspekte einer Unterhaltung.
Der Drittbeschwerdeführer besucht seit XXXX die XXXX (Schulbesuchsbestätigung vom XXXX ). Zuvor besuchte er die XXXX . Der Drittbeschwerdeführer spricht sehr gut Deutsch und versteht alle Aspekte einer Unterhaltung. Der Drittbeschwerdeführer möchte nach Abschluss der HTL die Matura machen.
Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind ehrenamtlich tätig (Bestätigung der Stadtgemeinde XXXX jeweils für den Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin vom XXXX und XXXX , Interessensbestätigung XXXX betreffend die Zweitbeschwerdeführerin vom XXXX , Fotokonvolut, BFA-Akt des BF1, AS 79ff.; Fotokonvolut vorgelegt in der mündlichen Verhandlung, Bestätigung der Stadtgemeinde XXXX betreffend Hilfstätigkeiten der Zweitbeschwerdeführerin vom XXXX ).
Die Beschwerdeführer sind nicht Mitglied eines Vereins oder einer anderen Gemeinschaftseinrichtung.
Die Beschwerdeführer haben einige österreichische Freunde in Österreich (Empfehlungsschreiben der XXXX , Empfehlungsschreiben Stadtpfarramt XXXX vom XXXX , Empfehlungsschreiben XXXX , Empfehlungsschreiben XXXX vom XXXX , Empfehlungsschreiben XXXX vom XXXX , Referenzschreiben XXXX vom XXXX ).
Einige Verwandte der Beschwerdeführer sind derzeit in Österreich aufhältig: Ein Bruder und zwei Schwestern der Zweitbeschwerdeführerin sowie eine Schwester des Erstbeschwerdeführers leben in Österreich. Es besteht zu ihnen kein finanzielles Abhängigkeitsverhältnis.
Erst- und Zweitbeschwerdeführerin gehen keiner Erwerbstätigkeit nach und leben von der Grundversorgung. Sie sind nicht selbsterhaltungsfähig (Speicherauszug aus dem Betreuungsinformationssystem vom XXXX und vom 03.03.2020).
Erst- und Zweitbeschwerdeführerin sind unbescholten (Strafregisterauszüge vom XXXX ).
1.3. Zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführer
Das vom Erstbeschwerdeführer ins Treffen geführte Verfolgungsvorbringen hat sich nicht ereignet.
Der Erstbeschwerdeführer hat in Afghanistan keinen Alkohol verkauft. Er wurde nicht von den Taliban, den Mullahs, den afghanischen Behörden oder anderen Personen verfolgt oder bedroht. Die Beschwerdeführer haben Afghanistan weder aus Furcht vor Eingriffen in die körperliche Integrität, noch wegen Lebensgefahr verlassen.
Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen den Beschwerdeführern individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in ihre körperliche Integrität durch die Taliban, den Mullahs, den afghanischen Behörden oder durch andere Personen.
Den Beschwerdeführern droht in Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keine gegen sie gerichtete Verfolgung oder Bedrohung durch staatliche Organe oder durch Private, weder vor dem Hintergrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ihrer Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, noch aus Gründen ihrer politischen Gesinnung oder aus anderen Gründen.
Bei der Zweitbeschwerdeführerin handelt es sich nicht um eine auf Eigenständigkeit bedachte Frau, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und in ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als westlich bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist.
Der Zweitbeschwerdeführerin droht aufgrund ihrer in Österreich angenommenen Lebensweise in Afghanistan, insbesondere in ihrer Herkunftsregion Mazar-e Sharif, keine individuelle oder konkrete Gefahr physischer oder psychischer Gewalt.
Darüber hinaus kann nicht festgestellt werden, dass der Erst- und Drittbeschwerdeführer aufgrund ihres in Österreich ausgeübten Lebensstils oder ihrem Aufenthalt in einem europäischen Land in Afghanistan psychischer oder physischer Gewalt ausgesetzt wären.
1.4. Zu einer Rückkehr der Beschwerdeführer in den Herkunftsstaat
Die Geschwister und Eltern des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin leben nicht in Afghanistan. Insbesondere verfügen die Beschwerdeführer über keine familiären und sozialen Anknüpfungspunkte in Mazar-e Sharif oder in Afghanistan.
Die Beschwerdeführer verfügen in Afghanistan im Entscheidungszeitpunkt über kein Eigentum, keine finanziellen Ressourcen und kein tragfähiges familiäres Netz, das sie bei einer Wiederansiedlung im Herkunftsstaat unterstützen könnte.
Der Erstbeschwerdeführer ist nicht in der Lage, bei einer Rückkehr nach Afghanistan (Herat, Mazar-e Sharif oder andere Großstädte) ohne soziales tragfähiges Netz den Unterhalt seiner Familie, insbesondere des minderjährigen Drittbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin, durch eigene Arbeit sicher zu stellen, Fuß zu fassen und den notwendigen Unterhalt sowie eine mit den Lebensumständen anderer in Afghanistan ansässiger Personen vergleichbare Existenz aufzubauen.
Der Drittbeschwerdeführer ist aufgrund seiner Minderjährigkeit als vulnerabel einzustufen. Der minderjährige Drittbeschwerdeführer ist auf die Versorgung durch seine Eltern angewiesen.
Bei einer Rückkehr in die Herkunftsprovinz Mazar-e Sharif bzw. im Fall einer Ansiedelung in der Stadt Kabul oder Herat könnten die Beschwerdeführer die grundlegenden und notwendigen Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, jeweils für sich selbst und den minderjährigen Drittbeschwerdeführer nicht befriedigen und kämen daher in eine existenzbedrohende Notlage.
1.5. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan
Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:
* Länderinformationsblatt der Staatendokumentation in der Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019 (LIB),
* UNHCR Richtlinien vom 30.08.2018 (UNHCR)
* EASO Leitlinien zu Afghanistan vom Juni 2019 (EASO) und
* Arbeitsübersetzung Landinfo report "Afghanistan: Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne" vom 23.08.2017 (Landinfo 1) und
* ecoi.net Themdossier zu Afghanistan: "Sicherheitslage und die soziökonomische Lage in Herat und in Masar-e Scharif" vom 15.01.2020 (ECOI Herat und Masar-e Sharif) und
* EASO Bericht Afghanistan Netzwerke, Stand Jänner 2018
* Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, AFGHANISTAN, Kinderarbeit und Ausbeutung in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif vom 03.05.2019
* ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Strafe bei Verkauf von Alkohol vom 08.05.2012
* Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, AFGHANISTAN, Frauen in urbanen Zentren vom 18.09.2017
* Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Informationen zur Volksgruppe der Sadat (Sayed, Sayyed, Sadaat, Sayyid, Sayid, Sayeed) [a-10374])
1.5.1. Allgemeine Sicherheitslage
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 2).
Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen andere gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren (LIB, Kapitel 3). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B)
Für die Sicherheit in Afghanistan sind verschiedene Organisationseinheiten der afghanischen Regierungsbehörden verantwortlich. Die Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) umfassen militärische, polizeiliche und andere Sicherheitskräfte. Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die Afghan National Police (ANP) und die Afghan Local Police (ALP). Die Afghan National Army (ANA) ist für die externe Sicherheit verantwortlich, dennoch besteht ihre Hauptaufgabe darin, den Aufstand im Land zu bekämpfen. Die ANP gewährleistet die zivile Ordnung und bekämpft Korruption sowie die Produktion und den Schmuggel von Drogen. Der Fokus der ANP liegt derzeit in der Bekämpfung von Aufständischen gemeinsam mit der ANA. Die ALP wird durch die USA finanziert und schützt die Bevölkerung in Dörfern und ländlichen Gebieten vor Angriffen durch Aufständische (LIB, Kapitel 5).
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv, welche eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität in Afghanistan darstellen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und Angriffen auf staatliche Einrichtungen und gegen Gläubige und Kultstätten bzw. religiöse Minderheiten aus. (LIB, Kapitel 3)
1.5.2. Allgemeine Wirtschaftslage
Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 21).
Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist angespannt und die Arbeitslosigkeit ist hoch. Persönliche Kontakte, Empfehlungen sowie ein Netzwerk sind wichtig um einen Job zu finden. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen, wobei Fähigkeiten, die sich Rückkehrer im Ausland angeeignet haben, eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen können. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit (LIB Kapitel 21).
In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5% der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80% der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlings- und Sommermonaten relativ niedrig (rund 20%), während sie im Winter 32,5% erreichen kann (EASO, Common Analysis Afghanistan, Kapitel V).
Nach einer Zeit mit begrenzten Bankdienstleistungen, entstehen im Finanzsektor in Afghanistan schnell mehr und mehr kommerzielle Banken und Leistungen. Die kommerziellen Angebote der Zentralbank gehen mit steigender Kapazität des Finanzsektors zurück. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen (LIB, Kapitel 21).
Über Jahrhunderte hat sich eine Form des Geldaustausches entwickelt, welche Hawala genannt wird. Dieses System, welches auf gegenseitigem Vertrauen basiert, funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich. Hawala wird von den unterschiedlichsten Kundengruppen in Anspruch genommen: Gastarbeiter, die ihren Lohn in die Heimat transferieren wollen, große Unternehmen und Hilfsorganisationen bzw. NGOs, aber auch Terrororganisationen (LIB, Kapitel 21).
Im Zeitraum von 2016 bis 2017 waren 44,6% der afghanischen Bevölkerung sehr stark bis mäßig von Lebensmittelunsicherheit betroffen. In allen Wohnbevölkerungsgruppen war seit 2011 ein Anstieg festzustellen, wobei der höchste Anstieg in den ländlichen Gebieten zu verzeichnen war (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72%, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86% der städtischen Häuser in Afghanistan können gemäß der Definition von UN-Habitat als Slums eingestuft werden. Der Bericht über den Zustand afghanischer Städte stellte fest, dass der Zugang zu angemessenem Wohnraum für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung darstellt. (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bietet die Städte die Möglichkeit von "Teehäusern", die mit 30 Afghani (das sind ca. ? 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. ? 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. "Teehäuser" werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Man muss niemanden kennen, um eingelassen zu werden (EASO Bericht Afghanistan Netzwerke, Kapital 4.2.)
Der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie angemessenen sanitären Einrichtungen hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, war in den Städten im Allgemeinen besser als auf dem Land. Der Zugang zu Trinkwasser ist für viele Afghanen jedoch nach wie vor ein Problem, und die sanitären Einrichtungen sind weiterhin schlecht (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
1.5.3. Medizinische Versorgung
Das afghanische Gesundheitsministerium gab an, dass 60 % der Menschen im April 2018 Zugang zu Gesundheitsdiensten hatten, wobei der Zugang als eine Stunde Fußweg zur nächsten Klinik definiert wurde. Trotz der Tatsache, dass die Gesundheitsversorgung laut afghanischer Verfassung kostenlos sein sollte, müssen die Menschen in vielen öffentlichen Einrichtungen für Medikamente, Arzthonorare, Labortests und stationäre Versorgung bezahlen. Hohe Behandlungskosten sind der Hauptgrund, weswegen die Behandlung vermieden wird (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre, als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (LIB, Kapitel 22).
Psychische Krankheiten wie posttraumatische Belastungsstörung, Depression und Angstzustände - die oft durch den Krieg hervorgerufen wurden - sind in Afghanistan weit verbreitet, es gibt aber nur geringe Kapazitäten zur Behandlung dieser Erkrankungen. Spezifische Medikamente sind grundsätzlich verfügbar. (LIB, Kapitel 22.1)
1.5.4. Ethnische Minderheiten
In Afghanistan sind ca. 40 - 42% Paschtunen, rund 27 - 30% Tadschiken, ca. 9 - 10% Hazara und 9% Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Soziale Gruppen werden in Afghanistan nicht ausgeschlossen und kein Gesetz verhindert die Teilnahme von Minderheiten am politischen Leben. Es kommt jedoch im Alltag zu Diskriminierungen und Ausgrenzungen ethnischer Gruppen und Religionen sowie zu Spannungen, Konflikten und Tötungen zwischen unterschiedlichen Gruppen (LIB, Kapitel 17).
Volksgruppe der Sadat (Auszug bzw. Zusammenfassung der Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Informationen zur Volksgruppe der Sadat (Sayed, Sayyed, Sadaat, Sayyid, Sayid, Sayeed) [a-10374])
Innerhalb der ethnischen Gruppe der Hazara gebe es ein System von Untergruppen, das derart komplex sei, dass das Ausmaß, in dem sich die Mitglieder dieser Gruppen als eigene Gruppe angesehen hätten, je nach Zeit und in Abhängigkeit von den in dem Gebiet aktiven politischen Bewegungen, unterschiedlich gewesen sei. Am ambivalentesten sei der Status der Sadat, welche die traditionelle religiöse Führung der Hazara bilden und rund vier bis fünf Prozent der Bevölkerung des Hazarajat ausmachen würden. Sie würden ihre Abstammung auf den Propheten Mohammed zurückführen und seien ursprünglich Araber gewesen. Während Ehen zwischen Hazara-Männern und Sadat-Frauen selten seien, komme es häufig zu Eheschließungen zwischen Sadat-Männern und Hazara-Frauen. Manchmal würden sich Sadat selbst als Hazara bezeichnen und auch von anderen als solche bezeichnet. In anderen Fällen würden sich die Sadat als eigene Gruppe bezeichnen. Es scheine, dass dieses Bewusstsein des Andersseins der Sadat durch die politischen Entwicklungen nach 1979, in deren Verlauf schiitische Parteien versucht hätten, Hazara von Sadat zu isolieren und Konflikte zwischen den beiden Gruppen zu schüren, zugenommen habe: Die Abteilung für Herkunftsländerinformation, die dem australischen Migration Review Tribunal (MRT) und dem Refugee Review Tribunal (RRT) Recherchedienste zur Verfügung stellt, schreibt in einem Hintergrundpapier vom März 2014, dass es sich bei den Sadat um Nachkommen des Propheten Mohammed handle, die sowohl schiitisch als auch sunnitisch sein könnten. Sie würden in muslimischen Gesellschaften sehr respektiert, insbesondere unter Schiiten, und hätten aus historischen Gründen unter Hazaras eine gehobene Position inne.
Thomas Ruttig, Kodirektor des Afghanistan Analysts Network (AAN), schreibt in einer E-Mail-Auskunft vom Oktober 2017 Folgendes:
"[...] klar ist jedenfalls, dass in Afghanistan zwischen den Hazara und den (hazara/schiitischen) Sayeds genau unterschieden wird. die Sayeds werden in manchen Statistiken sogar als gesonderte ethnische Gruppe geführt.
Im Grunde sind die Sayeds keine ethnische, sondern eine religiöse ?Funktionsgruppe' (denn es handelt sich um die [wohl auch angenommenen] Nachfahren des Propheten Muhammad), die sich sozusagen ethnisch verselbständigt haben. Es gibt ja auch paschtunische, tadschikische u.a. Sayeds (die manchmal wiederum unter anderen Ethnonymen auftauchen).
Politisch gesehen waren Hazara und Sayed während des anti-sowjetischen Widerstands getrennt organisiert - Hauptgruppen: Hazara - Hezb-e Wahdat (die allerdings erst 1988 oder 1989 aus sieben verschiedenen Kleinparteien entstand - und inzwischen wieder in drei größere und mehrere kleinere Parteien zerfallen sind: Anführer: Khalili, Mohaqqeq, Akbari [inzwischen verstorben, wenn ich nicht irre]); Sayed - Harakat-e Islami (inzwischen auch mehrere Fraktionen). Die haben sich zeitweilig auch untereinander bekämpft, können also über Allianzen in unterschiedliche Lager geraten sein.
Die Akbari-Fraktion der Hezb-e Wahdat hat sich Ende der 1990er mit den Taleban verbündet. Alle anderen Gruppen waren eigentlich auf der Gegenseite. Das schließt aber Konflikte zwischen ihnen und mit anderen nicht aus." (Ruttig, 4. Oktober 2017)
In einer E-Mail-Auskunft vom 4. Oktober 2017 schreibt Melissa Kerr Chiovenda, dass die Sadat und die Hazara, was ihre Identität angehe, ein sehr interessanter Fall in Afghanistan seien. Sadat seien per Definition Nachfahren von Mohammed, und überall in der Welt, wo es Muslime gebe, gebe es auch Sadat, die Schiiten oder Sunniten sein könnten. Sie hätten immer eine gewisse religiöse oder politische Autorität wegen ihrer Verbindung zu Mohammed, aber fast überall im restlichen Afghanistan seien sie mehr in die Gemeinschaften integriert als in Yakawlang. Die Sadat in paschtunischen Gebieten würden üblicherweise als Paschtunen angesehen. Sie hätten vielleicht ein paar Vorteile, weil sie Sadat seien, aber sie seien dennoch vollwertige Paschtunen. Unter den Hazara würden die Sadat als eigene Ethnie angesehen. Die Sadat würden sagen, sie seien wegen ihrer Abstammung von Mohammed Araber. Diese Unterscheidung werde wohl gemacht, weil die Hazara die untersten sozialen Stufen der Gesellschaft eingenommen hätten. Jeder, der einen Aspekt seiner Identität dazu nutzen könne, um dem zu entkommen, würde das vermutlich tun, und die Sadat in den Hazara-Gebieten dürften das auch getan haben.
Obwohl die Sadat auch irgendwie verehrt würden, gebe es Spannungen zwischen den beiden Gruppen. Die Hazara würden dazu neigen, die Sadat als Gruppe zu respektieren und ihnen politische Macht zuzugestehen, aber dann würden ihnen das viele Hazara übelnehmen. Es gebe ein Gefühl unter den Hazara, dass die Sadat in der politischen Klasse überproportional vertreten seien. Verschlimmert werde dies dadurch, dass die Sadat vom Staat als Hazara angesehen würden, die Hazara und Sadat sich selbst aber als unterschiedliche ethnische Gruppen ansehen würden. So würden die Hazara und Sadat nur als Hazara gezählt, was bei den Hazara zu der Wahrnehmung führe, unterrepräsentiert zu sein. Es habe auch Fälle gegeben, in denen Sadat beschuldigt worden seien, sich durch ihren politischen und religiösen Einfluss dem Gesetz zu entziehen.
Es gebe also viele Spannungen zwischen den beiden Gruppen, die sich um den Ärger der Hazara drehen würden, dass es den Sadat irgendwie gelungen sei, die eigene Gruppe als Elite zu präsentieren, sie aber gleichzeitig leugnen würden, Hazara zu sein. Daher könnten Sadat Diskriminierung ausgesetzt sein, obwohl sie gleichzeitig ziemlich viel politische Macht hätten.
1.5.5. Religionen
Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon 80 - 89,7% Sunniten. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB Kapitel 16).
Schiiten
Der Anteil schiitischer Muslime an der Bevölkerung wird auf 10 - 19% geschätzt. Zu der schiitischen Bevölkerung zählen die Ismailiten und die Jafari-Schiiiten (Zwölfer-Schiiten). 90% von ihnen gehören zur ethnischen Gruppe der Hazara. Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten sind in Afghanistan selten, die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit ist zurückgegangen (LIB, Kapitel 16.1).
Die politische Repräsentation und die Beteiligung an den nationalen Institutionen seitens der traditionell marginalisierten schiitischen Minderheit, der hauptsächlich ethnische Hazara angehören, ist seit 2001 gestiegen. Einige schiitische Muslime bekleiden höhere Regierungsposten. Im Ulema-Rat, der nationalen Versammlung von Religionsgelehrten, die u. a. dem Präsidenten in der Festlegung neuer Gesetze und Rechtsprechung beisteht, beträgt die Quote der schiitischen Muslime 25-30%. Des Weiteren tagen rechtliche, konstitutionelle und menschenrechtliche Kommissionen, welche aus Mitgliedern der sunnitischen und schiitischen Gemeinschaften bestehen und von der Regierung unterstützt werden, regelmäßig, um die interkonfessionelle Schlichtung zu fördern (LIB, Kapitel 16.1)
1.5.6. Allgemeine Menschenrechtslage
Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, die durch die afghanische Verfassung und einschlägige völkerrechtliche Verträge garantierten Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (LIB, Kapitel 11).
Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden nach wie vor in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betroffenen Gebiete tatsächlich kontrolliert (UNHCR, Kapitel II. C. 1).
Die Fähigkeit der Regierung, Menschenrechte zu schützen, wird durch die Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte untergraben. Insbesondere ländliche und instabile Gebiete leiden unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden (UNHCR, Kapitel II. C. 2).
1.5.7. Bewegungsfreiheit und Meldewesen
Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Afghanen dürfen sich formell im Land frei bewegen und niederlassen (LIB, Kapitel 19).
Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, keine Datenbanken mit Adress- oder Telefonnummerneinträgen und auch keine Melde- oder Registrierungspflicht. Die Gemeinschafts- bzw. Bezirksältesten führen kein Personenstandsregister, die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (LIB, Kapitel 19.1).
1.5.8. Regierungsfeindliche Gruppierungen
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB, Kapitel 2).
Taliban:
Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten bestehen die Taliban bereits überwiegend aus Nicht-Paschtunen, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB, Kapitel 2).
Die Gesamtstärke der Taliban betrug im Jahr 2017 über 200.000 Personen, darunter ca. 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan (LIB, Kapitel 2).
Zwischen 01.12.2018 und 31.05.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zum Ziel - die Taliban beschränken ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte (LIB, Kapitel 2).
Die Taliban haben eine Vielzahl von Personen ins Visier genommen, die sich ihrer Meinung nach "fehlverhalten", unter anderem Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte jeden Ranges, oder Regierungsbeamte und Mitarbeiter westlicher und anderer "feindlicher Regierungen, Kollaborateure oder Auftragnehmer der afghanischen Regierung oder des ausländischen Militäres, oder Dolmetscher, die für feindliche Länder arbeiten. Die Taliban bieten diesen Personen grundsätzlich die Möglichkeit an, Reue und den Willen zur Wiedergutmachung zu zeigen. Die Chance zu bereuen, ist ein wesentlicher Aspekt der Einschüchterungstaktik der Taliban und dahinter steht hauptsächlich der folgende Gedanke: das Funktionieren der Kabuler Regierung ohne übermäßiges Blutvergießen zu unterminieren und Personen durch Kooperationen an die Taliban zu binden. Diese Personen können einer "Verurteilung" durch die Taliban entgehen, indem sie ihre vermeintlich "feindseligen" Tätigkeiten nach einer Verwarnung einstellen. (Landinfo 1, Kapitel 4)
1.5.9. Provinzen und Städte
1.5.9.1. Mazar-e Sharif (Herkunftsprovinz)/ Herat
Mazar-e Sharif ist die Provinzhauptstadt von Balkh, einer ethnisch vielfältigen Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird. Sie hat 469.247 Einwohner und steht unter Kontrolle der afghanischen Regierung (LIB, Kapitel 3.5).
Das Niveau an willkürlicher Gewalt ist in der Stadt Mazar-e Sharif so gering, dass für Zivilisten an sich nicht die Gefahr besteht, von erheblichen Eingriffen in die psychische oder physische Unversehrtheit betroffen zu sein (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, III).
Mazar-e Sharif ist über die Autobahn sowie über einen Flughafen (mit nationalen und internationalen Anbindungen) legal zu erreichen (LIB, Kapitel 21). Der Flughafen von Mazar-e Sharif (MRZ) liegt 9 km östlich der Stadt im Bezirk Marmul. Die Befahrung der Straßen von diesem Flughafen bis zur Stadt Mazar-e Sharif ist zur Tageszeit im Allgemeinen sicher (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Mazar-e Sharif ist ein Import-/Exportdrehkreuz, ein regionales Handelszentrum sowie ein Industriezentrum mit großen Fertigungsbetrieben und einer Vielzahl von kleinen und mittleren Unternehmen (LIB, Kapitel 21). Mazar-e Sharif gilt im Vergleich zu Herat oder Kabul als wirtschaftlich relativ stabiler. Die größte Gruppe von Arbeitern in der Stadt Mazar-e Sharif sind im Dienstleistungsbereich und als Verkäufer tätig (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Die Unterkunftssituation stellt sich in Mazar-e Sharif, wie in den anderen Städten Afghanistans auch, für Rückkehrer und Binnenflüchtlinge als schwierig dar. Viele Menschen der städtischen Population lebt in Slums oder nichtadäquaten Unterkünften. In Mazar-e Sharif besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum, wie beispielsweise in Teehäusern, zu mieten. (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Die meisten Menschen in Mazar-e Sharif haben Zugang zu erschlossener Wasserversorgung (76%), welche in der Regel in Rohrleitungen oder aus Brunnen erfolgt. 92% der Haushalte haben Zugang zu besseren Sanitäreinrichtungen (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Während Mazar-e Sharif im Zeitraum Juni 2019 bis September 2019 noch als IPC Stufe 1 "minimal" (IPC - Integrated Phase Classification) klassifiziert wurde, ist Mazar-e Sharif im Zeitraum Oktober 2019 bis Januar 2020 in Phase 2 "stressed" eingestuft. In Phase 1 sind die Haushalte in der Lage, den Bedarf an lebensnotwenigen Nahrungsmitteln und Nicht-Nahrungsmitteln zu decken, ohne atypische und unhaltbare Strategien für den Zugang zu Nahrung und Einkommen zu verfolgen. In Phase 2 weisen Haushalte nur einen gerade noch angemessenen Lebensmittelverbrauch auf und sind nicht in der Lage, sich wesentliche, nicht nahrungsbezogene Güter zu leisten, ohne dabei irreversible Bewältigungsstrategien anzuwenden (ECOI, Kapitel 3.1)
In der Stadt Mazar-e Sharif gibt es 10 - 15 - teils öffentliche, teils private - Krankenhäuser. In Mazar-e Sharif existieren mehr private als öffentliche Krankenhäuser. Private Krankenhäuser sind sehr teuer, jede Nacht ist kostenpflichtig. Zusätzlich existieren etwa 30-50 medizinische Gesundheitskliniken die zu 80% öffentlich finanziert sind (LIB, Kapitel 22).
Herat-Stadt ist die Provinzhauptstadt der Provinz Herat. Sie hat 556.205 Einwohner. Umfangreiche Migrationsströme haben die ethnische Zusammensetzung der Stadt verändert, der Anteil an schiitischen Hazara ist seit 2001 durch Iran-Rückkehrer und Binnenvertriebene besonders gestiegen (LIB, Kapitel 3.13).
Herat ist durch die Ring-Road sowie durch einen Flughafen mit nationalen und internationalen Anbindungen sicher und legal erreichbar (LIB, Kapitel 3.13). Der Flughafen Herat (HEA) liegt 13 km südlich der Stadt im Distrikt Gozara. Die Straße, welche die Stadt mit dem Flughafen verbindet wird laufend von Sicherheitskräften kontrolliert. Unabhängig davon gab es in den letzten Jahren Berichte von Aktivitäten von kriminellen Netzwerken, welche oft auch mit Aufständischen in Verbindung stehen (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Herat gehört zu den relativ ruhigen Provinzen im Westen Afghanistans, jedoch sind Taliban-Kämpfer in einigen abgelegenen Distrikten aktiv und versuchen oft terroristische Aktivitäten. Je mehr man sich von Herat-Stadt (die als "sehr sicher" gilt) und den angrenzenden Distrikten Richtung Norden, Westen und Süden entfernt, desto größer wird der Einfluss der Taliban. Das Niveau an willkürlicher Gewalt ist in der Stadt Herat so gering, dass für Zivilisten an sich nicht die Gefahr besteht von erheblichen Eingriffen in die psychische oder physische Unversehrtheit betroffen zu sein (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, III).
Im Vergleich mit anderen Teilen des Landes weist Herat wirtschaftlich und sicherheitstechnisch relativ gute Bedingungen auf. Es gibt Arbeitsmöglichkeiten im Handel, darunter den Import und Export von Waren mit dem benachbarten Iran, wie auch im Bergbau und Produktion. Die Industrie der kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMUs) ist insbesondere im Handwerksbereich und in der Seiden- und Teppichproduktion gut entwickelt und beschäftigt Tagelöhner sowie kleine Unternehmer (LIB, Kapitel 21).
Die Unterkunftssituation stellt sich in Herat, wie in den anderen Städten Afghanistans auch, für Rückkehrer und Binnenflüchtlinge als schwierig dar. Viele Menschen der städtischen Population lebt in Slums oder nichtadäquaten Unterkünften. In Herat besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum, wie beispielsweise in Teehäusern, zu mieten (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Die meisten Menschen in Herat haben Zugang zu Elektrizität (80 %), zu erschlossener Wasserversorgung (70%) und zu Abwasseranlagen (30%). 92,1 % der Haushalte haben Zugang zu besseren Sanitäreinrichtungen und 81,22 % zu besseren Wasserversorgungsanlagen (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Herat ist im Zeitraum Oktober 2019 bis Januar 2020 als IPC Stufe 2 klassifiziert (IPC - Integrated Phase Classification). In Phase 2, auch "stressed" genannt, weisen Haushalte nur einen gerade noch angemessenen Lebensmittelverbrauch auf und sind nicht in der Lage, sich wesentlich, nicht nahrungsbezogenen Güter zu leisten, ohne dabei irreversible Bewältigungsstrategien anzuwenden (ECOI, Kapitel 3.1.).
1.5.10. Situation für Rückkehrer/innen
In den ersten vier Monaten des Jahres 2019 kehrten insgesamt 63.449 Menschen nach Afghanistan zurück. Im Jahr 2018 kamen 775.000 aus dem Iran und 46.000 aus Pakistan zurück (LIB, Kapitel 23).
Soziale, ethnische und familiäre Netzwerke sind für einen Rückkehrer unentbehrlich. Der Großteil der nach Afghanistan zurückkehrenden Personen verfügt über ein familiäres Netzwerk, auf das in der Regel zurückgegriffen wird. Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, den ohnehin großen Familienverbänden und individuellen Faktoren ist diese Unterstützung jedoch meistens nur temporär und nicht immer gesichert. Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft, kommen noch weitere wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z.B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen beruflichen Netzwerken sowie politische Netzwerke usw. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer dar. Die Rolle sozialer Netzwerke - der Familie, der Freunde und der Bekannten - ist für junge Rückkehrer besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen. Sollten diese Netzwerke im Einzelfall schwach ausgeprägt sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institutionen in Afghanistan in Anspruch genommen werden (LIB, Kapitel 23).
Rückkehrer aus dem Iran und aus Pakistan, die oft über Jahrzehnte in den Nachbarländern gelebt haben und zum Teil dort geboren wurden, sind in der Regel als solche erkennbar. Offensichtlich sind sprachliche Barrieren, von denen vor allem Rückkehrer aus dem Iran betroffen sind, weil sie Farsi (die iranische Landessprache) oder Dari (die afghanische Landessprache) mit iranischem Akzent sprechen. Es gibt jedoch nicht viele Fälle von Diskriminierung afghanischer Rückkehrer aus dem Iran und Pakistan aufgrund ihres Status als Rückkehrer. Fast ein Viertel der afghanischen Bevölkerung besteht aus Rückkehrern. Diskriminierung beruht in Afghanistan großteils auf ethnischen und religiösen Faktoren sowie auf dem Konflikt (LIB, Kapitel 23).
Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland werden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen. Es sind jedoch keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden. Wenn ein Rückkehrer mit im Ausland erlangten Fähigkeiten und Kenntnissen zurückkommt, stehen ihm mehr Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung als den übrigen Afghanen, was bei der hohen Arbeitslosigkeit zu Spannungen innerhalb der Gemeinschaft führen kann (LIB, Kapitel 23).
Der Mangel an Arbeitsplätzen stellt für den Großteil der Rückkehrer die größte Schwierigkeit dar. Der Zugang zum Arbeitsmarkt hängt maßgeblich von lokalen Netzwerken ab. Die afghanische Regierung kooperiert mit UNHCR, IOM und anderen humanitären Organisationen, um IDPs, Flüchtlingen, rückkehrenden Flüchtlingen und anderen betroffenen Personen Schutz und Unterstützung zu bieten. Für Afghanen, die im Iran geboren oder aufgewachsen sind und keine Familie in Afghanistan haben, ist die Situation problematisch (LIB, Kapitel 23).
Viele Rückkehrer leben in informellen Siedlungen, selbstgebauten Unterkünften oder gemieteten Wohnungen. Die meisten Rückkehrer im Osten des Landes leben in überbelegten Unterkünften und sind von fehlenden Möglichkeiten zum Bestreiten des Lebensunterhaltes betroffen (LIB, Kapitel 23).
Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, können verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen. Rückkehrer erhalten Unterstützung von der afghanischen Regierung, den Ländern, aus denen sie zurückkehren, und internationalen Organisationen (z.B. IOM) sowie lokalen Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Für Rückkehrer leisten UNHCR und IOM in der ersten Zeit Unterstützung. Bei der Anschlussunterstützung ist die Transition von humanitärer Hilfe hin zu Entwicklungszusammenarbeit nicht immer lückenlos. Es gibt keine dezidiert staatlichen Unterbringungen für Rückkehrer. Der Großteil der (freiwilligen bzw. zwangsweisen) Rückkehrer aus Europa kehrt direkt zu ihren Familien oder in ihre Gemeinschaften zurück. Es befinden sich viele Rückkehrer in Gebieten, die für Hilfsorganisationen aufgrund der Sicherheitslage nicht erreichbar sind (LIB, Kapitel 23).
Die "Reception Assistance" umfasst sofortige Unterstützung oder Hilfe bei der Ankunft am Flughafen: IOM trifft die freiwilligen Rückkehrer vor der Einwanderungslinie bzw. im internationalen Bereich des Flughafens, begleitet sie zum Einwanderungsschalter und unterstützt bei den Formalitäten, der Gepäckabholung, der Zollabfertigung, usw. Darüber hinaus arrangiert IOM den Weitertransport zum Endziel der Rückkehrer innerhalb des Herkunftslandes und bietet auch grundlegende medizinische Unterstützung am Flughafen an. 1.279 Rückkehrer erhielten Unterstützung bei der Weiterreise in ihre Heimatprovinz. Für die Provinzen, die über einen Flughafen und Flugverbindungen verfügen, werden Flüge zur Verfügung gestellt. Der Rückkehrer erhält ein Flugticket und Unterstützung bezüglich des Flughafen-Transfers. Der Transport nach Herat findet in der Regel auf dem Luftweg statt (LIB, Kapitel 23).
Familien in Afghanistan halten in der Regel Kontakt zu ihrem nach Europa ausgewanderten Familienmitglied und wissen genau Bescheid, wo sich dieses aufhält und wie es ihm in Europa ergeht. Dieser Faktor wird in Asylinterviews meist heruntergespielt und viele Migranten, vor allem Minderjährige, sind instruiert zu behaupten, sie hätten keine lebenden Verwandten mehr oder jeglichen Kontakt zu diesen verloren (LIB, Kapitel 23).
1.5.11. Verkauf von Alkohol (Auszug bzw. Zusammenfassung entscheidungsrelevanter Passagen aus folgender Quelle: ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Strafe bei Verkauf von Alkohol vom 08.05.2012)
Die Nachrichtenagentur Kabulpress.org zitiert im April 2012 ein Dokument des US-Verteidigungsministeriums. Afghanistan sei ein muslimisches Land und der Import, der Verkauf und der Konsum von Alkohol seien verboten. Die US-Botschaft in Kabul sei von diesem Verbot ausgenommen. Das Congressional Research Service (CRS) berichtet im Dezember 2011, dass Alkohol in afghanischen Restaurants und Geschäften sehr schwer zu bekommen sei, obwohl der Verkauf an Nicht-Muslime nicht verboten sei. Laut Berichten vom April 2010 habe die afghanische Polizei in einigen Restaurants Razzien durchgeführt und den Verkauf von alkoholischen Getränken unterbunden.
Laut einem Artikel von Global Post vom Mai 2010 habe das afghanische Parlament ein neues Gesetz verabschiedet, das harte Strafen vorsehe was Alkohol anlange. Personen, die Alkohol kaufen, verkaufen oder konsumieren könnten nach dem Schariarecht zu Geldstrafen oder 60 Peitschenhieben verurteilt oder inhaftiert werden.
Laut einem Artikel von Radio Free Europe/Radio Liberty (RFE/RL) vom April 2012 sei ein 20-jähriger Mann in der Provinz Baghan zu 80 Peitschenhieben verurteilt worden, nachdem er gestanden habe, Alkohol zu trinken. Radio Free Afghanistan verfüge über ein Video, dass die Vollstreckung derartiger Urteile beweise.
Das Institute for War and Peace Reporting (IWPR) schreibt in einem Artikel vom Oktober 2011, dass Richter in der Provinz Nangarhar damit begonnen hätten, jeden, der dabei ertappt würde, Alkohol zu trinken, zu 80 Peitschenhieben zu verurteilen.
Das UN Committee on the Elimination of Discrimination Against Women (CEDAW) berichtet im September 2011, dass Alkoholkonsum ein Hadd-Verbrechen (Hodood crime) sei. Die Bestrafung dieser Verbrechen sei im Schariarecht festgelegt.
1.5.12. Frauen
Artikel 22 der afghanischen Verfassung besagt, dass jegliche Form von Benachteiligung oder Bevorzugung unter den Bürgern Afghanistans verboten ist. Die Bürger Afghanistans, sowohl Frauen als auch Männer, haben vor dem Gesetz gleiche Rechte und Pflichten. Afghanistan verpflichtet sich in seiner Verfassung durch die Ratifizierung internationaler Konventionen und durch nationale Gesetze, die Gleichberechtigung und Rechte von Frauen zu achten und zu stärken. In der Praxis mangelt es jedoch oftmals an der Umsetzung dieser Rechte. Nach wie vor gilt Afghanistan als eines der weltweit gefährlichsten Länder für Frauen.
Während sich die Situation der Frauen seit dem Ende der Taliban-Herrschaft insgesamt ein wenig verbessert hat, können sie ihre gesetzlichen Rechte innerhalb der konservativ-islamischen, durch Stammestraditionen geprägten afghanischen Gesellschaft oft nur eingeschränkt verwirklichen. Viele Frauen sind sich ihrer in der Verfassung garantierten und auch gewisser vom Islam vorgegebenen Rechte nicht bewusst. Eine Verteidigung ihrer Rechte ist in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern oder traditionellen Stammesstrukturen bestimmt wird, nur in eingeschränktem Maße möglich. Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage oder aufgrund tradierter Wertevorstellungen nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen. Gesetze zum Schutz und zur Förderung der Rechte von Frauen werden nur langsam umgesetzt. Das Personenstandsgesetz enthält diskriminierende Vorschriften für Frauen, insbesondere in Bezug auf Heirat, Erbschaft und Bewegungsfreiheit.
Seit dem Fall der Taliban wurden jedoch langsam Fortschritte in dieser Hinsicht erreicht, welche hauptsächlich in urbanen Zentren wie z.B. Herat-Stadt zu sehen sind. Das Stadt-Land-Gefälle und die Sicherheitslage sind zwei Faktoren, welche u.a. in Bezug auf Frauenrechte eine wichtige Rolle spielen. Einem leitenden Mitarbeiter einer in Herat tätigen Frauenrechtsorganisation zufolge kann die Lage der Frau innerhalb der Stadt nicht mit den Lebensbedingungen der Bewohnerinnen ländlicher Teile der Provinz verglichen werden. Daher muss die Lage von Frauen in Bezug auf das jeweilige Gebiet betrachtet werden. Die Lage der Frau stellt sich in ländlichen Gegenden, wo regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv sind und die Sicherheitslage volatil ist, anders dar als z.B. in Herat-Stadt (LIB, Kapitel 18.1.)
Kleidungs- und Kopftuchvorschriften variieren in urbanen Zentren wie Kabul, Mazar-e Sharif und Herat erheblich. Dies gilt auch für die Erwartungen, die an Frauen bezüglich ihrer Bekleidung gestellt werden. Generell umfasst Frauenkleidung in Afghanistan ein breit gefächertes Spektrum, von moderner westlicher Kleidung, über farbenreiche volkstümliche Trachten, bis hin zur Burka und Vollverschleierung - diese unterscheiden sich je nach Bevölkerungsgruppe. Während Frauen in urbanen Zentren wie Kabul, Mazar-e Sharif und Herat häufig den sogenannten "Manteau shalwar" tragen, d.h. Hosen und Mantel, mit verschieden Arten der Kopfbedeckung, bleiben konservativere Arten der Verschleierung, wie der Chador und die Burka (in Afghanistan chadri genannt) weiterhin, auch in urbanen Gebieten, vertreten. Es herrschen weiterhin Debatten über die angemessenste Art der Bekleidung von Frauen, vor allem auch darüber was letztendlich eine richtige "islamische" Körper- oder Kopfbedeckung darstellt. Die Vorstellungen, wie Frauen sich in der Öffentlichkeit zeigen sollen bzw. dürfen unterscheiden sich oft erheblich, je nach der Herkunft, Geschlecht und Bildungsstand der Befragten (Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, AFGHANISTAN, Frauen in urbanen Zentren vom 18.09.2017, S. 2).
Die Akzeptanz der Berufstätigkeit von Frauen variiert je nach Region und ethnischer bzw. Stammeszugehörigkeit. Die städtische Bevölkerung hat kaum ein Problem mit der Berufstätigkeit ihrer Ehefrauen oder Töchter. In den meisten ländlichen Gemeinschaften sind konservative Einstellungen nach wie vor präsent und viele Frauen gehen aus Furcht vor sozialer Ächtung keiner Arbeit außerhalb des Hauses nach. In den meisten Teilen Afghanistans ist es Tradition, dass Frauen und Mädchen selten außerhalb des Hauses gesehen oder gehört werden sollten (LIB, Kapitel 18.1.)
Die Erwerbsbeteiligung von Frauen hat sich auf 27% erhöht. Für das Jahr2018 wurde der Anteil der Frauen an der Erwerbsbevölkerung von der Weltbank mit 35,7% angegeben. Bemühungen der afghanischen Regierung, Schlüsselpositionen mit Frauen zu besetzen und damit deren Präsenz zu erhöhen, halten weiter an (LIB, Kapitel 18.1.).
1.5.13. Kinder
Die Situation der Kinder hat sich in den vergangenen Jahren insgesamt verbessert. So werden mittlerweile rund zwei Drittel aller Kinder eingeschult. Laut UNAMA-Berichten sank die Gesamtzahl der konfliktbedingt getöteten oder verletzten Kinder im ersten Halbjahr 2019 gegenüber dem Vorjahr um 13% (327 Todesfälle, 880 Verletzte). Die Beteuerungen regierungsfeindlicher Gruppen, Gewalt gegen Zivilisten und insbesondere Kinder abzulehnen, werden immer wieder durch ihre Aktionen konterkariert (LIB, Kapitel 18.2.).
Das Familienleben gilt als Schnittstelle für Fürsorge und Schutz. Armut, schlechte Familiendynamik und der Verlust wichtiger Familienmitglieder können das familiäre Umfeld für Kinder stark beeinflussen. Die afghanische Gesellschaft ist patriarchal (ältere Männer treffen die Entscheidungen), patrilinear (ein Kind gehört der Familie des Vaters an) und patrilokal (ein Mädchen zieht nach der Heirat in den Haushalt des Mannes). Die wichtigste soziale und ökonomische Einheit ist die erweiterte Familie, wobei soziale Veränderungen, welche mit Vertreibung und Verstädterung verbunden sind, den Einfluss der Familie etwas zurückgedrängt haben. Zuhause und Familie sind private Bereiche. Das Familienleben findet hinter schützenden Mauern statt, welche allerdings auch familiäre Probleme vor der Öffentlichkeit verbergen (LIB, Kapitel 18.2.).
In den Städten Herat, Kabul und Mazar-e Sharif kommt es trotz gesetzlichen Verboten zu Kinderarbeit und Ausbeutung (beispielsweise eine Verrichtung von Tätigkeiten, für welche die eingesetzten Kinder zu jung sind, Schwerarbeit und gesundheitsschädliche Tätigkeiten oder sexuelle Ausbeutung). Eine Quelle berichtet, dass zwar keine systematischen Erhebungen hierzu existieren, jedoch würden anekdotische Berichte nahe legen, dass arbeitende Kinder in besonderem Ausmaß von Gewalt betroffen sind und manche Arbeitgeber Kinder mittels Beschimpfungen, Prügel, Herabsetzung, Spiel- und Pausenverboten, der Bereitstellung von ungesundem Essen oder der Vorenthaltung von Essen bestrafen würden (Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, AFGHANISTAN, Kinderarbeit und Ausbeutung in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif vom 03.05.2019, S. 1).
Exakte und aktuelle Statistiken zur Anzahl an arbeitenden Kindern in den genannten Städten konnten im Rahmen der zeitlich begrenzten Recherche nicht gefunden werden und Quellen verweisen auf die lückenhafte Dokumentation von Kinderarbeit in Afghanistan. In mehreren Quellen wird die Zahl von 60.000 Kindern (und damit 20.000 mehr, als zehn Jahre zuvor), welche im Jahr 2009 auf den Straßen Kabuls arbeiteten, genannt. Diese Zahl stammt aus einer Studie, welche im Jahr 2008 veröffentlicht wurde und im Rahmen der zeitlich begrenzten Recherche nicht gefunden werden konnte. Umfrageergebnisse aus den Jahren 2013/2014 ergaben einen Anteil von 29 Prozent an arbeitenden Kindern unter allen fünf- bis 17-Jährigen in ganz Afghanistan. Eine Umfrage aus den Jahren 2010/2011 bezifferte den Anteil an arbeitenden Kindern in den verschiedenen Regionen zwischen rund 13 (Westregion Afghanistans, in welcher sich Herat befindet) und knapp über 30 Prozent (Nordregion, in welcher sich Mazar-e Sharif befindet), bzw. bis zu 35 Prozent im zentralen Hochland Afghanistans (wo sich keine der o.g. Städte befindet). In der Zentralregion Afghanistans, in welcher sich die Provinz Kabul befindet, liegt der Anteil bei 19,1 Prozent. Die Studie unterscheidet zwischen Kindern im Alter von fü