TE Bvwg Erkenntnis 2020/3/10 W196 2226054-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 10.03.2020
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Entscheidungsdatum

10.03.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs3 Z1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §18 Abs1 Z1
BFA-VG §19
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art2
EMRK Art3
EMRK Art8
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1a
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W196 2226054-1/9E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Ursula SAHLING als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA Ukraine, vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 31.10.2019, Zl. 1248145803-191011517-EAST Ost, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am XXXX , zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird gemäß §§ 3 Abs. 1 und 8 Abs. 1, § 57, § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm. § 9 BFA-VG, §§ 52 Abs. 2 Z 2, 52 Abs. 9 FPG und § 46 FPG, § 18 Abs. 1 Z 1 BFA-VG sowie § 55 Abs. 1a FPG als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

Die Beschwerdeführerin, (in der Folge BF), Staatsangehörige der Ukraine ukrainischer Volksgruppenzugehörigkeit und christlich-orthodoxen Glaubens, reiste am 03.10.2019 mit einem biometrischen Reisepass von Polen kommend legal in das Bundesgebiet ein und stellte am selben Tag den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

Im Zuge der Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 04.10.2019 erklärte die BF, seit ca. 4 bis 5 Jahren geschieden zu sein. Ihre Muttersprache sei Ukrainisch und sie habe nach ihrer Schulausbildung den Beruf einer Friseurin und Kosmetikerin in der Stadt XXXX erlernt und sei zuletzt als Friseurin tätig gewesen. In der Ukraine seien noch ihre Eltern und ihre beiden minderjährigen Kinder aufhältig. Zu ihren Fluchtgründen brachte die BF vor, dass sie die Ukraine verlassen habe, weil sie von ihrem seit 2015 geschiedenen Ehemann, welcher Alkohol und vermutlich auch Drogen konsumierte, seither terrorisiert und verfolgt werde. Er habe bereits ein Jahr nach der Eheschließung im Jahr 2009 begonnen, sie zu schlagen. Sie habe bei der ukrainischen Polizei auch Anzeige erstattet. Zunächst habe diese nicht darauf reagiert, aber schließlich habe er doch zwei Strafen bekommen, worauf er noch wütender geworden sei. Eines Tages habe er sie geschlagen, ihr zwei Rippen gebrochen und sie mit dem Tod bedroht. Im Fall der Rückkehr habe sie Angst, von ihrem Ex-Ehemann umgebracht zu werden.

Am 15.10.2019 wurde die BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA) niederschriftlich einvernommen und gab dabei an, neben Ukrainisch auch noch Russisch zu sprechen. Sie habe Nieren-, Kopf- und Halsschmerzen und wolle eine Blutuntersuchung machen lassen, weil sie vermute, dass ihr Ehemann sie habe vergiften wollen. Sie leide schon seit einigen Jahren an diesen Schmerzen. Zwar sei sie in der Ukraine beim Arzt gewesen und es sei am Herz nichts festgestellt worden, jedoch habe man nicht die von ihr gewünschten Untersuchungen für den ganzen Körper durchgeführt; es gebe keine Diagnose. Sie wolle auch noch ein Rückenröntgen machen lassen und zum Psychologen gehen, weil sie sich unterdrückt und gedemütigt fühle. Aktuell nehme sie nur ukrainische Medikamente gegen Kopfschmerzen. Die österreichische Verordnung für Medikamente habe sie nicht abgeholt, weil sie nicht täglich Medikamente nehmen wolle. Sie habe einen ukrainischen Befund, dass sie 2015 oder 2016 nach einer Vergewaltigung durch ihren Ehemann ein Kind abtreiben habe müssen. Sie sei in der Ukraine oft umgezogen. Ihr Ehemann habe ihr immer Probleme bereitet und sie sei nervlich am Ende gewesen. Ihre Kinder seien bei ihren Eltern in Sicherheit, sie könne sich nicht erinnern, seit wann diese bei ihnen leben würden. Ihre Eltern und ihre Kinder würden in einem Dorf in XXXX leben, wo sie aufgewachsen sei. Sie sei nach einem Angriff im Stiegenhaus spontan ausgereist. Ihren Lebensunterhalt habe sie durch ihre Tätigkeit als Friseurin in XXXX bestritten. In Österreich lebe sie von der Grundversorgung, wolle aber ihren Beruf gerne ausüben. In Österreich habe sie keine Verwandten. Sie lebe alleine. Zu ihren Fluchtgründen gab sie an, am 09.09.2019 die polnische Grenze überquert und die Ukraine verlassen zu haben, weil ihr Ex-Ehemann sie umbringen wolle. Er verfolge sie immer wieder, egal wo sie sich aufhalte. Er habe ihr das immer gesagt und sie bis zur Bewusstlosigkeit geschlagen. Als sie noch zusammengelebt hätten, habe er ihr immer etwas in den Tee gemischt, worauf ihr schlecht geworden sei; dies sei seither nicht mehr der Fall. Als fluchtauslösendes Ereignis schilderte sie, einen Überfall durch eine unbekannte Person, als sie ihre Wohnhausanlage habe betreten wollen. Sie sei deswegen nicht zur Polizei gegangen und habe im Schock die Ukraine am nächsten Tag verlassen. Ihr Ex-Ehemann sei kurz vor diesem Angriff am helllichten Tag auf der Straße gewesen. Sie sei danach von dem anderen Mann von hinten angegriffen worden. Er habe sie zu Boden geworfen, habe auf ihren Schultern kniend versucht, ihr den Kopf umzudrehen, worauf sie das Bewusstsein verloren habe. Als sie wieder zu Bewusstsein gekommen sei, habe sie ein Taxi gerufen und sei nach Hause gefahren, wo sie sich wegen der Schmerzen hingelegt habe. Es hätte keinen Sinn gehabt, sich an die Polizei zu wenden oder zum Arzt zu fahren. Sie habe bereits zwei Mal Anzeige gegen ihren Ex-Ehemann erstattet. Sie könne sich nicht an Details erinnern, sie habe oft eine Gehirnerschütterung gehabt. Einmal habe er sie neben dem Park XXXX gewürgt, wobei er ihr gesagt habe, dass er sie umbringen werde, wenn sie ihn noch einmal anzeige. Sie habe damals die Ukraine nicht verlassen, weil sie gehofft habe, dass er irgendwann aufhören werde. Sie könne nicht bei ihren Eltern und ihren Kindern leben, weil er sie dort finden würde. Er sei sehr böse und aggressiv geworden. Sie habe deshalb das Land verlassen müssen. Sie wolle hier in Österreich in Ruhe leben und ihre Kinder herholen. Die ukrainische Polizei helfe nicht. Sie könne nicht in die Ukraine zurückkehren, dort gebe es keinen Schutz wie in Österreich, die Polizei habe ihr nicht geholfen. Die ihr zur Kenntnis gebrachten Länderfeststellungen nahm sie nicht zur Kenntnis und führte aus, diese nicht zu glauben.

Am 17.10.2019 legte die BF zwei ukrainisch-sprachige Schreiben vor (Informationsblatt, Scheidungsurkunde).

Mit dem im Spruch genannten Bescheid des BFA wurde der Antrag auf internationalen Schutz der BF sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status einer Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.), als auch bezüglich der Zuerkennung des Status einer subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Ukraine gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Unter Spruchpunkt III. wurde ihr ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §§ 57 AsylG 2005 nicht erteilt und unter Spruchpunkt IV. gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 iVm § 9 BFA-VG gegen die BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen sowie gemäß § 46 FPG die Zulässigkeit ihrer Abschiebung in die Ukraine festgestellt (Spruchpunkt V.). Einer Beschwerde wurde gemäß § 18 Abs. 1 Z 1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt VI.) und gemäß § 55 Abs. 1 a FGG eine Frist für eine freiwillige Ausreise nicht erteilt (Spruchpunkt VII.).

Dazu führte das BFA aus, dass nicht habe festgestellt werden können, dass die BF in der Ukraine einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt gewesen sei oder im Fall der Rückkehr ausgesetzt wäre. Ihr Vorbringen zu den Fluchtgründen wurde nicht als glaubhaft erachtet. Es sei nicht nachvollziehbar, weshalb sie sich bei einer tatsächlichen Verfolgung durch ihren Ex-Ehemann nicht wiederholt an die Behörden gewendet habe, zumal die Ukraine ein sicherer Herkunftsstaat sei und die Behörden auch schutzwillig und schutzfähig seien. Sie habe selbst angegeben, dass ihr Ex-Ehemann auf Grund ihrer Anzeigen bereits zwei Geldstrafen erhalten habe.

Rechtlich wurde zu Spruchpunkt I. insbesondere ausgeführt, dass die BF nicht in der Lage gewesen sei, eine Bedrohungssituation iSd. Genfer Flüchtlingskonvention glaubhaft zu machen. Die Nichtzuerkennung subsidiären Schutzes wurde im Wesentlichen damit begründet, dass kein reales Risiko einer derart extremen Gefahrenlage vorliege, welches einen außergewöhnlichen Umstand im Sinne des Art. 3 EMRK darstelle würde und somit einer Rückführung der BF in ihr Heimatland entgegenstehen würde. Schließlich bestünden im Bundesgebiet keine Hinweise auf weitere familiäre Anknüpfungspunkte oder eine außerordentliche Integration, weshalb das Vorliegen eines schützenswerten Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK nicht festgestellt werden könne. Da die Ukraine als sicherer Herkunftsstaat gelte, sei die aufschiebende Wirkung abzuerkennen gewesen. Der Umstand, dass diesfalls keine Frist für die freiwillige Ausreise einzuräumen sei, ergebe sich aus § 55 Abs. 1a FPG.

Gegen diesen Bescheid wurde fristgerecht Beschwerde erhoben und insbesondere moniert, dass die Beweiswürdigung, Tatsachenfeststellung und rechtliche Beurteilung unrichtig seien. Beantragt wurde ua. eine mündliche Verhandlung. Die ukrainische BF sei von ihrem nunmehrigen Ex-Ehemann während ihres Zusammenlebens geschlagen und vergewaltigt sowie nach der Trennung verfolgt und tätlich angegriffen worden. Entgegen dem angefochtenen Bescheid habe die BF detaillierte Angaben zu den Vorfällen gemacht. Diese ließen darauf schließen, dass die für die BF unerträglich gewordene Situation in der Ukraine ihre Flucht nach Österreich begründet habe. Im Fall der Rückkehr fürchte sie erneut Repressalien durch ihren geschiedenen Ehemann. Schon aus den Feststellungen im angefochtenen Bescheid (S 21) sei ersichtlich, dass es durch den bewaffneten Konflikt vermehrt zu häuslicher Gewalt komme, von der vor allem Frauen betroffen seien. Im Dezember 2017 sei ein neues Gesetz erlassen worden, das häusliche Gewalt als Straftatbestand deklariere. Jedoch gebe es kaum ausreichend psychosoziale und medizinische (Notfall)Einrichtungen mit geschultem Personal. Es hätte daher subsidiärer Schutz zuerkannt werden müssen, da die BF anderenfalls der realen Gefahr einer Verletzung von Art. 3 EMRK ausgesetzt wäre. Nach einem auszugsweise zitierten Bericht des Ukrain Crisis und Media Centers vom 06.04.2017 wenden sich nur wenige Opfer von häuslicher Gewalt an die Polizei. Zwar unternehme die Ukraine Anstrengungen, das Problem der häuslichen Gewalt zu bekämpfen, dennoch bleibe dies ein ernstes Problem, vor allem wegen der weit verbreiteten Korruption, wonach Gerichtsverhandlungen möglicherweise nicht fair geführt würden. Zudem sei die Gewalt seitens ihres Ehemannes nach der ersten Anzeige bei der Polizei schlimmer geworden. Nach den Feststellungen im angefochtenen Bescheid seien die Schutzmaßnahmen gegen häusliche Gewalt weder angemessen noch effektiv. Die Anwendung gesetzlicher Regeln gegen häusliche Gewalt sei nicht ausreichend gewährleistet und die Schutzwilligkeit der Ukraine zu bezweifeln, jedenfalls aber werde offensichtlich, dass keine Schutzfähigkeit bestehe. Selbst wenn man keine Verfolgung im Sinne der GFK annehme, drohe der BF doch durch ihren Ex-Ehemann in der Ukraine unmenschliche Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK, sodass jedenfalls subsidiärer Schutz zu gewähren gewesen wäre.

Am 02.03.2020 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Zuhilfenahme einer geeigneten Dolmetscherin für die Sprache Ukrainisch statt, zu welcher die BF, ihr Vertreter und die belangte Behörde ordnungsgemäß geladen wurden. Dabei wurde der BF die Möglichkeit geboten ausführlich zu ihren Fluchtgründen Stellung zu nehmen. Der BF wurden Kopien der im Verfahren herangezogenen Berichte und Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat mit der Ladung übersendet und für eine allfällige schriftliche Stellungnahme eine Frist von zwei Wochen nach der Verhandlung eingeräumt. Diese nahm im Wesentlichen folgenden Verlauf:

"R: Erzählen Sie, wieso Sie nach Österreich gekommen sind!

BF: Ich bin nach Österreich gekommen, weil ich ein großes Problem mit meinem Mann habe. Er will mich töten. Es gab schon mehrere Versuche seinerseits. Noch als wir zusammengelebt haben, hat er versucht mich zu vergiften.

R: Wieso?

BF: Ich weiß es nicht.

BehV: Woher wissen Sie, dass Sie vergiftet werden sollten? Oder dass er es irgendwann versucht hat?

BF: Ich weiß, dass er das war und das er mich vergiften wollte. Ich war einmal krank und mein Mann hat mir einen Tee gemacht, nachdem ich diesen Tee getrunken habe, konnte ich mich kaum rühren und nicht aufstehen. Ich bin dann irgendwie doch aufgestanden nach einiger Zeit und mir war ganz schlecht, meine Beine hörten nicht auf mich, mir war schwindlig und habe mich übergeben. Ich konnte nicht wirklich gut gehen. Es gab einige solche Vorfälle mit dem Tee. Er hat mir immer wieder Tee gebracht und danach ist es mir immer wieder schlecht gegangen.

R: Warum trinken Sie diesen Tee dann?

BF: Ich habe eh nicht so viel getrunken, weil der Geschmack seltsam war, aber ich habe mir nicht denken können, dass mein Mann mir so etwas antun möchte.

R: War er da noch nett?

BF: Es gab schon Missverständnisse zwischen uns aber ich habe mir nicht gedacht, dass mein Mann so weit geht.

R: Was ist noch passiert?

BF: Er hat mich zusammengeschlagen, sehr stark.

R: Wann hat er Sie das erste Mal zusammengeschlagen?

BF: Als der Kleine geboren ist, nach der Geburt. Er ist am XXXX geboren. Er hat die ganze Zeit mir etwas zu Befehlen, er kommandierte mich herum. Ich habe mich bemüht ihm eine gute Frau zu sein. Nach der Geburt des Sohnes, das hat längere Zeit gedauert. Er hat mich gequält über längeren Zeitraum. Wenn er schlechte Laune hatte, hat er sich bei mir abreagiert. Ich habe nicht gedacht, dass ein Mensch, der einem so nahesteht, von so jemand so etwas kommen könnte. Zu diesem Tee, warum ich eigentlich Glaube, dass er mich vergiften wollte, ich habe Gott sei Dank wie gesagt nicht alles ausgetrunken, weil ich einen bitteren Beigeschmack gespürt habe, das war seltsam der Tee.

BehV: Waren Sie jemals beim Arzt, wenn der Tee so seltsam geschmeckt hat?

BF: Ich konnte es damals nicht, er hat mich nirgendwo hingehen lassen. Wenn er mich zusammengeschlagen hat, durfte ich das Haus nicht verlassen, nicht einmal einkaufen durfte ich. Ich blieb dann einige Wochen zuhause und sogar wenn meine Freundinnen besuchen wollte, durften sie das nicht, weil ich ganz blau war und er nicht wollte, dass das jemand sieht. Einige Zeit später habe ich mich dann an die Polizei gewandt, aber die hat mir nicht helfen können.

BehV: Was meinen Sie mit einige Zeit später?

BF: Ich habe das Ganze über mich ergehen lassen und habe mich erst dann an die Polizei gewandt, als ich die Scheidung beantragt habe und von ihm getrennt war. Bei uns in der Ukraine ist das oft der Fall, dass die Frauen das über sich ergehen lassen. Aber ich hatte schon solche Angst, dass ich die Scheidung beantragt habe und mich scheiden lassen habe. Er hat mich wirklich stark zusammengeschlagen. Er hat mir Fußtritte verpasst, mit Fäusten geschlagen, er hat mich so stark in die Brustgegend geschlagen, das ich kaum atmen konnte und ich sogar einige Zeit bewusstlos war. Ich hatte Angst vor ihm. Aber nichts desto trotz habe ich das ganze über mich ergehen lassen bis ich nicht mehr weiterkonnte. Ich wollte nicht, dass die Kinder das alles mitbekommen, diese ständigen Konflikte. Beide Kinder sind von meinem Ex-Mann.

BehV: Wann haben Sie sich im Endeffekt von Ihrem Ex-Mann getrennt?

BF: Also endgültig habe ich ihn 2015 verlassen, bin aber immer wieder einige Zeit bei meinen Freundinnen gewesen, mein Körper war immer wieder blau von seinen Schlägen.

R: Wenn Sie bei Ihren Freundinnen waren, wo waren Ihre Kinder?

BF: Ich habe meine Kinder zu meinen Eltern geschickt.

R: Wo wohnen die Eltern?

BF: Im Gebiet Ivano-Frankisvsk, in Stadt XXXX .

R: Sie haben mit Ihrem Mann wo gewohnt?

BF: Im Gebiet XXXX , im Ort XXXX .

R: Die Freundinnen waren alle in XXXX ?

BF: In der Stadt XXXX .

BehV: Wann ist die Tochter, das zweite Kind geboren?

BF: 2015. Genau am XXXX . Da war unsere Beziehung immer schlechter und schlechter.

RV: Wer hat die Obsorge für die Kinder?

BF: Ich habe die alleinige Obsorge.

RV: Hat der Ex-Mann Besuchsrecht? Besucht er die Kinder?

BF: Er hat zwar das Recht die Kinder zu sehen, aber ich wollte es nicht, weil er den Kindern nichts Gutes beibringen kann. Ich konnte die Kinder nicht mitnehmen, weil ich die Einwilligung des Vaters benötige, um die Kinder mitzunehmen. Da unsere Beziehung so ist wie sie ist, kann ich ihn nicht einfach darum ersuchen. Aus diesem Grund bin ich alleine gekommen. Ich würde die Kinder auch gerne nach Österreich nachbringen.

R: Wenn Sie die Einwilligung des Vaters nicht bekommen, können Sie die Kinder nie nach Österreich mitnehmen.

BF: Ja, und er wird mir diese Einwilligung nie geben.

R: Ihre Mutter hat Ihnen den Rat gegeben, dass Sie sich in einem fremden Land akklimatisieren sollen und dann die Kinder nachholen sollen. Warum macht sie das, wenn das doch gar nicht geht?

BF: Meine Mutter hat eigentlich gesagt, dass ich eine Lösung für diese Situation suchen soll. Meine Mutter liebt mich und macht sich Sorgen um mich. Ich bin die einzige Tochter in der Familie und meine Mutter macht sich große Sorgen um mich. Meine Mutter hat auch ein schwieriges Leben und sie wollte, dass ich ein besseres habe.

BehV: Sie haben das Scheidungsurteil vorgelegt, sie sind seit 25.06.2015 geschieden worden. In diesem Urteil hat das Gericht festgestellt, aufgrund Ihrer Angaben, dass Sie bereits seit zwei Jahren, sprich 2013 von Ihrem Mann getrennt waren, mit einem anderen Mann zusammengelebt haben und die Absicht hatten, eine Familie zu gründen. Die Tochter ist 2015 geboren, somit muss man davon ausgehen, dass die Tochter von dem zweiten Mann war.

BF: Nein, sie ist nicht von dem zweiten Mann, sie ist von dem ersten. Nein, das ist nicht wahr, dass ich einen anderen Mann hatte, wie gesagt, ich bin immer wieder von meinem Mann weggegangen und habe einige Zeit von ihm getrennt gelebt. Er war dann nach einiger Zeit wieder nett zu mir und hat immer wieder gesagt, dass wir das noch einmal versuchen sollen, ich habe ihm immer wieder eine Chance gegeben. So ist das einige Zeit gegangen.

R: Wie kommt es dann dazu, dass Sie das im Scheidungsurteil so gesagt haben? Hatten Sie einen anderen Mann oder nicht?

BF: Ich wollte, dass die Scheidung so schnell wie möglich über die Bühne geht. Er wollte nicht einwilligen. Aus diesem Grund, habe ich das gesagt, damit die Scheidung schneller vollzogen wird.

BehV: Die Scheidung war nach der Geburt der Tochter. Im Scheidungsurteil (AS 91, 93) ist nur der Sohn angeführt als gemeinsames Kind. Wieso?

BF: Ich weiß es nicht, das kann nicht sein.

R: Warum steht die Tochter nicht drinnen?

BF: Vielleicht habe ich das Kind damals noch nicht eintragen lassen im Register.

R: Sie sind ja gefragt worden, ob Sie Kinder haben.

BF: Es sollte drinnen stehen. Also ich habe es nicht durchgelesen. Ich war froh, dass ich überhaupt die Scheidung bekommen habe. Mir war wichtig, dass ich die Scheidung von diesem Mann bekomme, alles andere war nicht so wichtig. Ich war damals so froh, dass ich geschieden bin und ich habe nicht durchgelesen, weil ich so froh war. Er hat mich so stark geschlagen, dass ich sogar bewusstlos war.

R: War er ein Alkoholiker?

BF: Manchmal hat er getrunken. Das ist eine Einstellung, mein Haus, meine Rechte, meine Frau, du hast zu tun was ich will. Aber bei uns in der Ukraine ist das ganz normal. Frauen sollen das über sich ergehen lassen. Ich habe mich auch nach der Scheidung an die Polizei gewandt, die Polizei hat mir aber gar nicht geholfen, sie haben gesagt, es ist doch gar nichts passiert, was wollen sie. Mein Mann hat eine Geldstrafe bezahlt. Das war aber nur eine Maßnahme um ihn einzuschüchtern. Als er solche Strafmandate bekommen hat, war er sehr böse und wenn er mich auf der Straße gesehen hat, kam es zu Zwischenfällen. Er hat mich wirklich verfolgt und ich habe oft von der einen Wohnung in die andere zeihen müssen.

R: Wie oft?

BF: Alle drei bis sechs Monate, ich habe sehr oft umziehen müssen. Jedes Mal als er mich gefunden hat, hat er mich zusammengeschlagen. Die Leute bei uns sind so, dass wenn sie was hören, sehen, helfen sie nicht, sie haben kein Mitleid oder Bedürfnis zu helfen. Auf der Straße hat er mich angegriffen öfters, hat mich gewürgt. Es war einmal so, dass er mich auf der Straße gesehen hat und mich so stark geschlagen hat, dass ich zu Boden gegangen bin und als ich dann am Boden lag, hat er meinen Hals mit seinen Beinen eingeklemmt und verdreht. Dann verlor ich mein Bewusstsein. Ich habe gehofft, dass ich einen Mann finden werde und ihn heiraten werde und ein schönes Leben führen werde. Vielleicht war das ein Fehler, dass ich ihm einmal was gestanden habe. Ich habe ihm einmal erzählt, wie mein Vater meine Mutter gequält und misshandelt hat. Vielleicht war das der Auslöser. Als ich klein war, habe ich immer wieder gesehen wie mein Vater meine Mutter schlägt. Das habe ich meinem Mann alles erzählt. Ich habe mir dabei gedacht, dass ich eine seelische Unterstützung bekomme von meinem Mann. Dass er mich trösten wird, aber das war nicht der Fall. Als ich klein war, war mein Vater brutal gegenüber meiner Mutter, hat sie mit einem Messer bedroht. Ich habe mein Leben lang in Angst gelebt. Ich habe gehofft, dass ich einen netten Mann finde, das war aber nicht der Fall. Ich dachte dann, dass ich aus der Lage rauskomme und mein Leben in Griff bekomme, aber das war nicht möglich. Das Gesetz gibt es gegen häusliche Gewalt, aber die Polizei hat gesagt, sie kann mir nicht helfen und hat mir auch nicht geholfen. Die Polizei hat mir gesagt, dass sie erst einschreiten kann, wenn er mir wirklich was angetan hat. Ich möchte, dass man mir hilft, ich möchte meine Kinder nachholen und ein friedliches Leben führen. Ich habe so viel Leiden müssen. Ich habe viele Narben.

Nach Rückübersetzung ergänzt die BF:

Als er mir die Rippen gebrochen hat, habe ich mich an die Polizei gewandt, aber die Polizei hat nichts unternommen. Helfen Sie mir bitte, geben Sie mir die Möglichkeit so weit wie möglich weg von ihm zu leben, damit ich ihn nicht mehr sehen kann, nicht mehr treffen kann. Ich habe keine andere Möglichkeit, das ist meine einzige. Ich hoffe sehr auf Ihre Unterstützung."

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Beweis wurde erhoben durch den Inhalt des vorliegenden Verwaltungsaktes der BF, beinhaltend ihre Erstbefragungen vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 04.10.2019 und die niederschriftliche Einvernahme vor dem BFA am 15.10.2019 sowie der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 02.03.2020, und schließlich durch Einsicht in aktuelle Auszüge aus Strafregister, GVS und IZR sowie durch Einsichtnahme in das aktualisierte Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zur Ukraine vom 29.05.2019 (Stand 30.08.2019).

1. Feststellungen:

Die BF ist Staatsangehörige der Ukraine sowie Zugehörige der Volksgruppe der Ukrainer und bekennt sich zum orthodoxen Glauben. Ihre Identität steht fest. Sie ist in einem Dorf im Gebiet Ivano-Frankivsk aufgewachsen, wo sie die Schule besuchte. Sie ist ausgebildete Friseurin und Kosmetikerin und war bis zu ihrer Ausreise als Friseurin tätig. Vor ihrer Ausreise lebte sie alleine. Die BF war in der Lage den Lebensunterhalt zu bestreiten und lebte wirtschaftlich abgesichert. Ihre Eltern und ihre beiden minderjährigen Kinder leben im Heimatdorf in der Ukraine. Die BF ist seit April 2015 geschieden.

Die BF stellte nach illegaler Einreise am 03.10.2019 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

Festgestellt wird, dass die BF von ihrem seit 2015 geschiedenen Ehemann während ihrer Ehe misshandelt und vergewaltigt sowie auch noch nach der Scheidung von ihm verfolgt wurde. Auf Grund ihrer Anzeigen bei der Polizei hat er bereits zwei Strafen erhalten. Nicht festgestellt werden kann, dass sich die BF in der Ukraine den Übergriffen durch ihren geschiedenen Ehemann nicht durch eine Übersiedlung in einen weiter entfernten Teil der Ukraine - etwa nach Kiew- entziehen kann. Nicht glaubhaft ist, dass die BF auch noch im Jahr 2019 von ihrem geschiedenen Ehemann verfolgt wurde. Weiters kann nicht festgestellt werden, dass die BF unmittelbar vor ihrer Ausreise von einem Unbekannten vor ihrem Wohnhaus von hinten überfallen wurde und infolge dessen ausgereist ist.

Nicht festgestellt werden kann, dass die BF im Fall der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Ukraine in ihrem Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht wäre.

Es konnte ferner nicht festgestellt werden, dass die BF im Falle ihrer Rückkehr in ihrem Herkunftsstaat in eine existenzgefährdende Notlage geraten würde und ihr die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen wäre.

Die BF hat keine Verwandten oder sonstigen nahen Angehörigen in Österreich.

Die BF lebt seit Oktober 2019 in Österreich und eine überdurchschnittliche Integration der BF im Bundesgebiet konnte nicht festgestellt werden. Sie hat nicht vorgebracht Deutschkurse zu besuchen oder eine Prüfung absolviert zu haben. Sie spricht nur Ukrainisch und Russisch. Sie geht bislang in Österreich keiner Erwerbstätigkeit nach, sondern lebt von Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung. Sie besucht in Österreich keine Kurse, eine Schule oder eine Universität und ist nicht aktives Mitglied in einem Verein. Sie geht auch keinen sportlichen oder kulturellen Aktivitäten nach.

Ihre Eltern und ihre beiden minderjährigen Kinder leben auch weiterhin in der Ukraine. Die BF kann im Fall der Rückkehr den Kontakt zu ihren Eltern via Telefon oder sonstigen Kommunikationsmitteln wiederherstellen.

Die BF ist als gesund anzusehen. Sie steht nicht in ärztlicher Behandlung. Sie ist auch arbeitsfähig.

1.3. Zum Herkunftsstaat wird Folgendes festgestellt:

Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vom 29.05.2019 (Stand 30.08.2019):

KI vom 30.08.2019 (relevant für Abschnitt 2/Politische Lage)

Am 29.8.2019 ist die ukrainische Oberste Rada zu ihrer konstituierenden Sitzung zusammengetreten. Die Partei von Präsident Wolodymyr Selenskyj, Diener des Volkes, hatte bei der Wahl mehr als 250 der insgesamt 450 Sitze gewonnen (DS 29.8.2019; vgl. Ukrinform 30.8.2019).

Sechs Fraktionen wurden gebildet: Diener des Volkes mit 254 Sitzen, die Oppositionsplattform "Für das Leben" mit 44 Sitzen, Europäische Solidarität (Ex-Block Poroschenko) mit 27 Sitzen, Batkivshchyna (Julia Timoschenkos Partei) mit 25 Sitzen, Holos (Stimme) mit 17 Sitzen und schließlich die aus unabhängigen Abgeordneten bestehende Fraktion "Für die Zukunft" mit 23 Sitzen (KP 29.8.2019).

Für die neue Regierung stimmten 281 Parlamentarier. Neuer Premierminister ist der 35-jährige Jurist Olexij Hontscharuk (DS 29.8.2019; vgl. Ukrinform 30.8.2019).

Zum neuen Ministerkabinett gehören: Vizepremierminister für europäische und euroatlantische Integration Dmytro Kuleba Vizepremierminister und Minister für IT-Transformation Mychailo Fedorow Minister des Ministerkabinetts Dmytro Dubilet Außenminister Wadym Prystaiko Verteidigungsminister Andrij Sahorodnjuk Innenminister Arsen Awakow (Bereits in der Vorgängerregierung tätig) Minister für Wirtschaftsentwicklung, Handel und Landwirtschaft Tymofij Mylowanow Justizminister Denys Maljuska Finanzministerin Oxana Markarowa (Bereits in der Vorgängerregierung tätig) Minister für Energiewirtschaft und Kohleindustrie Olexij Orschel Minister für Infrastruktur Wladyslaw Kryklij Ministerin für Entwicklung von Gemeinden und Territorien Olena Babak Ministerin für Bildung und Wissenschaft Hanna Nowosad Gesundheitsministerin Zorjana Skalezka Minister für Kultur, Jugend und Sport Wolodymyr Borodjanskyj Ministerin für Sozialpolitik Julia Sokolowska Ministerin für Angelegenheiten von Veteranen, vorläufig besetzen Gebieten und Binnenflüchtlingen Oxana Koljada (Ukrinform 30.8.2019)

Zu den unmittelbaren Vorhaben der neuen Regierung zählen nun wirtschaftspolitische Maßnahmen, die Aufhebung der Abgeordnetenimmunität (eine weithin geforderte Maßnahme zur Korruptionsbekämpfung, welche allerdings eine Zweidrittelmehrheit verlangt), die Schaffung einer Möglichkeit zur Absetzung des Präsidenten und ein Gesetz zum Whistleblowing in Korruptionsangelegenheiten (RFE/RL 30.8.2019).

Quellen: - DS - Der Standard (29.8.2019): Ukrainischer Präsident bekommt sein Wunschkabinett, https://www.derstandard.at/story/2000107945934/selenskyj-nominiert-ukrainischen-premier-undmehrere-minister, Zugriff 30.8.2019 - KP - Kyiv Post (29.8.2019): Ukraine's new parliament sworn in, Dmytro Razumkov becomes speaker, https://www.kyivpost.com/ukraine-politics/ukraines-new-parliament-sworn-in.html?cnreloaded=1, Zugriff 30.8.2019 - RFE/RL - Radio Free Europe / Radio Liberty (30.8.2019): Ukraine's Zelenskiy Inducts Politically Untested Government, https://www.rferl.org/a/ukraine-zelenskiy-new-government-honcharuk/ 30137220.html, Zugriff 30.8.2019 - Ukrinform (30.8.2019): Parlament billigt neue Regierung, https://www.ukrinform.de/rubric-polytics/ 2769759-parlament-billigt-neue-regierung.html, Zugriff 30.8.2019

KI vom 23.07.2019 (relevant für Abschnitt 2/Politische Lage)

Die Partei "Sluha Narodu" (Diener des Volkes) von Präsident Wolodymyr Selenskyj hat die ukrainische Parlamentswahl vom 21.07.19 gewonnen. Noch liegt das amtliche Endergebnis nicht vor, aber nach Auszählung von etwa 70% der Stimmen steht fest, dass die Partei auf rund 42,7% kommt. Es folgen die russlandfreundliche Oppositionsplattform mit etwa 13%, die Partei "Europäische Solidarität" des früheren Präsidenten Petro Poroschenko mit etwa 8,4%, die Vaterlandspartei der Ex-Ministerpräsidentin Julia Timoschenko mit 7,4% und die Partei "Holos" (Stimme) des Rocksängers Swiatoslaw Wakartschuk mit 6,2%. Dies sind die fünf Parteien, die die 5%-Hürde überwinden konnten. Die Wahlbeteiligung war mit knapp 50% geringer als vor fünf Jahren. Die OSZE sprach trotz des klaren Ergebnisses von einer fairen Konkurrenz. Zwar bemängelte sie fehlende Transparenz bei der Finanzierung des Wahlkampfs, insgesamt registrierten die Wahlbeobachter bei der Abstimmung allerdings keine gröberen Verstöße (BAMF 22.7.2019, DS 22.7.2019).

Zusammen mit den gewonnenen Sitzen aus den Direktwahlkreisen kommt Selenskyjs Partei auf knapp 250 der insgesamt 450 Sitze im Parlament. Das gute Ergebnis über die Parteiliste war vorausgesagt worden, jedoch überrascht der Gewinn von mehr als 120 Direktmandaten , da die Kandidaten durchwegs Polit-Neulinge sind und über keinerlei Erfahrung im Parlament verfügen. Die enorme Wählerzustimmung für Selenskyjs Partei bedeutet, dass das erste Mal in der Ukraine eine politische Kraft die absolute Mehrheit der Sitze in der Rada erreicht hat. Damit entfallen die komplizierten Koalitionsverhandlungen, mit denen im Vorfeld der Wahl viele Experten gerechnet hatten. Offenbar wurde auch Selenskyj selbst davon überrascht, denn noch am Wahlabend hatte er Wakartschuks "Holos", auch diese eine erst vor kurzem gegründete Partei mit ausschließlich politisch unerfahrenen Kandidaten und radikaler Antikorruptions-Agenda, Koalitionsverhandlungen angeboten. Dies dürfte nun unnötig geworden sein (BAMF 22.7.2019, DS 22.7.2019).

Quellen: - BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Deutschland) (22.7.2019): Briefing Notes, per E-Mail - DS - Der Standard (22.7.2019): Diener des Volkes werden Kiew regieren, https://www.derstandard.at/story/2000106566433/diener-des-volkes-werden-kiew-regieren, Zugriff 23.7.2019

2. Politische Lage

Die Ukraine ist eine parlamentarisch-präsidiale Republik. Staatsoberhaupt ist seit 20.05.2019 Präsident Wolodymyr Selensky, Regierungschef ist seit 14.4.2016 Ministerpräsident Wolodymyr Hroisman.

Das ukrainische Parlament (Verkhovna Rada) wird über ein Mischsystem zur Hälfte nach Verhältniswahlrecht und zur anderen Hälfte nach Mehrheitswahl in Direktwahlkreisen gewählt (AA 20.5.2019). Das gemischte Wahlsystem wird als anfällig für Manipulation und Stimmenkauf kritisiert. Auch die unterschiedlichen Auslegungen der Gerichte in Bezug auf das Wahlrecht sind Gegenstand der Kritik. Ukrainische Oligarchen üben durch ihre finanzielle Unterstützung für verschiedene politische Parteien einen bedeutenden Einfluss auf die Politik aus. Die im Oktober 2014 abgehaltenen vorgezogenen Parlamentswahlen wurden im Allgemeinen als kompetitiv und glaubwürdig erachtet, aber auf der Krim und in von Separatisten gehaltenen Teilen des Donbass war die Abstimmung erneut nicht möglich. Infolgedessen wurden nur 423 der 450 Sitze vergeben (FH 4.2.2019). Der neue Präsident, Wolodymyr Selensky, hat bei seiner Inauguration im Mai 2019 vorgezogene Parlamentswahlen bis Ende Juli 2019 ausgerufen (RFE/RL 23.5.2019).

In der Rada sind derzeit folgende Fraktionen und Gruppen vertreten:

Partei Sitze Block von Petro Poroschenko (Blok Petra Poroschenka) 135 Volksfront (Narodny Front) 81 Oppositionsblock (Oposyzijny Blok) 38 Selbsthilfe (Samopomitsch) 25 Radikale Partei von Oleh Ljaschko (Radykalna Partija Oleha Ljaschka) 21 Vaterlandspartei (Batkiwschtschyna) 20 Gruppe Wolja Narodu 19 Gruppe Widrodshennja 24 Fraktionslose Abgeordnete 60 (AA 20.5.2019)

Nach der "Revolution der Würde" auf dem Kiewer Maidan im Winter 2013/2014 verfolgte die Ukraine unter ihrem Präsidenten Petro Poroschenko eine europafreundliche Reformpolitik, die von der internationalen Gemeinschaft maßgeblich unterstützt wird. Zu den Schwerpunkten seines Regierungsprogramms gehörte die Bekämpfung der Korruption sowie eine Verfassungs- und Justizreform. Dennoch wurden die Erwartungen der Öffentlichkeit zu Umfang und Tempo der Reformen nicht erfüllt. Die Parteienlandschaft der Ukraine ist pluralistisch und reflektiert alle denkbaren Strömungen von national-konservativ und nationalistisch über rechtsstaats- und europaorientiert bis links-sozialistisch. Die kommunistische Partei ist verboten. Der Programmcharakter der Parteien ist jedoch kaum entwickelt und die Wähler orientieren sich hauptsächlich an den Führungsfiguren (AA 22.2.2019).

Der ukrainische Schauspieler, Jurist und Medienunternehmer Wolodymyr Oleksandrowytsch Selenskyj gewann am 21. April 2019 die Präsidentschaftsstichwahl der Ukraine gegen den Amtsinhaber Petro Poroschenko mit über 73% der abgegebenen Stimmen (Wahlbeteiligung: 61,4%). Poroschenko erhielt weniger als 25% der Stimmen (RFE/RL 30.4.2019). Beobachtern zufolge verlief die Wahl im Großen und Ganzen frei und fair und entsprach generell den Regeln des demokratischen Wettstreits. Kritisiert wurden unter anderem die unklare Wahlkampffinanzierung und die Medienberichterstattung in der Wahlauseinandersetzung (KP 22.4.2019). Selenskyj wurde am 20.5.2019 als Präsident angelobt. Er hat angekündigt möglichst bald parlamentarische Neuwahlen ausrufen zu lassen, da er in der Verkhovna Rada über keinen parteipolitischen Rückhalt verfügt und demnach kaum Reformen umsetzen könnte. Tatsächlich hat er umgehend per Dekret vorgezogene Parlamentswahlen bis Ende Juli 2019 ausgerufen (RFE/RL 23.5.2019).

Es ist ziemlich unklar, wofür Präsident Selenskyj politisch steht. Bekannt wurde er durch die beliebte ukrainische Fernsehserie "Diener des Volkes", in der er einen einfachen Bürger spielt, der eher zufällig Staatspräsident wird und dieses Amt mit Erfolg ausübt. Tatsächlich hat Selenskyj keine nennenswerte politische Erfahrung, ist dadurch jedoch auch unbefleckt von politischen Skandalen. Eigenen Aussagen zufolge will er den Friedensplan für den umkämpften Osten des Landes wiederbeleben und strebt wie Poroschenko einen EU-Beitritt an. Über einen Nato-Beitritt der Ukraine soll jedoch eine Volksabstimmung entscheiden (DS 21.4.2019; ZO 21.4.2019). Selenskyj hat sich vor allem den Kampf gegen die Korruption auf seine Fahnen geschrieben (UA 27.2.2019).

Kritiker sehen Selenskyj als Marionette des Oligarchen Igor Kolomojskyj, dessen weitgehende Macht unter Präsident Poroschenko stark beschnitten wurde, und auf dessen Fernsehsender 1+1 viele von Selenskyjs Sendungen ausgestrahlt werden. Diesen Vorwurf hat Selenskyj stets zurückgewiesen (UA 27.2.2019; CNN 21.4.2019; Stern 23.4.2019). Quellen: - AA - Auswärtiges Amt (22.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458484/4598_1551701473_auswaertiges-amt-berichtueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-ukraine-stand-februar-2019-22-022019.pdf, Zugriff 18.3.2019 -AA - Auswärtiges Amt (20.5.2019): Ukraine, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/ukraine-node/ukraine/201830, Zugriff 27.5.2019 - CNN - Cable News Network (21.4.2019): Political newcomer Volodymyr Zelensky celebrates victory in Ukraine's presidential elections, https://edition.cnn.com/2019/04/21/europe/ukraineelection-results-intl/index.html, Zugriff 24.4.2019 - DS - Der Standard (21.4.2019): Politikneuling Selenski wird neuer Präsident der Ukraine, https:// derstandard.at/2000101828722/Politik-Neuling-Selenski-bei-Praesidenten-Stichwahl-in-derUkraine-vorn, Zugriff 24.4.2019 - FH - Freedom House (4.2.2019): Freedom in the World 2019 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002619.html, Zugriff 24.4.2019 - KP - Kyiv Post (22.4.2019): Election watchdog Opora: Presidential election free and fair, https://www.kyivpost.com/ukraine-politics/election-watchdog-opora-presidential-election-free-andfair.html, Zugriff 24.4.2019 - Stern (23.4.2019): Ihor Kolomojskyj, der milliardenschwere Strippenzieher hinter der Sensation Selenskyj, https://www.stern.de/politik/ausland/ukraine--ihor-kolomojskyj--der-strippenzieher-hinterder-sensation-selenskyj-8678850.html, Zugriff 24.4.2019 - UA - Ukraine Analysen (27.2.2019): Präsidentschaftswahlen 2019, per E-Mail - RFE/RL - Radio Free Europe/Radio Liberty (23.5.2019): Zelenskiy's Decree On Disbanding Ukrainian Parliament Enters Into Force, https://www.rferl.org/a/zelenskiy-s-decree-on-disbandingukrainian-parliament-enters-into-force/29958190.html, Zugriff 27.5.2019

3. Sicherheitslage

In den von Separatisten kontrollierten Gebieten Donezk und Luhansk sowie auf der Krim haben ukrainische Behörden und Amtsträger zurzeit keine Möglichkeit, ihre Befugnisse wahrzunehmen und staatliche Kontrolle auszuüben (AA 22.2.2019).

Durch die Besetzung der Krim, die militärische Unterstützung von Separatisten im Osten und die Verhängung wirtschaftlicher Sanktionen gegen die Ukraine, kann Russland seinen Einfluss auf den Verlauf des politischen Lebens in der Ukraine aufrechterhalten. Menschen, die in den besetzten Gebieten des Donbass leben, sind stark russischer Propaganda und anderen Formen der Kontrolle ausgesetzt (FH 4.2.2019).

Nach UN-Angaben kamen seit Beginn des bewaffneten Konflikts über 10.000 Menschen um; es wurden zahlreiche Ukrainer innerhalb des Landes binnenvertrieben oder flohen ins Ausland. Das im Februar 2015 vereinbarte Maßnahmenpaket von Minsk wird weiterhin nur schleppend umgesetzt. Die Sicherheitslage hat sich seither zwar deutlich verbessert, Waffenstillstandsverletzungen an der Kontaktlinie bleiben aber an der Tagesordnung und führen regelmäßig zu zivilen Opfern und Schäden an der dortigen zivilen Infrastruktur. Der politische Prozess im Rahmen der Trilateralen Kontaktgruppe (OSZE, Ukraine, Russland) stockt trotz hochrangiger Unterstützung im Normandie-Format (Deutschland, Frankreich, Ukraine, Russland). Besonders kontrovers in der Ukraine bleibt die im Minsker Maßnahmenpaket vorgesehene Autonomie für die gegenwärtig nicht kontrollierten Gebiete, die u.a. aufgrund der Unmöglichkeit, dort Lokalwahlen nach internationalen Standards abzuhalten, noch nicht in Kraft gesetzt wurde. Dennoch hat das ukrainische Parlament zuletzt die Gültigkeit des sogenannten "Sonderstatusgesetzes" bis Ende 2019 verlängert (AA 22.2.2019).

Ende November 2018 kam es im Konflikt um drei ukrainische Militärschiffe in der Straße von Kertsch erstmals zu einem offenen militärischen Vorgehen Russlands gegen die Ukraine. Das als Reaktion auf diesen Vorfall für 30 Tage in zehn Regionen verhängte Kriegsrecht endete am 26.12.2018, ohne weitergehende Auswirkungen auf die innenpolitische Entwicklung zu entfalten. (AA 22.2.2019; vgl. FH 4.2.2019).

Der russische Präsident, Vladimir Putin, beschloss am 24.4.2019 ein Dekret, welches Bewohnern der selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk den Erwerb der russischen Staatsbürgerschaft im Eilverfahren erleichtert ermöglicht. Demnach soll die Entscheidung der russischen Behörden über einen entsprechenden Antrag nicht länger als drei Monate dauern. Internationale Reaktionen kritisieren dies als kontraproduktiven bzw. provokativen Schritt. Ukrainische Vertreter sehen darin die Schaffung einer rechtlichen Grundlage für den offiziellen Einsatz der russischen Streitkräfte gegen die Ukraine. Dafür gibt es einen historischen Präzedenzfall. Als im August 2008 russische Truppen in Georgien einmarschierten, begründete der damalige russische Präsident Dmitrij Medwedjew das mit seiner verfassungsmäßigen Pflicht, "das Leben und die Würde russischer Staatsbürger zu schützen, wo auch immer sie sein mögen". In den Jahren zuvor hatte Russland massenhaft Pässe an die Bewohner der beiden von Georgien abtrünnigen Gebiete Abchasien und Südossetien ausgegeben (FAZ 26.4.2019; vgl. SO 24.4.2019).

Quellen: - AA - Auswärtiges Amt (22.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458484/4598_1551701473_auswaertiges-amt-berichtueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-ukraine-stand-februar-2019-22-022019.pdf, Zugriff 18.3.2019 - FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung (26.4.2019): Ein Signal an Selenskyj, https://www.faz.net/aktuell/politik/putin-verteidigt-russische-staatsbuergerschaft-fuer-ukrainer16157482.html?printPagedArticle=true#pageIndex_0, Zugriff 26.4.2019 - FH - Freedom House (4.2.2019): Freedom in the World 2019 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002619.html, Zugriff 24.4.2019 - SO - Spiegel Online (24.4.2019): Putins Provokation, https://www.spiegel.de/politik/ausland/ukraine-wladimir-putin-kuendigt-an-russische-paesse-imbesetzten-donbass-auszuteilen-a-1264280.html, Zugriff 29.3.2019 - USDOS - US Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004269.html, Zugriff 10.4.2019

[...]

3.3. Ostukraine In den von Separatisten kontrollierten Gebieten Donezk und Luhansk haben ukrainische Behörden und Amtsträger zurzeit keine Möglichkeit, ihre Befugnisse wahrzunehmen und staatliche Kontrolle auszuüben (AA 22.2.2019).

In den nicht von der ukrainischen Regierung kontrollierten Teilen der Oblaste Donezk und Luhansk kam es insbesondere 2014/15 zu schwersten Menschenrechtsverletzungen. Obwohl die Separatisten seither die öffentliche Ordnung und eine soziale Grundversorgung im Wesentlichen wiederhergestellt haben, werden zahlreiche Grundrechte (v.a. Meinungs- und Religionsfreiheit, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Eigentumsrechte) weiterhin systematisch missachtet (AA 22.2.2019).

In den selbsternannten Volksrepubliken Donezk (DPR) und Luhansk (LPR) gibt es seit 2014 keine unabhängige Justiz, und das Recht auf ein faires Verfahren wird systematisch eingeschränkt. Es werden Inhaftierungen auf unbestimmte Zeit ohne gerichtliche Überprüfung und ohne Anklage oder Gerichtsverfahren berichtet. Bei Verdacht auf Spionage oder Verbindungen zur ukrainischen Regierung werden von Militärgerichten geheime Gerichtsverfahren abgehalten, gegen deren Urteile es nahezu keine Beschwerdemöglichkeit gibt und die Berichten zufolge lediglich dazu dienen, bei der Verfolgung von Personen einen Anschein von Legalität zu wahren. Willkürliche Verhaftung sind in der DPR und der LPR weit verbreitet. In der LPR wurde die Möglichkeit der Präventivhaft für 30 bis 60 Tage geschaffen. Die Präventivhaft wird Angehörigen nicht mitgeteilt (incommunicado) und kein Kontakt zu einem Rechtsbeistand und Verwandten zugelassen. Der Zustand der Hafteinrichtungen in den separatistisch kontrollierten Gebieten verschlechtert sich weiter. Berichten zufolge existiert in den Gebieten Donezk und Luhansk in Kellern, Abwasserschächten, Garagen und Industrieunternehmen ein umfangreiches Netz inoffizieller Haftstätten, die meist nicht einmal für eine kurzfristige Inhaftierung geeignet wären. Es gibt Berichte über schweren Mangel an Nahrungsmitteln, Wasser, Hitze, sanitären Einrichtungen und angemessener medizinischer Versorgung. Ein unabhängiges Monitoring der Haftbedingungen wird von den Machthabern nicht oder nur eingeschränkt erlaubt. Es gibt Berichte über systematische Übergriffe gegen Gefangene, wie Folter, Hunger, Verweigerung der medizinischen Versorgung und Einzelhaft sowie den umfangreichen Einsatz von Gefangenen als Zwangsarbeiter zur persönlichen Bereicherung der separatistischen Anführer (USDOS 13.3.2019).

In der Region Donbass unterdrücken die Separatisten die Rede- und Pressefreiheit durch Belästigung, Einschüchterung, Entführungen und Übergriffe auf Journalisten und Medien (USDOS 13.3.2019; vgl. FH 4.2.2019, ÖB 2.2019). Die Separatisten verhindern auch die Übertragung ukrainischer und unabhängiger Fernseh- und Radioprogramme in von ihnen kontrollierten Gebieten. Mittlerweile haben die Separatisten im Osten des Landes ihre Bemühungen verstärkt, Online-Inhalte zu blockieren, welche angeblich die ukrainische Regierung oder die ukrainische kulturelle Identität unterstützen. Es sind nur Demonstrationen zulässig, welche von den lokalen "Behörden" unterstützt oder organisiert werden. In der DNR/LNR können nationale und internationale zivilgesellschaftliche Organisationen nicht frei arbeiten. Es gibt eine steigende Zahl von zivilgesellschaftlichen Organisationen, die von den Separatisten gegründet wurden (USDOS 13.3.2019).

Es gibt es eine massive Zerstörung von zivilem Eigentum und Infrastruktur in den Konfliktgebieten. Auch Schulen und medizinische Einrichtungen waren und bleiben weiterhin betroffen. Zuweilen ist vielerorts die Strom- und Wasserversorgung unterbrochen oder nur zeitweise gesichert, ohne die im Winter auch nicht geheizt werden kann. Aufgrund der fehlenden Rechtsstaatlichkeit in den Separatistengebieten sind dort Frauen besonders gefährdet. Es gibt Berichte über Missbrauch, Sexsklaverei und Menschenhandel (ÖB 2.2019).

Die meisten LGBTI-Personen sind aus den separatistischen Teilen der Oblaste Donezk und Luhansk geflohen oder verstecken ihre sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität (USDOS 13.3.2019).

Die Separatisten in der Ostukraine haben Berichten zufolge einige religiöse Führer inhaftiert. Im Februar 2018 wurden in Luhansk religiöse Gruppen, die nicht den "traditionellen" Religionen angehören, darunter Protestanten und Zeugen Jehovas, verboten (FH 4.2.2019).

Die separatistischen Kräfte erlauben keine humanitäre Hilfe der ukrainischen Regierung, sondern nur solche internationaler humanitärer Organisationen. Infolgedessen sind die Preise für Grundnahrungsmittel angeblich für viele Bewohner der nicht von der Regierung kontrollierten Gebiete der Ostukraine zu hoch. Menschenrechtsgruppen berichten auch über einen ausgeprägten Mangel an Medikamenten, Kohle und medizinischen Hilfsgütern. Es kommen weiterhin Konvois der russischen "humanitären Hilfe" an, die nach Ansicht der ukrainischen Regierungsbeamten aber Waffen und Lieferungen für die separatistischen Streitkräfte enthalten (USDOS 13.3.2019).

Durch die Kontaktlinie, welche die Konfliktparteien trennt, wird das Recht auf Bewegungsfreiheit beschnitten und Gemeinden getrennt. Jeden Tag warten bis zu 30.000 Menschen stundenlang unter erschwerten Bedingungen an den fünf Checkpoints auf das Überqueren der Kontaktlinie.

Unzureichend beschilderte Minen entlang der Straßen stellen eine Gefahr für die Wartenden dar (ÖB 2.2019; vgl. PCU 3.2019). Es gibt nur unzureichende sanitäre Einrichtungen, speziell auf separatistischer Seite (HRW 17.1.2019).

Im Zuge der Kampfhandlungen zwischen der Ukraine und den Separatisten kam es 2014 in jenen Gebieten, in denen nicht die ukrainischen Streitkräfte selbst, sondern Freiwilligenbataillone eingesetzt waren, mitunter zu schweren Menschenrechtsverletzungen. Diese Bataillone wurden in der Folgezeit sukzessive der Nationalgarde (Innenministerium) unterstellt, nur das Bataillon Ajdar wurde in die Armee eingegliedert. Offiziell wurden Freiwilligenbataillone danach nicht mehr an der Kontaktlinie, sondern ausschließlich zur Sicherung rückwärtiger Gebiete eingesetzt. Die nicht immer klare hierarchische Einbindung dieser Einheiten hatte zur Folge, dass es auch in den von ihnen kontrollierten Gebieten zu Menschenrechtsverletzungen kam, namentlich zu Freiheitsberaubung, Erpressung, Diebstahl und Raub, evtl. auch zu extralegalen Tötungen. Diese Menschenrechtsverletzungen sind Gegenstand von teilweise schleppend verlaufenden Strafverfahren. Infolge des Übergangs von der ATO (Anti-Terror-Operation in der Ostukraine, geführt vom SBU, Anm.) zu der nunmehr von der Armee koordinierten OVK (Operation der Vereinigten Kräfte) mit April 2018, wurden verbliebene Freiwilligenverbände endgültig in die regulären Streitkräfte eingegliedert oder haben die OVK-Zone verlassen (AA 22.2.2019).

Quellen: - AA - Auswärtiges Amt (22.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458484/4598_1551701473_auswaertiges-amt-berichtueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-ukraine-stand-februar-2019-22-022019.pdf, Zugriff 18.3.2019 - HRW - Human Rights Watch (17.1.2019): World Report 2019 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/ dokument/2002209.html, Zugriff 25.4.2019 - PCU - Protection Cluster Ukraine (3.2019): Mine Action in Ukraine, https://www.unhcr.org/ua/wpcontent/uploads/sites/38/2019/04/2019_03_advocacy_note_on_mine_action_eng-1.pdf, Zugriff 17.5.2019 - ÖB - Österreichische Botschaften (2.2019): Asylländerbericht Ukraine, https://www.ecoi.net/en/file/local/2003113/UKRA_%C3%96B-Bericht_2018.doc, Zugriff 11.4.2019 - USDOS - US Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004269.html, Zugriff 29.3.2019

4. Rechtsschutz / Justizwesen

Die ukrainische Verfassung sieht eine unabhängige Justiz vor, die Gerichte sind aber trotz Reformmaßnahmen der Regierung weiterhin ineffizient und anfällig für politischen Druck und Korruption. Das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Justiz ist gering. Trotz der Bemühungen um eine Reform der Justiz und der Generalstaatsanwaltschaft ist Korruption bei Richtern und Staatsanwälten weiterhin ein Problem. Einige Richter behaupteten Druckausübung durch hochrangige Politiker. Einige Richter und Staatsanwälte erhielten Berichten zufolge Bestechungsgelder. Andere Faktoren, welche das Recht auf ein faires Verfahren behindern, sind langwierige Gerichtsverfahren, insbesondere bei Verwaltungsgerichten, unterfinanzierte Gerichte und mangelnde Möglichkeiten Urteile durchzusetzen (USDOS 13.3.2019).

Die ukrainische Justizreform trat im September 2016 in Kraft, der langjährige Prozess der Implementierung der Reform dauert weiter an. Bereits 2014 startete ein umfangreicher Erneuerungsprozess mit der Annahme eines Lustrationsgesetzes, das u.a. die Entlassung aller Gerichtspräsidenten sowie die Erneuerung der Selbstverwaltungsorgane der Richterschaft vorsah. Eine im Februar 2015 angenommenen Gesetzesänderung zur "Sicherstellung des Rechtes auf ein faires Verfahren" sieht auch eine Erneuerung der gesamten Richterschaft anhand einer individuellen qualitativen Überprüfung ("re-attestation") aller Richter vor, die jedoch von der Zivilgesellschaft als teils unzureichend kritisiert wurde. Bislang wurden laut Informationen von ukrainischen Zivilgesellschaftsvertretern rund 2.000 der insgesamt 8.000 in der Ukraine tätigen Richter diesem Prozess unterzogen, wobei rund 10% entweder von selbst zurücktraten oder bei der Prozedur durchfielen. Ein wesentliches Element der Justizreform ist auch der vollständig neu gegründete Oberste Gerichtshof, der am 15. Dezember 2017 seine Arbeit aufnahm. Allgemein ist der umfassende Erneuerungsprozess der Richterschaft jedoch weiterhin in Gange und schreitet nur langsam voran. Die daraus resultierende häufige Unterbesetzung der Gerichte führt teilweise zu Verfahrensverzögerungen. Von internationaler Seite wurde die Annahme der weitreichenden Justizreform weitgehend begrüßt (ÖB 2.2019).

2014 wurde auch eine umfassende Reform der Staatsanwaltschaft in Gang gesetzt. In erster Linie ging es dabei auch darum, das schwer angeschlagene Vertrauen in die Institution wieder herzustellen, weshalb ein großer Teil dieser Reform auch eine Erneuerung des Personals vorsieht. Im Juli 2015 begann die vierstufige Aufnahmeprozedur für neue Mitarbeiter. Durchgesetzt haben sich in erster Linie jedoch Kandidaten, die bereits in der Generalstaatsanwaltschaft Erfahrung gesammelt hatten. Weiters wurde der Generalstaatsanwaltschaft ihre Funktion als allgemeine Aufsichtsbehörde mit der Justizreform 2016 auf Verfassungsebene entzogen, was jedoch noch nicht einfach gesetzlich umgesetzt wurde. Jedenfalls wurde in einer ersten Phase die Struktur der Staatsanwaltschaft verschlankt, indem über 600 Bezirksstaatsanwaltschaften auf 178 reduziert wurden. 2017 wurde mit dem Staatsanwaltschaftsrat ("council of prosecutors") ein neues Selbstverwaltungsorgan der Staatsanwaltschaft geschaffen. Es gab bereits erste Disziplinarstrafen und Entlassungen, Untersuchungen gegen die Führungsebene der Staatsanwaltschaft wurden jedoch vorerst vermieden. Auch eine spezialisierte Antikorruptions-Staatsanwaltschaft wurde geschaffen. Diese Reformen wurden vor allem wegen der mangelnden personellen Erneuerung der Staatsanwaltschaft kritisiert. Auch erhöhte die Reform die Belastung der Ankläger, die im Durchschnitt rund je 100 Strafverfahren gleichzeitig bearbeiten, was zu einer Senkung der Effektivität der Institution beiträgt. Allgemein bleibt aber, trotz einer signifikanten Reduktion der Zahl der Staatsanwälte, diese im europäischen Vergleich enorm hoch, jedoch ineffizient auf die zentrale, regionale und lokale Ebene verteilt (ÖB 2.2019).

Nachdem unter Präsident Janukowitsch die von der Parlamentarischen Versammlung des Europarats eingemahnte Verfassungsreform jahrelang hinausgezögert wurde, wurde von Präsident Poroschenko durch seinen im Juli 2014 vorgelegten Gesetzesentwurf zur Änderung der ukrainischen Verfassung ein neuer Impuls gesetzt. Die darin vorgesehenen Schritte zu dezentraleren Strukturen mit erweiterten Kompetenzen der gewählten Gemeinde- und Bezirksräte, nicht zuletzt im Hinblick auf die Verteilung und Verwaltung öffentlicher Mittel, dem Ausbau der regionalen Selbstverwaltung und der erstmaligen Verankerung des Prinzips der Subsidiarität, wurden von der Venedig-Kommission begrüßt. Jedoch gibt es für die Annahme der Verfassungsreform in zweiter Lesung derzeit keine Mehrheit im Parlament. Vor allem die verfassungsrechtliche Absicherung der im Rahmen des Minsk-Prozesses zur Beilegung des Konflikts in der Ostukraine festgelegten Dezentralisierung steht unter starker Kritik einiger Parteien, weil diese eine "Ermächtigungsklausel" zur Schaffung eines Gesetzes über den Sonderstatus des Donbasss enthält. In der Praxis wurden jedoch bereits Erfolge bei der finanziellen Dezentralisierung erzielt, sowie zahlreiche Gemeinden zusammengelegt, die dadurch mit mehr finanziellen Mittel ausgestattet sind und effizienter arbeiten können. Ohne eine verfassungsmäßige Absicherung der Dezentralisierungsreform bleibt diese jedoch vorerst weiterhin unvollendet (ÖB 2.2019).

Die jüngsten Reforminitiativen bleiben hinter den Erwartungen zurück, werden aber fortgesetzt (FH 4.2.2019).

Quellen: - FH - Freedom House (4.2.2019): Freedom in the World 2019 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002619.html, Zugriff 24.4.2019 - ÖB - Österreichische Botschaften (2.2019): Asylländerbericht Ukraine, https://www.ecoi.net/en/file/local/2003113/UKRA_%C3%96B-Bericht_2018.doc, Zugriff 11.4.2019 - USDOS - US Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004269.html, Zugriff 29.3.2019

5. Sicherheitsbehörden

Die Sicherheitsbehörden unterstehen generell effektiver ziviler Kontrolle. Die Sicherheitskräfte verhindern oder reagieren im Allgemeinen auf gesellschaftliche Gewalt. Zuweilen wenden sie jedoch selbst übermäßige Gewalt an, um Proteste aufzulösen, oder verabsäumen es in einzelnen Fällen, Opfer vor Belästigung oder Gewalt zu schützen (z.B. im Falle der Zerstörung eines RomaCamps durch Nationalisten, gegen die die Polizei nicht einschritt). Der ukrainischen Regierung gelingt es meist nicht, Beamte, die Verfehlungen begangen haben, strafrechtlich zu verfolgen oder zu bestrafen (USDOS 13.3.2019).

Das sichtbarste Ergebnis der ukrainischen Polizeireform ist die Gründung der Nationalen Polizei nach europäischen Standards, mit starker Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, als von der Politik grundsätzlich unabhängiges Exekutivorgan, die im Juli 2015 in vorerst 32 Städten ihre Tätigkeit aufnahm. Mit November 2015 ersetzte die Nationale Polizei offiziell die bestehende und aufgrund von schweren Korruptionsproblemen in der Bevölkerung stark diskreditierte "Militsiya". Alle Mitglieder der Militsiya hatten grundsätzlich die Möglichkeit, in die neue Truppe aufgenommen zu werden, mussten hierfür jedoch einen "Re-Attestierungsprozess" samt umfangreichen Schulungsmaßnahmen und Integritätsprüfungen durchlaufen. Im Oktober 2016 verkündete die damalige Leiterin der Nationalen Polizei den erfolgreichen Abschluss dieses Prozesses, in dessen Zuge 26% der Polizeikommandanten im ganzen Land entlassen, 4.400 Polizisten befördert und im Gegenzug 4.400 herabgestuft wurden. Zentrale Figur der Polizeireform war die ehemalige georgische Innenministerin Khatia Dekanoidze, die jedoch am 14. November 2016 aufgrund des von ihr bemängelnden Reformfortschrittes, zurücktrat. Zu ihrem Nachfolger wurde, nach einem laut Einschätzung der EU Advisory Mission (EUAM) offenen und transparenten Verfahren, im Feber 2017 Serhii Knyazev bestellt. Das Gesetz "Über die Nationalpolizei" sieht eine Gewaltenteilung zwischen dem Innenminister und dem Leiter der Nationalen Polizei vor. Der Innenminister ist ausschließlich für die staatliche Politik im Rechtswesen zuständig, der Leiter der Nationalen Polizei konkret für die Polizei. Dieses europäische Modell soll den Einfluss des Ministers auf die operative Arbeit der Polizei verringern. Dem Innenministerium unterstehen seit der Reform auch der Staatliche Grenzdienst, der Katastrophendienst, die Nationalgarde und der Staatliche Migrationsdienst. Festzustellen ist, dass der Innenminister in der Praxis immer noch die Arbeit der Polizei beeinflusst und die Reform somit noch nicht vollständig umgesetzt ist. Das nach dem Abgang von Katia Dekanoidze befürchtete Zurückrollen diverser erzielter Reformen, ist laut Einschätzung der EUAM, jedenfalls nicht eingetreten. Das im Juni 2017 gestartete Projekt "Detektive" - Schaffung polizeilicher Ermittler/Zusammenlegung der Funktionen von Ermittlern und operativen Polizeieinsatzkräften, spielt in den Reformen ebenfalls eine wichtige Rolle. Wie in westeuropäischen Staaten bereits seit langem praktiziert, soll damit ein- und derselbe Ermittler für die Erhebung einer Straftat, die Beweisaufnahme bis zur Vorlage an die Staatsanwaltschaft zuständig sein. Bislang sind in der Ukraine, wie zu Sowjetzeiten, immer noch die operative Polizei für die Beweisaufnahme und die Ermittler für die Einreichung bei Gericht zuständig. Etwas zögerlich wurde auch die Schaffung eines "Staatlichen Ermittlungsbüros (SBI)" auf den Weg gebracht und mit November 2017 ein Direktor ernannt. Das SBI hat die Aufgabe, vorgerichtliche Erhebungen gegen hochrangige Vertreter der Staates, Richter, Polizeikräfte und Militärangehörige durchzuführen, sofern diese nicht in die Zuständigkeit des Nationalen Antikorruptions-Büros (NABU) fallen. Die Auswahl der Mitarbeiter ist jedoch noch nicht abgeschlossen. Mit Unterstützung der EU Advisory Mission (EUAM) wurde 2018 auch eine "Strategie des Innenministeriums bis 2020" sowie

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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