Entscheidungsdatum
12.03.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W238 2174292-1/21E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Claudia MARIK über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX alias XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch Dr. Martin DELLASEGA und Dr. Max KAPFERER Rechtsanwälte, Schmerlingstraße 2/2, 6020 Innsbruck, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 26.09.2017, Zahl XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 02.12.2019 zu Recht erkannt:
A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B) Die ordentliche Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE :
I. Verfahrensgang:
1. Der nunmehrige Beschwerdeführer stellte am 07.11.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
2. Bei seiner Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am selben Tag gab der - damals ca. 16-jährige - Beschwerdeführer zusammengefasst an, dass er afghanischer Staatsangehöriger sowie Angehöriger der Volksgruppe der Hazara schiitisch-muslimischen Glaubens sei. Seine Muttersprache sei Dari. Er sei in Kabul geboren worden, habe aber zuletzt in Pakistan bei seinen Großeltern gelebt. Er habe keine Schule besucht. Als Fluchtgrund gab er an, dass seine Eltern getötet worden seien. Seine Großeltern hätten Angst um sein Leben gehabt, weshalb er Pakistan verlassen habe.
3. Anlässlich der am 09.08.2017 im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari und einer Vertrauensperson durchgeführten Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Tirol (im Folgenden: BFA), wiederholte der - mittlerweile volljährige - Beschwerdeführer seine Angaben hinsichtlich Staatsangehörigkeit, Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, Geburtsort, Muttersprache und Familienstand. Weiters bekräftigte er, dass er nach dem Tod seiner Eltern mit seinen Großeltern in Pakistan (zuletzt Quetta) gelebt habe. Sein Großvater sei bereits verstorben. Seine Geschwister würden sich in Pakistan (bei der Großmutter) und im Iran (bei einer Tante) aufhalten. Seit dem Verlust seines Telefons habe er keinen Kontakt mehr zu seiner Familie. In Afghanistan habe er keine Angehörigen. Er habe keine Schule besucht, sondern zu Hause und in der Moschee gelernt. Er habe in Pakistan ca. zwei Jahre zu Hause die Tätigkeit als Teppichknüpfer ausgeübt. Er sei gesund. Als Grund der Ausreise aus Afghanistan führte der Beschwerdeführer an, seine Großeltern und Tanten hätten ihn im Alter von fünf Jahren nach Pakistan mitgenommen, weil seine Eltern in Kabul von Taliban ermordet worden seien. In Pakistan habe er kaum hinausgehen dürfen, weil seine Großeltern befürchtet hätten, dass auch ihm etwas zustoßen könnte. Ihm sei erzählt worden, dass seine Mutter studiert und als Journalistin gearbeitet habe. Sie sei auch ohne Kopftuch auf die Straße gegangen und habe Warnungen erhalten. Sein Vater sei Tagelöhner gewesen. Pakistan habe er verlassen, weil er keine Arbeit gehabt habe. Zudem würden Hazara in Pakistan getötet. Er habe sich frei bewegen wollen. Seine Großeltern hätten den Beschwerdeführer daraufhin in den Iran zu seiner Tante schickt, als der Beschwerdeführer 14 Jahre alt gewesen sei. Seine Tante sei zu diesem Zeitpunkt aber nicht mehr im Iran gewesen, weshalb der Beschwerdeführer weiter in die Türkei gereist sei, wo er sich etwa eineinhalb Jahre aufgehalten habe. Als er in Österreich angekommen sei, habe er seine Tante und deren Kinder gefunden. Auf Nachfrage gab er an, selbst nie bedroht worden zu sein. Er fürchte, von Taliban getötet zu werden, weil er einer Familie angehöre, die sich damals frei in Afghanistan bewegt habe. Der Beschwerdeführer schilderte seine Integrationsbemühungen in Österreich und legte Unterlagen zum Beweis seiner Integration vor.
4. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des BFA vom 26.09.2017 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan gemäß 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt III.). Schließlich wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkt IV.).
5. Gegen diesen Bescheid richtet sich die fristgerecht erhobene Beschwerde. Darin wurde vorgebracht, dass die belangte Behörde eine unzureichende Beweiswürdigung vorgenommen und insbesondere die Situation von schiitischen Hazara, die Afghanistan im Kleinkindalter verlassen hätten, unberücksichtigt gelassen habe. Die Behörde habe keine aktuellen Länderberichte herangezogen. Schiiten/Hazara würden landesweit von Taliban verfolgt werden, weshalb dem Beschwerdeführer im Falle der Rückkehr Verfolgung wegen seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit drohe. Die Sicherheitslage in ganz Afghanistan, insbesondere auch in Kabul, sei volatil. Auch habe der Beschwerdeführer keinerlei Anknüpfungspunkte in Afghanistan. Sein Vorbringen zum Familienleben sei von der Behörde nicht richtig gewürdigt worden. Der Beschwerdeführer habe eine Lehrstelle in Aussicht, spreche gut Deutsch, sei unbescholten und habe Afghanistan bereits als Kind verlassen. Er sei hervorragend in Österreich integriert.
6. Die Beschwerde und der Verwaltungsakt langten am 23.10.2017 beim Bundesverwaltungsgericht ein.
7. Der Beschwerdeführer reichte weitere Integrationsunterlagen nach.
8. Am 02.12.2019 führte das Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an welcher der Beschwerdeführer und seine Rechtsvertreterin teilnahmen und der ein Dolmetscher für die Sprache Dari beigezogen wurde. Die Unterkunftgeberin des Beschwerdeführers wurde vom Gericht als Zeugin einvernommen. Ein Vertreter der belangten Behörde nahm nicht an der Verhandlung teil. Das Verhandlungsprotokoll wurde dem BFA im Anschluss an die Verhandlung übermittelt.
Der Beschwerdeführer wurde vom erkennenden Gericht eingehend zu seiner Identität, Herkunft, zu den persönlichen Lebensumständen, zu seinen Fluchtgründen sowie zu seinem Privat- und Familienleben in Österreich befragt. Im Zuge der Verhandlung wurden vom Gericht auch die Berichte über die allgemeine Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers in das Verfahren eingebracht. Die Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers erstattete im Rahmen der Verhandlung eine mündliche Stellungnahme (lediglich) zu den Fluchtgründen und zur Integration des Beschwerdeführers. Der Beschwerdeführer legte weitere Unterlagen vor.
9. Im Anschluss an die Verhandlung wurde seitens der Rechtsvertretung eine schriftliche Stellungnahme zur Lage im Herkunftsstaat erstattet.
10. Der belangten Behörde wurde dazu Parteiengehör eingeräumt, von dem sie keinen Gebrauch machte.
11. Nach Inkrafttreten des § 55a FPG idF BGBl. I. Nr. 110/2019 wurde dem Beschwerdeführer das vom BFA erstellte Merkblatt für Asylwerner-Lehrlinge und deren Lehrberechtigte übermittelt.
12. Über Aufforderung des Bundesverwaltungsgerichtes teilte die belangte Behörde am 15.01.2020 mit, dass der Beschwerdeführer in den Anwendungsbereich des § 55a FPG falle. Die Mitteilung des Beschwerdeführers sei am 13.01.2020 rechtzeitig unter Anschluss des Lehrvertrags beim BFA eingelangt. Das Verfahren sei derzeit beim Bundesverwaltungsgericht anhängig. Das Lehrverhältnis in einem anerkannten Lehrberuf nach dem BAG sei bereits vor Inkrafttreten des § 55a FPG entstanden und nach wie vor aufrecht. Der Beschwerdeführer sei nicht straffällig geworden. Es gebe auch keine Hinweise auf eine Identitätstäuschung.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zu Person, Fluchtgründen, Rückkehrmöglichkeit und (Privat-)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:
1.1.1. Der Beschwerdeführer führt den im Spruch dieses Erkenntnisses enthaltenen Namen, ist afghanischer Staatsangehöriger und Angehöriger der Volksgruppe der Hazara. Seine Muttersprache ist Dari. Er verfügt auch über Sprachkenntnisse in Englisch (Niveau A2) und Deutsch (Niveau B1).
Der Beschwerdeführer ist schiitischer Moslem.
Er wurde zwischen XXXX und XXXX in Afghanistan, Provinz Kabul, Stadt Kabul, Ortschaft XXXX geboren. Im Alter von fünf Jahren reiste er mit seinen Großeltern nach Pakistan aus. Er hielt sich eine Woche in Peshawar, ein Jahr in Karachi und anschließend bis zum Jahr 2013 in Quetta auf. Dann reiste er über den Iran und die Türkei, wo er ca. eineinhalb Jahre blieb, im Jahr 2015 weiter nach Europa.
Der Beschwerdeführer stellte am 07.11.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
1.1.2. Der Beschwerdeführer begründete seinen Antrag auf internationalen Schutz im Zuge der Erstbefragung mit der Ermordung seiner Eltern in Afghanistan.
Anlässlich der Einvernahme vor dem BFA brachte er vor, er habe von seinen Verwandten erfahren, dass seine Eltern in Kabul von Taliban getötet worden seien. Seine Mutter habe studiert und als Journalistin gearbeitet; sie sei auch ohne Kopftuch auf die Straße gegangen und habe vor ihrem Tod Warnungen erhalten. Er selbst sei nie bedroht worden, fürchte aber, ebenfalls von Taliban getötet zu werden, weil er einer Familie angehöre, die sich damals frei in Afghanistan bewegt habe.
In der Beschwerde wurde vorgebracht, dass Schiiten/Hazara in Afghanistan landesweit von Taliban verfolgt würden.
In der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht wurde geltend gemacht, dass der Beschwerdeführer als Rückkehrer aus Europa wegen der Anpassung an die österreichische Gesellschaft und seiner "westlichen Orientierung" sowie wegen seiner "offen gelebten" Beziehung zu einer Afghanin die Unterstellung einer oppositionellen politischen ("westlichen") bzw. unislamischen Gesinnung in Afghanistan zu gewärtigen habe.
Schließlich wurde seitens der Rechtsvertretung vorgebracht, dass dem Beschwerdeführer in Zusammenschau seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit mit den sonstigen personenbezogenen Umständen asylrelevante Verfolgung drohe.
Zu den vorgebrachten Fluchtgründen wird vom erkennenden Gericht im Einzelnen Folgendes festgestellt:
Weder war der Beschwerdeführer im Herkunftsstaat einer individuellen gegen ihn gerichteten Verfolgung ausgesetzt noch wäre er im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan - etwa in Zusammenhang mit dem Tod seiner Eltern bzw. mit der Berufsausübung und dem Auftreten seiner Mutter - einer solchen ausgesetzt.
Die Mutter des Beschwerdeführers war in Kabul als Journalistin tätig. Sie ging auch ohne Kopftuch außer Haus. Der Vater des Beschwerdeführers war Arbeiter.
Als der Beschwerdeführer ca. fünf Jahre alt war, wurden seine Eltern in Kabul getötet. Seine Großeltern reisten daraufhin mit dem Beschwerdeführer und seinen Geschwistern nach Pakistan aus.
Von wem, unter welchen Umständen und aus welchem Grund die Eltern des Beschwerdeführers getötet wurden, kann nicht festgestellt werden. Ob die Gewalttat gezielt und aus asylrelevanten Motiven, etwa wegen der beruflichen Tätigkeit der Mutter oder ihres Auftretens in der Öffentlichkeit, ausgeführt wurde, kann ebenso wenig festgestellt werden.
Der Beschwerdeführer hat allfällige Feinde seiner Eltern nie gesehen bzw. kennengelernt.
Dem Beschwerdeführer würde im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan im Zusammenhang mit dem zumindest 16 Jahre zurückliegenden Tod seiner Eltern oder mit der beruflichen Tätigkeit und Lebensweise seiner Mutter nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit und Aktualität Verfolgung (von staatlichen oder nichtstaatlichen Akteuren) drohen.
Auch der Mord eines Onkels in der Provinz Maidan Wardak wegen Geldes weist keinerlei Zusammenhang mit dem Beschwerdeführer auf.
Weiters wird nicht festgestellt, dass der Beschwerdeführer aufgrund der Tatsache, dass er seit November 2015 in Europa lebt und seit Mai 2018 eine Beziehung mit seiner Cousine führt, im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan psychischer und/oder physischer Gewalt oder anderen erheblichen Eingriffen ausgesetzt wäre. Er hat keine "westliche Lebenseinstellung" als wesentlichen Bestandteil seiner Identität angenommen, welche im Widerspruch zur Gesellschaftsordnung in Afghanistan steht. Eine solche würde ihm auch nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit unterstellt werden.
Der Beschwerdeführer wuchs die ersten fünf Lebensjahre in Afghanistan eingebettet in den afghanischen Familienverband als Angehöriger der muslimischen Religion auf und lebte anschließend bis 2013 mit seinen Großeltern im islamisch geprägten Pakistan, hält sich allerdings gegenwärtig nicht an alle Vorgaben der islamischen Religion, etwa das Verbot von Alkohol und Schweinefleisch. Der Beschwerdeführer hat sich jedoch nicht aus tiefer innerer Überzeugung vom Islam abgewendet und dies auch nie öffentlich zum Ausdruck gebracht. Er ist weder religionsfeindlich noch jemals spezifisch gegen den Islam aufgetreten. Der Beschwerdeführer hat sich auch nicht aktiv einer neuen religiösen Überzeugung zugewendet. Kurzfristig zeigte er Interesse am christlichen Glauben, besuchte den katholischen Religionsunterricht und gelegentlich einen Gottesdienst, er bekennt sich aktuell aber weiterhin zur Glaubensrichtung des schiitischen Islam.
Schließlich kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer ohne Hinzutreten weiterer wesentlicher individueller Merkmale mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine gegen ihn gerichtete Verfolgung oder Bedrohung durch staatliche Organe oder (von staatlichen Organen geduldet:) durch Private, sei es vor dem Hintergrund seiner ethnischen Zugehörigkeit (Hazara), seiner Religion (schiitischer Islam), Nationalität (Afghanistan), Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung zu erwarten hätte.
Auch die Kumulierung verschiedener Merkmale (Hazara, schiitischer Moslem, Rückkehrer aus Pakistan, Sozialisierung außerhalb Afghanistans, Fehlen eines sozialen Netzwerks) begründet kein Rückkehrhindernis (vgl. dazu die nachfolgenden rechtlichen Ausführungen).
Der Beschwerdeführer ist in Afghanistan weder vorbestraft noch wurde er dort jemals inhaftiert und hatte auch mit den Behörden des Herkunftsstaates keine Probleme. Der Beschwerdeführer war nie politisch tätig und gehörte nie einer politischen Partei an. Es gibt insgesamt keinen stichhaltigen Hinweis, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan einer (asylrelevanten) Verfolgung ausgesetzt wäre.
1.1.3. Der Beschwerdeführer ist jung, arbeitsfähig und gesund.
Er besuchte in Pakistan keine Schule. Nachbarskinder, welche die Schule besuchten, brachten ihm das Schreiben und Lesen bei.
In Pakistan arbeitete der Beschwerdeführer bis zu seiner Ausreise im Jahr 2013 zwei Jahre (im Alter von ca. 14 bis 15 Jahren) als Teppichknüpfer. In der Türkei pflückte er Äpfel. In Österreich absolviert er seit 12.02.2018 eine Lehre als Koch.
Eine Schwester und ein Bruder des Beschwerdeführers leben bei der Großmutter in Pakistan. Die andere Schwester des Beschwerdeführers lebt im Iran. Der Beschwerdeführer hat derzeit keinen Kontakt zu seiner Familie.
Dem Beschwerdeführer ist eine Rückkehr in seine Herkunftsprovinz Kabul, insbesondere in die relativ sichere Stadt Kabul, möglich. Der Beschwerdeführer kann sich im Rückkehrfall stattdessen aber auch in einer der relativ sicheren Städte Herat oder Mazar-e Sharif niederlassen und mittelfristig dort eine Existenz aufbauen.
Er ist mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates und einer in Afghanistan gesprochenen Sprache (Dari) vertraut und wuchs in einem afghanischen Familienverband auf. Nach seiner Ausreise aus Afghanistan im Alter von fünf Jahren lebte der Beschwerdeführer in Pakistan weiterhin nach afghanischen Traditionen im Kreis der verbliebenen Familie (Großeltern und Geschwister). Der Beschwerdeführer lebte zwar nie in Herat oder Mazar-e Sharif und verfügt dort (sowie in Kabul) auch über keine familiären Anknüpfungspunkte. Angesichts seiner Schreib- und Lesekompetenz, seiner Sprachkenntnisse (Dari, Englisch, Deutsch), der in Österreich erlangten Fähigkeiten und Kenntnisse, seiner uneingeschränkten Arbeitsfähigkeit und seiner als Teppichknüpfer, bei der Obsternte sowie im Zuge der seit 12.02.2018 in Österreich absolvierten Lehre als Koch gewonnenen beruflichen Erfahrungen könnte sich der Beschwerdeführer dennoch sowohl in Kabul als auch in Herat und Mazar-e Sharif eine Existenz aufbauen und diese zumindest anfänglich mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern. Ihm wäre der Aufbau einer Existenzgrundlage in Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif möglich. Er ist in der Lage, in Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif eine einfache Unterkunft zu finden. Er kann im Falle der Rückkehr - zumindest geringfügige - finanzielle Unterstützung seiner in Österreich lebenden Tante erwarten. Er hat weiters die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form der Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen. Er kann die Städte Kabul sowie Herat und Mazar-e Sharif auf dem Luftweg (via Kabul) sicher erreichen.
1.1.4. Der Beschwerdeführer ist ledig (verlobt) und kinderlos. Er hat Familie in Pakistan und im Iran.
In Österreich hat der Beschwerdeführer eine Tante, zwei Cousins und zwei Cousinen, die Asylberechtigte sind. Die Tante und drei ihrer Kinder leben in Tirol. Eine verheiratete Cousine des Beschwerdeführers lebt in Kärnten.
Der Beschwerdeführer trifft seine in Tirol lebenden Angehörigen vier- bis fünfmal pro Woche. Sie kochen und essen gemeinsam, gehen abends aus und unternehmen miteinander diverse Freizeitaktivitäten (z.B. eislaufen, rodeln, schwimmen). Der Beschwerdeführer und seine Verwandten verbrachten dieses Jahr gemeinsam ein Wochenende in Eisenstadt. Er ist von seinen Angehörigen weder finanziell noch sonst abhängig.
Der Beschwerdeführer ist seit Mai 2018 mit einer seiner Cousinen verlobt. Er beabsichtigt, nach dem Abschluss der Lehre zu heiraten und mit seiner Cousine zusammenzuwohnen. Derzeit übernachten beide gelegentlich in der Wohnung des Beschwerdeführers oder seiner Tante. Abgesehen von den bereits geschilderten gemeinsamen Aktivitäten telefoniert der Beschwerdeführer regelmäßig mit seiner Freundin oder sie treffen einander und unternehmen etwas gemeinsam.
Der Beschwerdeführer verfügt auch über freundschaftliche Kontakte zu österreichischen Privatpersonen und brachte zahlreiche Unterstützungsschreiben von Freunden und Bekannten in Vorlage. Hervorzuheben ist hierbei etwa die Freundschaft des Beschwerdeführers mit seiner Unterkunftgeberin und deren Familie. Der Beschwerdeführer lernte zuerst die Tochter seiner Unterkunftgeberin kennen, die ihren Eltern empfahl, den Beschwerdeführer nach Eintritt der Volljährigkeit bei sich aufzunehmen. Seit Ende 2016 wohnt der Beschwerdeführer in einer Einliegerwohnung des Hauses der Unterkunftgeberin. Er darf auch den Garten benützen und Gemüse ernten. Die Unterkunftgeberin hat den Beschwerdeführer in ihre Familie aufgenommen und begleitet ihn bei seiner Ausbildung. Dem Beschwerdeführer wurde von seinen Unterkunftsgebern ein Arbeitsvorvertrag angeboten und ermöglicht, das Zertifikat "CNC-Maschinenbediener" zu erlangen. Der Beschwerdeführer feiert auch Geburtstage und Weihnachten mit der Familie der Unterkunftgeberin oder sie unternehmen gemeinsam etwas.
In einem weiteren Unterstützungsschreiben wird ebenfalls ein enges freundschaftliches Verhältnis des Beschwerdeführers zu einer österreichischen Familie beschrieben.
Der Beschwerdeführer absolviert seit 12.02.2018 eine Lehre als Koch bei der XXXX GmbH. Er erhält eine Lehrlingsentschädigung in Höhe von monatlich EUR 800 sowie eine Lehrlingsentschädigung von EUR 100; er ist selbsterhaltungsfähig. Der Dienstgeber äußerte im Rahmen eines Unterstützungsschreibens den Wunsch, den Beschwerdeführer nach Beendigung der Lehrzeit in ein dauerhaftes Dienstverhältnis zu übernehmen. Der Betriebsrat des Dienstgebers beschreibt den Beschwerdeführer als ausgezeichneten Mitarbeiter.
Weiters legte der Beschwerdeführer einen Arbeitsvorvertrag mit der XXXX GmbH vor, welche von der Unterkunftgeberin des Beschwerdeführers und ihrem Mann geführt wird.
Der Beschwerdeführer nutzte in Österreich zahlreiche Bildungsangebote:
Er besuchte zunächst ein Oberstufenrealgymnasium. Derzeit ist er Schüler einer Fachberufsschule für Tourismus. Er erlangte das Zertifikat "CNC-Maschinenbediener". Er absolvierte zwei Semester den Kurs "Pflichtschulabschluss für Erwachsene" und legte bislang vier von sechs Prüfungen erfolgreich ab. Weiters nahm er an der Übungsleiterausbildung Inklusionssport teil. Er legte beim BFI Prüfungen betreffend Deutsch-Kommunikation und Gesellschaft, Englisch-Globalität und Transkulturalität sowie Natur und Technik ab. Er nahm an einem Lehrlingswettbewerb sowie am Projekt " XXXX " teil. Als Vorbereitung für die Lehrstelle erhielt er ein Jahr Unterricht in Deutsch, Mathematik, EDV und Englisch sowie in österreichischer Geschichte. Zusätzlich erhält er privaten Unterricht in Mathematik und den Fächern der Berufsschule.
Des Weiteren absolvierte der Beschwerdeführer Deutschkurse und legte Nachweise bestandener Deutschprüfungen auf Niveau A1, A2 und B1 vor. Er nahm auch an einem Deutschkurs B2 teil, bestand aber die Prüfung nicht. Zum Zeitpunkt der Verhandlung wies der Beschwerdeführer gute Deutschkenntnisse auf.
Der Beschwerdeführer ist Mitglied in einem Eislaufverein und absolvierte in diesem Rahmen im Herbst 2017 den Übungsleiterkurs für Inklusionssport. Er wirkt an Veranstaltungen des Vereins mit und nimmt am Ende der Saison auch an der jährlichen Abschiedsfeier teil, bei der er bei den Vorbereitungsarbeiten hilft und die Kinder betreut. Im Rahmen des Schaulaufens führt auch der Beschwerdeführer einen Tanz auf dem Eis zu Musik aus. Einmal im Jahr hilft der Beschwerdeführer ehrenamtlich bei der Großveranstaltung " XXXX ".
Der Beschwerdeführer besucht auch Veranstaltungen des Vereins zur Förderung der Alltagskultur ( XXXX ). Im Jahr 2016 reinigte er für das Österreichische Rote Kreuz Dienstfahrzeuge. Er nahm an einer Flurreinigungsaktion der Gemeinde XXXX teil.
Zwar hielt sich der Beschwerdeführer nur die ersten fünf Jahre seines Lebens im Herkunftsstaat auf. Dennoch ist seine Bindung zu Afghanistan - insbesondere auch unter dem Aspekt seiner Sozialisierung in einem afghanischen Familienverband, seiner Muttersprache Dari und der daraus abgeleiteten Verbundenheit mit der afghanischen Kultur, der Beibehaltung afghanischer Traditionen während des Aufenthalts mit seinen Großeltern und Geschwistern in Pakistan bis zum Jahr 2013 sowie der auch in Österreich bestehenden Rückbindung an die afghanische Kultur durch seine hier aufhältigen Verwandten - deutlich intensiver als jene zu Österreich. Der Beschwerdeführer hält sich seit seiner Asylantragstellung am 07.11.2015 im Bundesgebiet auf.
Der Beschwerdeführer ist zum Zeitpunkt dieser Entscheidung strafgerichtlich unbescholten.
1.2. Zur Lage in Afghanistan
1.2.1. Betreffend die Lage in Afghanistan werden die im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan vom 13.11.2019, die in den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs Afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 sowie die in Berichten von EASO - EASO Country Guidance Afghanistan von Juni 2018 und Juni 2019, EASO Afghanistan Security Situation von Juni 2019, EASO Country of Origin Information Report Afghanistan Key socio-economic indicators Focus on Kabul City, Mazar-e Sharif and Herat City von April 2019 - enthaltenen Informationen wie folgt auszugsweise festgestellt:
Sicherheitslage:
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (LIB 13.11.2019, S. 12).
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (LIB 13.11.2019, S. 18). Diese ist jedoch regional und sogar innerhalb der Provinzen von Distrikt zu Distrikt sehr unterschiedlich (EASO Country Guidance Afghanistan, Juni 2019, S. 89ff; LIB 13.11.2019, S. 18ff).
Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung. Die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, sodass Engpässe entstehen. Dadurch können manchmal auch Kräfte fehlen um Territorium zu halten. Die Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau (LIB 13.11.2019, S. 19).
Für das gesamte Jahr 2018 gab es gegenüber 2017 einen Anstieg in der Gesamtzahl ziviler Opfer und ziviler Todesfälle. Für das erste Halbjahr 2019 wurde eine niedrigere Anzahl ziviler Opfer registrierten, im Juli, August und September lag ein hohes Gewaltniveau vor. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren 2018 am stärksten vom Konflikt betroffen (LIB 13.11.2019, S. 24).
Sowohl im gesamten Jahr 2018, als auch in den ersten fünf Monaten 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion, weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele (High Profile Angiffe - HPA) aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen. Diese Angriffe sind jedoch stetig zurückgegangen. Zwischen 1.6.2018 und 30.11.2018 fanden 59 HPAs in Kabul statt, zwischen 1.12.2018 und 15.5.2019 waren es 6 HPAs (LIB 13.11.2019, S. 25).
Regierungsfeindliche Gruppierungen
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB 13.11.2019, S. 26).
Taliban
Zwischen 1.12.2018 und 31.5.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zum Ziel - die Taliban beschränken ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte (LIB 13.11.2019, S. 26; S. 29).
Die Gesamtstärke der Taliban betrug im Jahr 2017 über 200.000 Personen, darunter ca. 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan (LIB 13.11.2019, S. 27).
Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten bestehen die Taliban bereits überwiegend aus Nicht-Paschtunen, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB 13.11.2019, S. 27).
Haqani-Netzwerk
Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida. Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt und ist für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich (LIB 13.11.2019, S. 27).
Islamischer Staat (IS/DaesH) - Islamischer Staat Khorasan Provinz
Die Stärke des ISKP variiert zwischen 1.500 und 3.000, bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern bzw. ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Der IS ist seit Sommer 2014 in Afghanistan aktiv. Durch Partnerschaften mit militanten Gruppen konnte der IS seine organisatorischen Kapazitäten sowohl in Afghanistan als auch in Pakistan stärken. Er ist vor allem im Osten des Landes in der Provinz Nangarhar präsent (LIB 13.11.2019, S. 27f).
Neben komplexen Angriffen auf Regierungsziele, verübte der ISKP zahlreiche groß angelegte Anschläge gegen Zivilisten, insbesondere auf die schiitische-Minderheit. Die Zahl der zivilen Opfer durch ISKP-Handlungen hat sich dabei 2018 gegenüber 2017 mehr als verdoppelt, nahm im ersten Halbjahr 2019 allerdings wieder ab. Die Taliban und der IS sind verfeindet. Während die Taliban ihre Angriffe überwiegend auf Regierungszeile bzw. Sicherheitskräfte beschränken, zielt der IS darauf ab konfessionelle Gewalt zu fördern und Schiiten anzugreifen (LIB 13.11.2019, S. 29).
Al-Qaida
Al-Qaida sieht Afghanistan auch weiterhin als sichere Zufluchtsstätte für ihre Führung, basierend auf langjährigen und engen Beziehungen zu den Taliban. Al-Qaida will die Präsenz in der Provinz Badakhshan stärken, insbesondere im Distrikt Shighnan, der an der Grenze zu Tadschikistan liegt, aber auch in der Provinz Paktika, Distrikt Barmal, wird versucht die Präsenz auszubauen (LIB 13.11.2019, S. 29).
Sicherheitsbehörden
Die afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF - Afghan National Defense and Security Forces) umfassen militärische, polizeiliche und andere Sicherheitskräfte. Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police) (LIB 13.11.2019, S. 249).
Die Afghanische Nationalarmee (ANA) ist für die externe Sicherheit verantwortlich, dennoch besteht ihre Hauptaufgabe darin, den Aufstand im Land zu bekämpfen. Das Verteidigungsministerium hat die Stärke der ANA mit 227.374 autorisiert (LIB 13.11.2019, S. 250). Die Afghan National Police (ANP) gewährleistet die zivile Ordnung und bekämpft Korruption sowie die Produktion und den Schmuggel von Drogen. Der Fokus der ANP liegt derzeit in der Bekämpfung von Aufständischen gemeinsam mit der ANA (LIB 13.11.2019, S. 250). Die Afghan Local Police (ALP) wird durch die USA finanziert und schützt die Bevölkerung in Dörfern und ländlichen Gebieten vor Angriffen durch Aufständische (LIB 13.11.2019, S. 251).
Kabul
Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans. Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Die Stadt Kabul ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, mit einer geschätzten Einwohnerzahl von 5.029.850 (LIB 13.11.2109, S. 36). Kabul ist Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt (LIB 13.11.2109, S. 38). Die Stadt Kabul ist über Hauptstraßen mit den anderen Provinzen des Landes verbunden und verfügt über einen internationalen Flughafen (LIB 13.11.2109, S. 37; S. 237).
Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul. Nichtsdestotrotz, führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, im gesamten Jahr 2018, als auch in den ersten fünf Monaten 2019, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele durch, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen. Die Hauptursache für zivile Opfer in der Provinz Kabul (596 Tote und 1.270 Verletzte im Jahr 2018) waren Selbstmord- und komplexe Angriffe, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs) und gezielten Tötungen (LIB 13.11.2019, S. 38ff).
In Kabul leben 70.000 bis 80.000 Binnenvertriebene (LIB 13.11.219, S. 41).
Kabul ist das wichtigste Handels- und Beschäftigungszentrum Afghanistans und hat ein größeres Einzugsgebiet in den Provinzen Parwan, Logar und Wardak. Es gibt eine dynamischere Wirtschaft mit einem geringeren Anteil an Arbeitssuchenden, Selbständigen und Familienarbeitern. Menschen aus kleinen Dörfern pendeln täglich oder wöchentlich nach Kabul, um landwirtschaftliche Produkte zu handeln oder als Wachen, Hausangestellte oder Lohnarbeiter zu arbeiten. Die besten (Arbeits-)Möglichkeiten für Junge existieren in Kabul. Trotz der niedrigeren Erwerbsquoten ist der Frauenanteil in hoch qualifizierten Berufen in Kabul (49,6 %) am größten (LIB 13.11.2109, S. 335f).
Balkh
Die Provinzhauptstadt von Balkh ist Mazar-e Sharif. Die Provinz Balkh liegt im Norden Afghanistan und ist eine ethnisch vielfältige Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird. Es leben 1.475.649 Personen in der Provinz Balkh, davon geschätzte 469.247 in Mazar-e Sharif (LIB 13.11.2019, S. 61).
Balkh zählt zu den relativ stabilen und ruhigen Provinzen Nordafghanistans, in welcher die Taliban in der Vergangenheit keinen Fuß fassen konnten. In den letzten Monaten versuchten Aufständische der Taliban die Provinz Balkh aus benachbarten Regionen zu infiltrieren (LIB 13.11.2019, S. 62). Im Jahr 2018 227 zivile Opfer (85 Tote und 142 Verletzte) in Balkh dokumentiert. Dies entspricht einer Steigerung von 76% gegenüber 2017. Die Hauptursache für die Opfer waren Bodenkämpfe, gefolgt von improvisierten Bomben (IEDS; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen (LIB 13.11.2019, S. 63). Das Niveau an willkürlicher Gewalt ist in der Provinz Balkh sowie in der Stadt Mazar-e Sharif so gering, dass für Zivilisten an sich nicht die Gefahr besteht von erheblichen Eingriffen in die psychische oder physische Unversehrtheit betroffen zu sein (EASO - Country Guidance Afghanistan, Juni 2019, S. 89; S. 92f).
Mazar-e Sharif ist ein Import-/Exportdrehkreuz, ein regionales Handelszentrum sowie ein Industriezentrum mit großen Fertigungsbetrieben und einer Vielzahl von kleinen und mittleren Unternehmen. Mazar-e Sharif ist über die Autobahn sowie über einen Flughafen (mit nationalen und internationalen Anbindungen) zu erreichen (LIB 13.11.2019, S. 61; S. 336).
In der Stadt Mazar-e Sharif gibt es 10 - 15 - teils öffentliche, teils private - Krankenhäuser. In Mazar-e Sharif existieren mehr private als öffentliche Krankenhäuser. Private Krankenhäuser sind sehr teuer, jede Nacht ist kostenpflichtig. Zusätzlich existieren etwa 30-50 medizinische Gesundheitskliniken die zu 80% öffentlich finanziert sind (LIB 13.11.2019, S. 347).
Während Mazar-e Sharif im Zeitraum Juni 2019 bis September 2019 noch als IPC Stufe 1 "minimal" (IPC - Integrated Phase Classification) klassifiziert wurde, ist Mazar-e Sharif im Zeitraum Oktober 2019 bis Januar 2020 in Phase 2 "stressed" eingestuft. In Phase 1 sind die Haushalte in der Lage, den Bedarf an lebensnotwenigen Nahrungsmitteln und Nicht-Nahrungsmitteln zu decken, ohne atypische und unhaltbare Strategien für den Zugang zu Nahrung und Einkommen zu verfolgen. In Phase 2 weisen Haushalte nur einen gerade noch angemessenen Lebensmittelverbrauch auf und sind nicht in der Lage, sich wesentliche, nicht nahrungsbezogene Güter zu leisten, ohne dabei irreversible Bewältigungsstrategien anzuwenden (ACCORD, Sicherheitslage und sozio-ökonomische Lage in Herat und Mazar-e Sharif vom 02.10.2019).
Herat
Die Provinz Herat liegt im Westen Afghanistans und ist eine der größten Provinzen Afghanistans. Die Provinzhauptstadt von Herat ist Herat-Stadt (LIB 13.11.2019, S. 105). Die Provinz verfügt über 2.095.117 Einwohner, 556.205 davon in der Provinzhauptstadt. Die wichtigsten ethnischen Gruppen in der Provinz sind Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Turkmenen, Usbeken und Aimaqs, wobei Paschtunen in elf Grenzdistrikten die Mehrheit stellen. Umfangreiche Migrationsströme haben die ethnische Zusammensetzung der Stadt verändert, der Anteil an schiitischen Hazara ist seit 2001 durch Iran-Rückkehrer und Binnenvertriebene besonders gestiegen (LIB 13.11.2019, S. 106).
Herat ist durch die Ring-Road sowie durch einen Flughafen mit nationalen und internationalen Anbindungen erreichbar (LIB 13.11.2019, S. 106).
Herat gehört zu den relativ ruhigen Provinzen im Westen Afghanistans, jedoch sind Taliban-Kämpfer in einigen abgelegenen Distrikten aktiv und versuchen oft terroristische Aktivitäten. Je mehr man sich von Herat-Stadt (die als "sehr sicher" gilt) und den angrenzenden Distrikten Richtung Norden, Westen und Süden entfernt, desto größer wird der Einfluss der Taliban. In der Stadt Herat steigt die Kriminalität und Gesetzlosigkeit (LIB 13.11.2019, S. 106). Im Jahr 2018 gab es mit 259 zivile Opfer (95 Tote und 164 Verletzte) in Herat einen Rückgang von 48% gegenüber 2017. Die Hauptursache für die Opfer waren improvisierten Sprengkörper (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordanschläge), gefolgt von Kämpfen am Boden und gezielten Tötungen. Der volatilste Distrikt von Herat ist Shindand. Dort kommt es zu gewalttätigen Zusammenstößen zwischen rivalisierenden Taliban-Fraktionen, wie auch zwischen den Taliban und regierungsfreundlichen Kräften. Außerdem kommt es in unterschiedlichen Distrikten immer wieder zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen Taliban und Sicherheitskräften (LIB 13.11.2019, S. 108f). Das Niveau an willkürlicher Gewalt ist in der Stadt Herat so gering, dass für Zivilisten an sich nicht die Gefahr besteht von erheblichen Eingriffen in die psychische oder physische Unversehrtheit betroffen zu sein (EASO - Country Guidance Afghanistan, Juni 2019, S. 89, S. 99f).
Im Vergleich mit anderen Teilen des Landes weist Herat wirtschaftlich und sicherheitstechnisch relativ gute Bedingungen auf. Es gibt Arbeitsmöglichkeiten im Handel, darunter den Import und Export von Waren mit dem benachbarten Iran, wie auch im Bergbau und Produktion. Die Industrie der kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMUs) ist insbesondere im Handwerksbereich und in der Seiden- und Teppichproduktion gut entwickelt und beschäftigt Tagelöhner sowie kleine Unternehmer (LIB 13.11.2019, S. 336).
Herat ist im Zeitraum Oktober 2019 bis Januar 2020 als IPC Stufe 2 klassifiziert (IPC - Integrated Phase Classification). In Phase 2, auch "stressed" genannt, weisen Haushalte nur einen gerade noch angemessenen Lebensmittelverbrauch auf und sind nicht in der Lage, sich wesentlich, nicht nahrungsbezogenen Güter zu leisten, ohne dabei irreversible Bewältigungsstrategien anzuwenden (ACCORD, Sicherheitslage und sozio-ökonomische Lage in Herat und Mazar-e Sharif vom 02.10.2019, 3.1.).
Allgemeine Menschenrechtslage:
Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, die durch die afghanische Verfassung und einschlägige völkerrechtliche Verträge garantierten Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (LIB 13.11.2019, S. 264).
Ethnische Minderheiten
In Afghanistan leben zwischen 32-35 Millionen Menschen. Es sind ca. 40-42% Pashtunen, rund 27-30% Tadschiken, ca. 9-10% Hazara und 9% Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Soziale Gruppen werden in Afghanistan nicht ausgeschlossen und kein Gesetz verhindert die Teilnahme von Minderheiten am politischen Leben. Es kommt jedoch im Alltag zu Diskriminierungen und Ausgrenzungen ethnischer Gruppen und Religionen sowie zu Spannungen, Konflikten und Tötungen zwischen unterschiedlichen Gruppen (LIB 13.11.2019, S. 287f).
Hazara
Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9 bis 10% der Bevölkerung aus. Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt; der Hazaradjat [zentrales Hochland] umfasst die Provinzen Bamyan, Ghazni, Daikundi und den Westen der Provinz (Maidan) Wardak sowie Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis, und Sar-e Pul. Jahrzehntelange Kriege und schwierige Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul, getrieben. Hazara leben hauptsächlich in den zentralen und westlichen Provinzen sowie in Kabul.
Die Stadt Kabul ist in den letzten Jahrzehnten rasant gewachsen und ethnisch gesehen vielfältig. Neuankömmlinge aus den Provinzen tendieren dazu, sich in Gegenden niederzulassen, wo sie ein gewisses Maß an Unterstützung ihrer Gemeinschaft erwarten können (sofern sie solche Kontakte haben) oder sich in jenem Stadtteil niederzulassen, der für sie am praktischen sie ist, da viele von ihnen - zumindest anfangs - regelmäßig zurück in ihre Heimatprovinzen pendeln. Die Auswirkungen neuer Bewohner auf die Stadt sind schwer zu evaluieren. Bewohner der zentralen Stadtbereiche neigen zu öfteren Wohnortwechseln, um näher bei ihrer Arbeitsstätte zu wohnen oder um wirtschaftlichen Möglichkeiten und sicherheitsrelevanten Trends zu folgen. Diese ständigen Wohnortwechsel haben einen störenden Effekt auf soziale Netzwerke, was sich oftmals in der Beschwerde bemerkbar macht "man kenne seine Nachbarn nicht mehr". Viele Hazara leben unter anderem in Stadtvierteln im Westen der Stadt, insbesondere in Kart-e Se, Dasht-e Barchi sowie in den Stadtteilen Kart-e Chahar, Deh Buri, Afshar und Kart-e Mamurin.
Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild. Ethnische Hazara sind mehrheitlich Zwölfer-Schiiten, auch bekannt als Jafari Schiiten. Eine Minderheit der Hazara, die vor allem im nordöstlichen Teil des Hazaradjat lebt, ist ismailitisch. Ismailische Muslime, die vor allem, aber nicht ausschließlich, Hazara sind, leben hauptsächlich in Kabul sowie den zentralen und nördlichen Provinzen Afghanistans.
Die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, hat sich grundsätzlich verbessert und Hazara bekleiden inzwischen auch prominente Stellen in der Regierung und im öffentlichen Leben, sind jedoch in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert. Hazara werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung, Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung. Nichtsdestotrotz, genießt die traditionell marginalisierte schiitische muslimische Minderheit, zu der die meisten ethnischen Hazara gehören, seit 2001 eine zunehmende politische Repräsentation und Beteiligung an nationalen Institutionen.
Die Hazara-Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan. Sollte der Haushalts vorstehende Mann versterben, wird die Witwe Haushaltsvorständin, bis der älteste Sohn volljährig ist. Es bestehen keine sozialen und politischen Stammesstrukturen.
Hazara neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, was im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter steht. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen führen weiterhin zu Konflikten und Tötungen. Berichten zufolge halten Angriffe durch den ISKP und andere aufständische Gruppierungen auf spezifische religiöse und ethno-religiöse Gruppen - inklusive der schiitischen Hazara - an.
Während des Jahres 2018 intensivierte der IS Angriffe gegen die Hazara. Angriffe gegen Schiiten, davon vorwiegend gegen Hazara, forderten im Zeitraum 1.1.2018 bis 30.9.2018 211 Todesopfer. Das von schiitischen Hazara bewohnte Gebiet Dasht-e Barchi in Westkabul ist immer wieder Ziel von Angriffen. Die Regierung hat Pläne zur Verstärkung der Präsenz der afghanischen Sicherheitskräfte verlautbart. Angriffe werden auch als Vergeltung gegen mutmaßliche schiitische Unterstützung der iranischen Aktivitäten in Syrien durchgeführt.
In Randgebieten des Hazaradjat kommt es immer wieder zu Spannungen und teilweise gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Nomaden und sesshaften Landwirten, oftmals Hazara.
Die Hazara sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 10% in der Afghan National Army und der Afghan National Police repräsentiert. NGOs berichten, dass Polizeibeamte, die der Hazara-Gemeinschaft angehören, öfter als andere Ethnien in unsicheren Gebieten eingesetzt werden oder im Innenministerium an symbolische Positionen ohne Kompetenzen befördert werden.
(LIB 13.11.2019, S.290 ff.).
Religionen
Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7% und die Schiiten auf 10 bis 19% der Gesamtbevölkerung geschätzt. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben
Die Abkehr vom Islam gilt als Apostasie, die nach der Scharia strafbewehrt ist. Im Laufe des Untersuchungsjahres 2018 gab es keine Berichte über staatliche Verfolgungen aufgrund von Blasphemie oder Apostasie. Auch im Berichtszeitraum davor gab es keine Berichte zur staatlichen Strafverfolgung von Apostasie und Blasphemie.
Konvertiten vom Islam zu anderen Religionen berichteten, dass sie weiterhin vor Bestrafung durch Regierung sowie Repressalien durch Familie und Gesellschaft fürchteten. Das Gesetz verbietet die Produktion und Veröffentlichung von Werken, die gegen die Prinzipien des Islam oder gegen andere Religionen verstoßen. Das neue Strafgesetzbuch 2017, welches im Februar 2018 in Kraft getreten ist, sieht Strafen für verbale und körperliche Angriffe auf Anhänger jedweder Religion und Strafen für Beleidigungen oder Verzerrungen gegen den Islam vor.
Die Religionsfreiheit hat sich seit 2001 zwar verbessert, jedoch wird diese noch immer durch Gewalt und Drangsalierung gegenüber religiösen Minderheiten und reformerischen Muslimen behindert.
Wegen konservativer sozialer Einstellungen und Intoleranz sowie der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Sicherheitskräfte, individuelle Freiheiten zu verteidigen, sind Personen, die mutmaßlich gegen religiöse und soziale Normen verstoßen, vulnerabel für Misshandlung. Mitglieder der Taliban und des Islamischen Staates (IS) töten und verfolgen weiterhin Mitglieder religiöser Minderheiten aufgrund ihres Glaubens oder ihrer Beziehungen zur Regierung. Da Religion und Ethnie oft eng miteinander verbunden sind, ist es schwierig, einen Vorfall ausschließlich durch die religiöse Zugehörigkeit zu begründen.
(LIB 13.11.2019, S. 277 f.).
Schiiten
Der Anteil schiitischer Muslime an der Bevölkerung wird auf 10 bis 19% geschätzt. Zuverlässige Zahlen zur Größe der schiitischen Gemeinschaft sind nicht verfügbar und werden vom Statistikamt nicht erfasst. Gemäß Gemeindeleitern sind die Schiiten Afghanistans mehrheitlich Jafari-Schiiten (Zwölfer-Schiiten), 90% von ihnen gehören zur ethnischen Gruppe der Hazara. Unter den Schiiten gibt es auch Ismailiten.
Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten sind in Afghanistan selten. Beobachtern zufolge ist die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit zurückgegangen; dennoch existieren Berichte zu lokalen Diskriminierungsfällen. Gemäß Zahlen von UNAMA gab es im Jahr 2018 19 Fälle konfessionell motivierter Gewalt gegen Schiiten, bei denen 223 Menschen getötet und 524 Menschen verletzt wurden; ein zahlenmäßiger Anstieg der zivilen Opfer um 34%. In den Jahren 2016, 2017 und 2018 wurden durch den Islamischen Staat (IS) und die Taliban 51 terroristischen Angriffe auf Glaubensstätten und religiöse Anführer der Schiiten bzw. Hazara durchgeführt. Im Jahr 2018 wurde die Intensität der Attacken in urbanen Räumen durch den IS verstärkt.
(LIB 13.11.2019, S. 279 f.).
Apostasie, Blasphemie, Konversion
Glaubensfreiheit, die auch eine freie Religionswahl beinhaltet, gilt in Afghanistan de facto nur eingeschränkt. Die Abkehr vom Islam (Apostasie) wird nach der Scharia als Verbrechen betrachtet, auf das die Todesstrafe steht.
Jeder Konvertit soll laut islamischer Rechtsprechung drei Tage Zeit bekommen, um seinen Konfessionswechsel zu widerrufen. Sollte es zu keinem Widerruf kommen, gilt Enthauptung als angemessene Strafe für Männer, während Frauen mit lebenslanger Haft bedroht werden. Ein Richter kann eine mildere Strafe verhängen, wenn Zweifel an der Apostasie bestehen. Auch kann die Regierung das Eigentum des/der Abtrünnigen konfiszieren und dessen/deren Erbrecht einschränken. Des Weiteren ist gemäß hanafitischer Rechtsprechung Missionierung illegal. Dasselbe gilt für Blasphemie, die in der hanafitischen Rechtsprechung unter die Kapitalverbrechen fällt und auch nach dem neuen Strafgesetzbuch unter der Bezeichnung "religionsbeleidigende Verbrechen" verboten ist.
Es gibt keine Berichte über die Verhängung der Todesstrafe aufgrund von Apostasie; auch auf höchster Ebene scheint die afghanische Regierung kein Interesse zu haben, negative Reaktionen oder Druck hervorzurufen - weder vom konservativen Teil der afghanischen Gesellschaft, noch von den liberalen internationalen Kräften, die solche Fälle verfolgt haben und auch zur Strafverfolgung von Blasphemie existieren keine Berichte.
Gefahr bis hin zur Ermordung droht Konvertiten hingegen oft aus dem familiären oder nachbarschaftlichen Umfeld. Die afghanische Gesellschaft hat generell eine sehr geringe Toleranz gegenüber Menschen, die als den Islam beleidigend oder zurückweisend wahrgenommen werden. Obwohl es auch säkulare Bevölkerungsgruppen gibt, sind Personen, die der Apostasie beschuldigt werden, Reaktionen von Familie, Gemeinschaften oder in einzelnen Gebieten von Aufständischen ausgesetzt, aber eher nicht von staatlichen Akteuren. Wegen konservativer sozialer Einstellungen und Intoleranz sowie der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Sicherheitskräfte, individuelle Freiheiten zu verteidigen, sind Personen, die mutmaßlich gegen religiöse und soziale Normen verstoßen, vulnerabel für Misshandlung.
Abtrünnige haben Zugang zu staatlichen Leistungen; es existiert kein Gesetz, Präzedenzfall oder Gewohnheiten, die Leistungen für Abtrünnige durch den Staat aufheben oder einschränken. Sofern sie nicht verurteilt und frei sind, können sie Leistungen der Behörden in Anspruch nehmen.
(LIB 13.11.2019, S. 285 f.).
Wirtschaft und Grundversorgung:
Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt (LIB 13.11.2019, S. 333 ff.). Trotz Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, erheblicher Anstrengungen der afghanischen Regierung und kontinuierlicher Fortschritte belegte Afghanistan 2018 lediglich Platz 168 von 189 des Human Development Index. Die Armutsrate hat sich laut Weltbank von 38% (2011) auf 55% (2016) verschlechtert. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant: Außerhalb der Hauptstadt Kabul und der Provinzhauptstädte gibt es vielerorts nur unzureichende Infrastruktur für Energie, Trinkwasser und Transport.
Die afghanische Wirtschaft ist stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Das Budget zur Entwicklungshilfe und Teile des operativen Budgets stammen aus internationalen Hilfsgeldern. Jedoch konnte die afghanische Regierung seit der Fiskalkrise des Jahres 2014 ihre Einnahmen deutlich steigern.
Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor (einschließlich illegaler Aktivitäten), der 80 bis 90 % der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tatsächliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft, wobei der landwirtschaftliche Sektor gemäß Prognosen der Weltbank im Jahr 2019 einen Anteil von 18,7% am Bruttoinlandsprodukt (BIP) hat (Industrie: 24,1%, tertiärer Sektor: 53,1%. Das BIP Afghanistans betrug im Jahr 2018 19,36 Mrd. US-Dollar. Die Inflation lag im Jahr 2018 durchschnittlich bei 0,6% und wird für 2019 auf 3,1% prognostiziert.
Afghanistan erlebte von 2007 bis 2012 ein beispielloses Wirtschaftswachstum. Während die Gewinne dieses Wachstums stark konzentriert waren, kam es in diesem Zeitraum zu Fortschritten in den Bereichen Gesundheit und Bildung. Seit 2014 verzeichnet die afghanische Wirtschaft ein langsames Wachstum (im Zeitraum 2014-2017 durchschnittlich 2,3%, 2003-2013: 9%) was mit dem Rückzug der internationalen Sicherheitskräfte, der damit einhergehenden Kürzung der internationalen Zuschüsse und einer sich verschlechternden Sicherheitslage in Verbindung gebracht wird. Im Jahr 2018 betrug die Wachstumsrate 1,8%. Das langsame Wachstum wird auf zwei Faktoren zurückgeführt: einerseits hatte die schwere Dürre im Jahr 2018 negative Auswirkungen auf die Landwirtschaft, andererseits verringerte sich das Vertrauen der Unternehmer und Investoren. Es wird erwartet, dass sich das Real-BIP in der ersten Hälfte des Jahres 2019 vor allem aufgrund der sich entspannenden Situation hinsichtlich der Dürre und einer sich verbessernden landwirtschaftlichen Produktion erhöht.
Arbeitsmarkt (LIB 13.11.2019, S. 334 f.)
Schätzungen zufolge sind 44% der Bevölkerung unter 15 Jahren und 54% zwischen 15 und 64 Jahren alt. Am Arbeitsmarkt müssten jährlich geschätzte 400.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden, um Neuankömmlinge in den Arbeitsmarkt integrieren zu können. Somit treten jedes Jahr sehr viele junge Afghanen in den Arbeitsmarkt ein, während die Beschäftigungsmöglichkeiten aufgrund unzureichender Entwicklungsressourcen und mangelnder Sicherheit nicht mit dem Bevölkerungswachstum Schritt halten können. In Anbetracht von fehlendem Wirtschaftswachstum und eingeschränktem Budget für öffentliche Ausgaben, stellt dies eine gewaltige Herausforderung dar. Letzten Schätzungen zufolge sind 1,9 Millionen Afghan/innen arbeitslos - Frauen und Jugendliche haben am meisten mit dieser Jobkrise zu kämpfen. Jugendarbeitslosigkeit ist ein komplexes Phänomen mit starken Unterschieden im städtischen und ländlichen Bereich. Schätzungen zufolge sind 877.000 Jugendliche arbeitslos; zwei Drittel von ihnen sind junge Männer (ca. 500.000).
Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Es gibt einen großen Anteil an Selbständigen und mithelfenden Familienangehörigen, was auf das hohe Maß an Informalität des Arbeitsmarktes hinweist, welches mit der Bedeutung des Agrarsektors in der Wirtschaft einhergeht. Im Rahmen einer Befragung an 15.012 Personen, gaben rund 36% der befragten Erwerbstätigen gaben an, in der Landwirtschaft tätig zu sein.
Fähigkeiten, die sich Rückkehrer/innen im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Bei der Arbeitssuche spielen persönliche Kontakte eine wichtige Rolle. Eine Quelle betont jedoch die Wichtigkeit von Netzwerken, ohne die es nicht möglich sei, einen Job zu finden. Bei Ausschreibung einer Stelle in einem Unternehmen gibt es in der Regel eine sehr hohe Anzahl an Bewerbungen und durch persönliche Kontakte und Empfehlungen wird mitunter Einfluss und Druck auf den Arbeitgeber ausgeübt. Eine im Jahr 2012 von der ILO durchgeführte Studie über die Beschäftigungsverhältnisse in Afghanistan bestätigt, dass Arbeitgeber persönliche Beziehungen und Netzwerke höher bewerten als formelle Qualifikationen. Analysen der norwegischen COI-Einheit Landinfo zufolge, gibt es keine Hinweise darüber, dass sich die Situation seit 2012 geändert hätte.
In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit. Lediglich beratende Unterstützung wird vom Ministerium für Arbeit und Soziale Belange (MoLSAMD) und der NGO ACBAR angeboten; dabei soll der persönliche Lebenslauf zur Beratung mitgebracht werden. Auch Rückkehrende haben dazu Zugang - als Voraussetzung gilt hierfür die afghanische Staatsbürgerschaft. Für das Anmeldeverfahren sind das Ministerium für Arbeit und Soziale Belange und die NGO ACBAR zuständig; Rückkehrende sollten auch hier ihren Lebenslauf an eine der Organisationen weiterleiten, woraufhin sie informiert werden, inwiefern Arbeitsmöglichkeiten zum Bewerbungszeitpunkt zur Verfügung stehen. Unter Leitung des Bildungsministeriums bieten staatliche Schulen und private Berufsschulen Ausbildungen an.
Neben einer mangelnden Arbeitsplatzqualität ist auch die große Anzahl an Personen im wirtschaftlich abhängigen Alter (insbes. Kinder) ein wesentlicher Armutsfaktor: Die Notwendigkeit, das Einkommen von Erwerbstätigen mit einer großen Anzahl von Haushaltsmitgliedern zu teilen, führt oft dazu, dass die Armutsgrenze unterschritten wird, selbst wenn Arbeitsplätze eine angemessene Bezahlung bieten würden. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind.
Wirtschaft und Versorgungslage in den Städten Herat und Mazar-e Sharif (LIB 13.11.2019, S. 335 ff.)
Kabul
Die Wirtschaft der Provinz Kabul hat einen weitgehend städtischen Charakter, wobei die wirtschaftlich aktive Bevölkerung in Beschäftigungsfeldern, wie dem Handel, Dienstleistungen oder einfachen Berufen tätig ist. Kabul-Stadt hat einen hohen Anteil an Lohnarbeitern, während Selbstständigkeit im Vergleich zu den ländlichen Gebieten Afghanistans weniger verbreitet ist. Zu den wichtigsten Arbeitgebern in Kabul gehört der Dienstleistungssektor, darunter auch die öffentliche Verwaltung. Die Gehälter sind in Kabul im Allgemeinen höher als in anderen Provinzen, insbesondere für diejenigen, welche für ausländische Organisationen arbeiten (USIP 10.4.2017). Kabul ist das wichtigste Handels- und Beschäftigungszentrum Afghanistans und hat ein größeres Einzugsgebiet in den Provinzen Parwan, Logar und Wardak. Menschen aus kleinen Dörfern pendeln täglich oder wöchentlich nach Kabul, um landwirtschaftliche Produkte zu handeln oder als Wachen, Hausangestellte oder Lohnarbeiter zu arbeiten.
Ergebnisse einer Studie ergaben, dass Kabul unter den untersuchten Provinzen den geringsten Anteil an Arbeitsplätzen im Agrarsektor hat, dafür eine dynamischere Wirtschaft mit einem geringeren Anteil an Arbeitssuchenden, Selbständigen und Familienarbeitern. Die besten (Arbeits)Möglichkeiten für Junge existieren in Kabul. Trotz der niedrigeren Erwerbsquoten ist der Frauenanteil in hoch qualifizierten Berufen in Kabul am größten (49,6 Prozent). Im Gegensatz dazu zeigt die Provinz Ghor ist der traditionelle Agrarsektor hier bei weitem der größte Arbeitgeber, des weiteren, existieren hier sehr wenige Möglichkeiten (Jobs und Ausbildung) für Kinder, Jugendliche und Frauen.
Herat
Der Einschätzung einer in Afghanistan tätigen internationalen NGO zufolge gehört Herat zu den ?bessergestellten' und ?sichereren Provinzen' Afghanistans und weist historisch im Vergleich mit anderen Teilen des Landes wirtschaftlich und sicherheitstechnisch relativ gute Bedingungen auf. Aufgrund der sehr jungen Bevölkerung ist der Anteil der Personen im erwerbsfähigen Alter in Herat - wie auch in anderen afghanischen Städten - vergleichsweise klein. Erwerbstätige müssen also eine große Anzahl an von ihne