TE Bvwg Erkenntnis 2020/3/19 W173 2151676-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 19.03.2020
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Entscheidungsdatum

19.03.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs2

Spruch

W173 2151676-2/15E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Margit MÖSLINGER-GEHMAYR als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung Diakonie Flüchtlingsdienst gem GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 23.2.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung von mündlichen Verhandlungen zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer XXXX (in der Folge BF) reiste im Juli 2015 illegal in Österreich ein und stellte am 16.7.2015 einen Antrag auf Gewährung von internationalem Schutz.

2. Bei der am 17.7.2015 durchgeführten Erstbefragung durch ein Organ der Landespolizeidirektion Burgenland gab der BF an, er sei am XXXX in XXXX geboren und gehöre der Volksgruppe der Tadschiken an. Er spreche Dari und sei muslimischen Glaubens. Zu seiner Kernfamilie zählte der BF seinen Vater ( XXXX ), seine Mutter ( XXXX ), seine drei Brüder ( XXXX ) und seine Schwester ( XXXX ). Er habe in XXXX gewohnt und 11 Jahre die Schule besucht. Seine Familie habe von der Landwirtschaft gelebt. Seine Flucht nach Österreich habe ein Monat gedauert. Er sei von XXXX aus mit dem PKW nach Tadschikistan und von dort über Kirgistan und Kasachstan nach Österreich gereist. Zu seinen Fluchtgründen führte der BF aus, dass sein Vater für das Verteidigungsministerium gearbeitet habe. Deswegen hätten der BF und seine Familie ständig Drohungen von den Taliban bekommen. Er und seine Geschwister hätten kaum hinausgehen und ein normales Leben führen können, weil sie ständig beobachtet worden seien. Vor seiner Flucht hätten die Taliban das Haus der Familie umstellt. Seit seiner Flucht habe er keinen Kontakt mehr zu seiner Familie, er wisse nicht, ob sie noch im Land seien. Im Fall der Rückkehr habe er Angst um sein Leben, da ihn die Taliban töten würden.

3. Mit Schreiben vom 31.7.2015 teilte der Diakonie Flüchtlingsdienst als rechtliche Vertretung des BF mit, dass bei der Niederschrift beim Geburtsdatums des BF ein Fehler unterlaufen sein müsse. Tatsächlich sei der BF am XXXX und nicht am XXXX geboren.

4. Am 15.2.2017 wurde der BF vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA) niederschriftlich einvernommen. Der BF legte mehrere Integrationsunterlagen vor (Kursbestätigung des Österreichischen Roten Kreuzes vom 7.9.2016; Besuchsbestätigung des multikulturellen Netzwerkes vom 7.2.2017; Deutschkursbestätigung von XXXX , Teilnahmebestätigung für Start Wien- und Jugendcollege, Bestätigung des Roten Kreuzes vom 13.2.2017 über die unentgeltliche Unterstützung des BF im Katastrophenlager, Teilnahmebestätigungen an Info-Modulen der Stadt Wien für "Sozial", "Gesundheit" "Wohnen" und "Zusammenleben". Der BF gab an, sunnitischer Muslim zu sein und neben Dari auch Deutsch, Englisch und Paschtu zu sprechen. Er habe 11 Jahre lang die Grund- und Mittelschule in XXXX besucht. Der Lebensunterhalt sei in Afghanistan mit der eigenen Landwirtschaft verdient worden. Sie hätten hauptsächlich Getreide angebaut. Seine Eltern und seine Schwester und seine drei Brüder, die im Zeitpunkt seiner Ankunft in Österreich im Alter zwischen XXXX ), XXXX ) und XXXX ) gewesen seien, hätten zum Zeitpunkt seiner Ausreise in XXXX (Heimatdorf) gelebt. Seine Familie besitze Grundstücke. Er habe bis zu seiner Ausreise im Dorf XXXX in der afghanischen Provinz XXXX gelebt. Er habe keinen Kontakt zu seinen Angehörigen. Es gebe im Dorf kein Telefon und kein Internet. Aufgefordert, seine Fluchtgründe zu schildern, gab der BF an, dass sein Vater in der Vergangenheit für die afghanische Nationalarmee gearbeitet habe und im Distrikt XXXX seinen Dienst geleistet habe. Jetzt sei er in Pension. Zu den in seinem Dorf sich befindenden, verschiedenen bewaffneten Gruppen würden als stärksten Gruppen die Taliban und die Hezbe Islami zählen. Ihre Absicht sei, die junge afghanische Generation nach Pakistan und nach einer militärischen Ausbildung zurückzubringen, um gegen die Regierung zu kämpfen. Sein Vater habe mehrmals Briefe erhalten, in denen von ihm verlangt worden sei, dass sich der BF einer bewaffneten Gruppierung anschließen solle. Sie hätten es auf den BF abgesehen gehabt, da seine Brüder älter gewesen seien als er. Nach den Drohbriefen hätte der BF nach Pakistan gehen sollen, um sich dort ausbilden zu lassen und dann gegen die Regierung zu kämpfen. Die diesbezüglichen Anzeigen seines Vaters bei der Sicherheitsbehörde von XXXX hätten nichts gefruchtet. Die Taliban seien stärker und einflussreicher als die Regierung. Eines Tages, als der BF von den Feldern nach Hause zurückkehren habe wollen, habe er gesehen, dass das Haus seiner Familie von bewaffneten Männern umgestellt gewesen sei. Aus Angst sei er nicht hingegangen, da er habe gewusst, dass sie gekommen seien, um ihn mitzunehmen. Er sei in der selben Kleidung nach Kabul zu seinem Onkel mütterlicherseits gegangen, dem er sich anvertraut habe. Der BF habe schon vorher von den Drohbriefen gewusst. Sein Onkel habe erkannt, dass sein Leben in Afghanistan nicht sicher sei und für den BF die Ausreise organisiert.

Die Probleme hätten angefangen, seit er in der letzten Klasse gewesen sei. Persönlich sei er am Feld bei der Arbeit nie bedroht worden. Neben den Briefen hätten sie seinen Vater mehrmals persönlich getroffen, damit der BF mitgehen. Zuerst hätten sie seinen Vater überreden wollen. Sein Vater sei persönlich bedroht worden, weil er für das Verteidigungsministerium gearbeitet habe. Er könne aber nicht detailliert sagen, wie sein Vater bedroht worden sei. Er sei noch jung gewesen und der Vater habe es ihm nicht erzählt. Er wisse nicht das genaue Datum, wann sein Vater erstmals einen Drohbrief erhalten habe. Es sei etwa vor zwei Jahren gewesen, als er schon in der 11. Klasse gewesen sei. Der letzte sei Ende 2014, Anfang 2015 gekommen. Es seien drei Drohbriefe gewesen, die zu Hause seien. Diese Drohbriefe seien innerhalb von circa einem Jahr gekommen. Den genauen Inhalt des Briefes wisse er nicht, weil er noch zu jung gewesen sei. Laut seinem Vater hätten die Taliban ihn unbedingt haben wollen. Mit den Briefen wäre Überzeugungsarbeit geleistet worden. Da das nicht erfolgreich gewesen sei, seien sie persönlich gekommen. Der Vorfall als das Haus umstellt worden sei, sei 2014 gewesen. Er erinnere sich nicht mehr ganz genau. Er glaube, dass die 11.Klasse zu Ende gewesen sei. Er sei circa 20 bis 30 Meter vom Haus entfernt gestanden und alle hätten sich im Haus befunden. Es seien 10 bis 15 bewaffnete, maskierte Leute, von denen man nur die Augen habe sehen können, auf Motorrädern gewesen. Es seien die Männer von XXXX , die sie schon früher bedroht hätten. Es seien ziemlich sicher Taliban gewesen. Er sei von den Männern nicht gesehen worden, sonst hätten sie ihn festgehalten. Er wisse nicht, was die Männer genau gemacht hätten, da er sofort in Panik weggegangen sei. Er sei von XXXX nach XXXX - XXXX und von dort nach Kabul zu seinem Onkel geflüchtet. Im Fall der Rückkehr befürchte er, zur militärischen Ausbildung und zum Kampf gegen die Regierung gezwungen zu werden. Über seine Freizeit in Österreich befragt, gab der BF an, er habe sehr viele Freunde unter den Österreichern und gehe täglich ins Fitnessstudio und ins College. Er sei beim Fitnessverein Mitglied. Er lebe von der Grundversorgung.

5. Mit Bescheid vom 23.2.2017, Zl. XXXX , wies das BFA den Antrag sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 leg.cit. ab (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 wurde dem BF nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) wurde eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) erlassen. Schließlich wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.). Es wurde gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise des BF mit 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt IV.).

Begründend führte die belangte Behörde aus, dass das Fluchtvorbringen des BF nicht glaubhaft gewesen sei. Der BF sei im arbeitsfähigen Alter und habe in Afghanistan als Landarbeiter gearbeitet. Seine Familie lebe in XXXX und Kabul. Er könne in Afghanistan einer Erwerbstätigkeit nachgehen und es sei aufgrund der obigen Umstände in einer Gesamtschau davon auszugehen, dass der BF bei seiner Rückkehr nach Afghanistan nicht in eine Notlage entsprechend Art. 2 bzw. Art. 3 EMRK gelangen würde. Der BF habe in Österreich bloß recht oberflächliche private Interessen, weswegen die Rückkehrentscheidung zulässig sei.

6. Mit Beschwerde vom 27.3.2017 wurde der Bescheid vom 23.2.2017 vollumfänglich angefochten. Begründend wurde das Fluchtvorbringen aufrechterhalten und ausgeführt, dass die Länderfeststellungen zur Provinz XXXX unzureichend und veraltet seien. Die Feststellungen würden auf einer unschlüssigen Beweiswürdigung und einer mangelhaften Sachverhaltsermittlung basieren und § 60 AVG verletzen. Der Vater habe im Verteidigungsministerium gearbeitet und seine Familie sei ständig von den Taliban bedroht worden, sodass kein normales Leben für den BF und seine Familie möglich gewesen sei. Nach den Drohbriefen, die sein Vater erhalten habe, hätte der BF als jüngster Sohn sich in Pakistan ausbilden lassen sollen und gegen die Regierung kämpfen. Das vom BF erstattete Vorbringen sei seinerseits äußerst detailliert. Die diesbezügliche Beurteilung der Behörde als vage und oberflächlich sei nicht nachvollziehbar. Das Vorbringen des BF sei zudem widerspruchsfrei und schlüssig. Nicht gewürdigt und in weiterer Folge festgestellt worden sei der Umstand, dass der Vater des BF beim afghanischen Verteidigungsministerium tätig sei und aus diesem Grund bereits bedroht worden sei. Dieser Verfahrensmangel sei wesentlich, da dem BF neben der drohenden Zwangsrekrutierung auch eine Verfolgung aufgrund der sozialen Gruppe der Familie drohen würde. Hinsichtlich Spruchpunkt II. sei eine Rückkehr in die Heimatregion aufgrund der gegenwärtigen Verfolgung ausgeschlossen. Eine innerstaatliche Fluchtalternative bestehe aufgrund der nach wie vor prekären Sicherheitslage und dem Fehlen belastbarer sozialer Anknüpfungspunkte. Dem BF wäre daher der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen gewesen. Weiters habe der BF zum Zeitpunkt der niederschriftlichen Befragung Deutsch auf dem Niveau B1 gesprochen und besuche das Jugendcollege in Wien. Er verfüge darüber hinaus über zahlreiche private Kontakte in Österreich und es bestehe ein schützenswertes Privatleben. Im Hinblick auf die zum Zeitpunkt der Erlassung des Bescheides geltende zweiwöchige Beschwerdefrist wurde in eventu ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 71 AVG in Verbindung mit einem Antrag auf aufschiebende Wirkung gestellt.

7. Mit Bescheid vom 14.6.2017 wurde unter Spruchpunkt I. der in eventu gestellte Antrag auf Wiedereinsetzung abgewiesen und unter Spruchpunkt II. die aufschiebende Wirkung gewährt. Gegen Spruchpunkt I. des Bescheides vom 14.6.2017 erhob der BF mit Schreiben vom 18.7.2017 Beschwerde. Hingewiesen wurde darauf, dass über diese Beschwerde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 19.3.2020 unter der Aktenzahl W173 2151676-2/14E abgesprochen wurde und Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides vom 14.6.2017 behoben wurde.

8. Am 20.7.2017 legte die belangte Behörde die Beschwerde samt Verwaltungsakten dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor.

9. Nach einem Verweis des BF auf das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 26.9.2017 und Art. 140 Abs. Z B-VG wurde mit Schreiben vom 16.4.2019 die Bestätigungen des BF zum Besuch des Pflichtschulabschluss-Lehrganges vorgelegt. In der Folge wurde ein Zeugnis über die Ablegung der Pflichtschulabschluss-Prüfung durch den BF vom 22.6.2018 vorgelegt.

10. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 8.5.2019 eine öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein des BF, dessen rechtlicher Vertretung sowie einem für die Sprache Dari bestellten Dolmetscher durch. Der BF bestätigte eingangs, bei seinen bisherigen Einvernahmen mit den Dolmetschern einverstanden gewesen zu sein und die Wahrheit gesagt zu haben. Er sei Tadschike und sunnitischer Moslem. Als afghanischer Staatsbürger sei er am XXXX in der Provinz XXXX im Bezirk XXXX im Dorf XXXX geboren. Er habe zwar 11 Jahre die Schule besucht, diese aber nicht abgeschlossen. Er spreche Dari und Paschtu. Deutsch habe er in Österreich gelernt. Er sei täglich in die Moschee gegangen und in seinem Dorf gut integriert gewesen. Im Heimatdorf habe es Telefone gegeben und seine Familie habe ein Handy gehabt. Er sei bis zu seiner Flucht im Heimatdorf gewesen. In seiner Gegend sei die Regierung an der Macht gewesen.

Eine Berufsausbildung habe er nicht absolviert. Er habe jedoch in der familieneigenen Landwirtschaft gearbeitet. Davon habe seine Familie, die im eigenen Haus lebte, den Lebensunterhalt bestritten. Früher habe sein Vater im Verteidigungsministerium gearbeitet. In der Pension habe er angefangen, in der Landwirtschaft zu arbeiten. Es könnte sein, dass sein Vater schon bei der Geburt des BF in Pension gewesen sei. Er wisse nicht, was sein Vater im Verteidigungsministerium gearbeitet habe. Er sei damals sehr klein gewesen und wisse nicht, welche Funktion der Vater gehabt habe. Schwerpunkt des Ministeriums sei das Militär gewesen. Sein Vater habe nie erzählt, was er gemacht habe. Sein Vater sei von niemandem wegen seinem Job bedrängt worden. Der BF habe von niemandem etwas Negatives wegen der früheren Arbeit seines Vaters erfahren und dem BF sei auch nichts Negatives in Zusammenhang mit der früheren Tätigkeit seines Vaters in Erinnerung. Der Schwerpunkt sei die Landwirtschaft gewesen, die die Nahrungsquelle der Familie gewesen sei. Die Mutter des BF sei Hausfrau und meistens zuhause gewesen.

Die Taliban seien an der Macht gewesen und die Dorfbewohner seien die Diener der Taliban gewesen. Die Taliban hätten zwanghaft junge Burschen rekrutieren. Die Taliban hätten zum Beispiel gegen die Regierung kämpfen und mehrere Dörfer erobern wollen. Persönlich habe der BF keinen Kontakt zu den Taliban gehabt. Sie seien aber überall im Dorf aktiv gewesen. Er habe sie auf dem Bazar und auf den Feldern gesehen. Die Taliban hätten die Macht im Dorf gehabt und seien einfach herumgegangen. Ein großes Projekt der Taliban sei das Rekrutieren junger Leute gewesen, die nach Pakistan gebracht worden seien. Dieses Problem hätte der BF auch gehabt. Die Taliban seien an der Bewaffnung, den langen Bärten, dem Turban und der traditionellen Kleidung erkennbar gewesen. Sie hätten auch Motorräder gehabt. Die Taliban seien im Dorf stärker als die Regierungskräfte gewesen. Er habe auch nie persönlich erlebt, dass die Taliban zur Familie des BF oder den Nachbarn gekommen seien. Er habe aber immer wieder von Vorfällen mit Taliban gehört und die Terroristen seien aktiv gewesen. Auf Bezirksebene habe es einen Selbstmordattentäter gegeben. Die Familie des BF habe nicht weit entfernt von der Bezirkshauptmannschaft gelebt (ca. eine Stunde Autofahrt) und Bomben gehört. Die Taliban hätten nur Burschen zwischen 17 und 18 Jahre rekrutiert. Er habe nur männliche Schulkameraden habet, wobei 25-30 Schüler in seine Klasse gegangen und in seinem Alter gewesen seien. Man könne nicht sagen, dass sich die Zahl der männlichen Schüler in der Klasse reduziert habe. Sein ältester Bruder ( XXXX ) sei cirka XXXX Jahre und die anderen zwei XXXX ( XXXX ) und XXXX ( XXXX ) Jahren alt. Sie würden sich mit seiner Schwester im Heimatdorf befinden und seien - wie sein Vater - in der familieneigenen Landwirtschaft tätig. Mit seiner Familie habe er telefonischen Kontakt und es gehe ihnen gut. Aber die Sicherheitslage sei nicht gut, da im Heimatdorf die Taliban an der Macht seien und es immer wieder Krieg zwischen den Taliban und der Regierung gebe. Sein Heimatdorf sei das unsicherste Dorf. Die Familie habe ihn informiert, dass die Taliban nach wie vor junge Burschen rekrutieren und nach Pakistan bringen würden. Die Taliban würden sie täglich rekrutieren und im Allgemeinen im Heimatdorf die Burschen mitnehmen und nach Pakistan bringen, wo sie eine Hirnwäsche bekommen würden. Dann würden sie zurückgebracht und sollten gegen die Regierung kämpfen.

Zuerst würden sie es mit einer förmlichen Ladung in Briefform versuchen. Die Taliban würden persönlich demjenigen, den sie zu rekrutieren beabsichtigen würden, den Brief übergeben oder mündlich mitteilen. Bei Dorfbewohnern, die gegen die Rekrutierung des Sohnes seien, würden die Söhne mit Zwang rekrutiert. Die Taliban würden nach Hause oder auf die Straße kommen und die Burschen einfach mitnehmen. Die Taliban würden bewaffnet ins Haus kommen und es könne sein, dass sie sich vorstellen. Die Dorfbewohner würden die Taliban vom Aussehen kennen. Die Taliban würden nicht lange zögern und die Burschen gleich mitnehmen, aber davor würden sie einen formalen Brief schreiben. In seinem Fall sei zwei-, dreimal ein Brief geschickt und einmal sein Vater persönlich bedroht worden. Die Taliban hätten nur gewollt, dass seine Familie ihn aushändige. Persönlich habe er die Briefe nie gelesen. Er habe das alles von seinem Vater gehört. Nach den Angaben seines Vaters hätten die Taliban unbedingt den BF rekrutieren wollen. An seinen älteren Brüdern seien die Taliban nicht interessiert gewesen, da sich die Taliban auf junge und naive Burschen konzentriert hätten. Er sei in seiner Familie der jüngst Sohn gewesen. Anfang 2015 im Frühling sei er von seinem Heimatdorf nach Österreich geflohen, wofür er zwei bis drei Monate gebraucht habe. Er sei dabei vom Heimatdorf Richtung Bezirkshauptmannschaft und von dort in die Provinzhauptstadt und dann nach Kabul zu seinem Onkel alleine gefahren. Nach drei Tagen sei er von Kabul mit Hilfe eines von seinem Onkel organisierten Schleppers nach Kunduz gefahren. Die weitere Schlepperroute wisse er nicht. Jedenfalls sei er nach cirka drei Monaten nach Österreich gekommen. Zu Haus sei er nach seiner Flucht gar nicht abgegangen.

Sein Heimatland - speziell sein Heimatdorf - habe er verlassen, weil dort zwei bewaffnete Gruppen, zu denen die Taliban und die Hezb - e - Islami zählen würden, aktiv seien. Beide Gruppen hätten mit verschiedenen Arten Jungen rekrutieren wollen. Zuerst mit Briefen, was auch bei ihm geschehen sei. Er sei circa dreimal mit Briefen gewarnt worden. Ein- bis zweimal sei sein Vater mündlichen gewarnt worden. Als der BF eines Tages von den Feldern zurück nach Hause gegangen sei, habe er in der Nähe des Hauses seiner Familie gesehen, dass eine bewaffnete Gruppe von den Taliban um das Haus der Familie herumgestanden sei. Der BF sei dabei 40-50 Meter von den Taliban entfernt gestanden und habe von deren Aussehen, deren Kleidung, den Waffen und Motorrädern geschlossen, dass es sich um Taliban gehandelt habe. Akustisch habe er nichts wahrgenommen. Er sei sich aber zu hundert Prozent sicher, dass die Taliban ihn hätten abholen wollen. Sie hätten Briefe geschickt und der letzten sei zwei, drei Monaten davor geschickt worden. Die Briefe habe er nicht persönlich gesehen, aber zu Hause hätten sie davon gesprochen, dass sie den BF unbedingt wollen würden. Als seine Familie das nicht ernst genommen habe, seien die Taliban bei ihnen gewesen, um ihn mitzunehmen. Sein Vater habe alle Briefe zur Sicherheitsdirektion ihrer Provinz gebracht und dort die Behörden informiert habe. Sie hätten ihnen aber nicht geholfen. Sie hätten die Drohungen der Taliban nicht ernstgenommen, weil sie dachten, dass die Regierung ihnen helfen würde. Persönlich sei er weder von den Taliban noch den Hezb-e-Islami bedroht worden, weil er so jung gewesen sei.

Er könne nicht nach Afghanistan zurückkehren, weil in Afghanistan ganz andere Vorstellungen von Religion vorherrschen würden. Sie seien sehr konservativ und religiös. Man müsse täglich beten, fasten und machen, was verlangt würde. Er sei pro forma ein Moslem, aber er faste nicht, bete nicht und gehe nicht in die Moschee. Er habe aber eine Freundin, mit der er Zukunftspläne habe, das sei ihm dort unmöglich. Seine Freundin heiße XXXX und wohne im XXXX . Bezirk in Wien. Auch sei die allgemeine Sicherheitslage und auch seine Lebensart in Afghanistan zu gefährlich. Es sei unmöglich, in dieser Art und Weise in Afghanistan zu leben. Die bewaffneten Gruppierungen, die Taliban oder andere, seien - speziell im ländlichen Bereich - sehr konservativ und würden eine Beziehung mit einem Mädchen ablehnen. In Österreich habe er keine Verwandten und Familie.

Die meiste Zeit würde er mit Frau XXXX , seiner Freundin, verbringen. Er lebe aber in seiner Asylunterkunft und verbringe die meiste Zeit mit seiner Freundin. Ein bis zwei Mal sei er unter der Woche in seiner Asylunterkunft, den Rest verbringe er bei ihr. Sie wohne im 21. Bezirk in der XXXX , die genaue Hausnummer wisse er nicht. Auf den Vorhalt, warum er sich nicht bei seiner Freundin anmelde, wenn er fünf Tage der Woche dort verbringe, gab der BF an, dass er bis jetzt in seiner Asylunterkunft angemeldet sein habe wollen. Er wolle aber so schnell wie möglich eine fixe Beziehung führen. Er habe vor, dass er für immer bei ihr bleibe. In Österreich habe er keine bestimmte Beschäftigung. Er sei in keinem Verein. Er gehe ins Fitnessstudio und treffe sporadisch Freunde und Bekannte. Falls er einen positiven Bescheid bekomme, würde er eine Ausbildung als Krankenpfleger beginnen wollen. Er möchte seinen Beruf ausüben. Er müsse sich erst erkundigen im Hinblick auf eine Krankenpflegerschule.

Ebenso wurde im Rahmen der mündlichen Verhandlung Frau XXXX als Zeugin befragt. Sie gab an, dass sie den BF über Facebook kennengelernt habe. Man habe über Facebook geschrieben und sich ca. im Jänner/Februar 2019 persönlich getroffen. Sie hätten sich bei ihr getroffen, etwas getrunken und einen Film geschaut. Sie hätten sich auch draußen getroffen und wären shoppen und essen gegangen. Einen Monat später wären sie dann wirklich zusammengekommen. Er würde bei ihr übernachten. Als Einzelhandelskauffrau müsse sie ihrem Beruf nachgehen. Sie hätten sich auf jeden Fall jedes Wochenende gesehen und während der Woche abgestimmt auf ihren Dienst habe der BF drei- bis viermal bei ihr übernachtet. Wenn sie müde sei, bevorzuge sie es, alleine zu sein. Deshalb wolle sie, dass er im Asylheim übernachte, das im XXXX .Bezirk sei. Trotz tiefer Beziehung sehe sie von einer Meldung des BF an ihrer Adresse ab, da sei erst seit einem Jahr in der Wohnung lebe. Sollte sich die Beziehung weit entwickeln, plane sie eine gemeinsame Zukunft.

Im Zuge der Verhandlung wurde vom BF eine Recherche der Schweizerischen Flüchtlingshilfe zur Sicherheitslage im Distrikt XXXX , Provinz XXXX , vom Mai 2018 vorgelegt. Zudem wurde in der schriftlichen Stellungnahme vom 8.5.2019 vorgebracht, dass der BF zwischenzeitig eine "westliche" Lebensweise angenommen und verinnerlicht habe, sodass der BF als ein "westlich-orientierter" Rückkehrer betrachtet werde und damit einem vom UNHCR angeführten Risikoprofil entspreche. Insbesondere würden Personen, die nicht nach den Religions- und Wertevorstellungen der Taliban leben und insbesondere in der Öffentlichkeit Positionen vertreten würden, die nicht mit dem Weltbild der Taliban konform seien, wie fehlende Religiosität oder gemischter Umgang von Männern und Frauen im Alltag - zur Zielscheibe von Verfolgungshandlungen werden würden, darunter z.B. Journalisten, Künstler und Schauspieler. Auch sei die Herkunftsprovinz bzw. der Herkunftsdistrikt des BF ein umkämpftes Gebiet in Afghanistan. Für den BF bestehe in Afghanistan keine innerstaatliche Fluchtalternative zumal auch der UNHCR Kabul als IFA grundsätzlich verneine. Auch in den Städten Herat und Mazar-e Sharif, in denen der BF über keine Familienangehörigen oder über ein tragfähiges soziales Netzwerk verfüge, habe er angesichts der Ressourcenknappheit und der derzeit herrschenden humanitären Situation keinen Zugang zu Unterkunft, ausreichender Versorgung oder Lebensgrundgrundlagen. Ihm drohe dort die Gefahr eines ernsthafter Schades iSd Art 15c der Status-Richtlinie.

11. Mit Schreiben vom 19.11.2019 legt der BF einen Auszug aus dem Zentralen Melderegister vor. Darin war als neue Adresse XXXX , als Hauptwohnsitz angeführt. Unter Hinweis darauf führte der BF weiter aus, zwischenzeitig zu seiner Lebensgefährtin gezogen zu sei. Er habe bereits in der Verhandlung am 8.5.2019 dargelegt, sich vom islamischen Glauben abgewandt zu haben. Er lehne den konservativen Islam ab und halte sich nicht an islamische Gebote. Weder faste er, noch bete er oder besuche eine Moschee. Er führe auch eine außereheliche Beziehung zu einer österreichischen Staatsbürgerin, die Christin sei. Er habe in den vergangenen 4,5 Jahren eine westliche, aufgeklärte und konfessionslose Lebensweise verinnerlicht, die er in Afghanistan nicht verbergen könnte bzw. sei ihm dies auch nicht zumutbar. Dazu wurde auf das Länderinformationsblatt verwiesen, sonach bei einem Abfall vom Glauben die Todesstrafe drohe. Der BF habe die konfessionslose Lebensweise verinnerlicht. Es sei ihm nicht zumutbar, seine Überzeugung ständig zu verbergen bzw. vorzutäuschen, weiterhin Moslem zu sein. Dazu wurde auf die Judikatur des Verwaltungs- und Verfassungsgerichtshofes zum konfessionlosen Lebensweise verwiesen, die potenziell asylrelevant sei. Auch die UNHCR-Richtlinie bestätige, dass Apostaten explizit zur Risikogruppe zählen würden. Infolge des Abfalls vom Islam im Rückkehrfall bestehe mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine asylrechtlich relevante Verfolgung iSd GFK. Es fehle auch an einer innerstaatlichen Fluchtalternative.

12. In der mündlichen Verhandlung des Bundesverwaltungsgerichts am 10.3.2020 bestätigte der BF, bisher immer die Wahrheit gesagt zu haben. Zur Frage, was seit der letzten Verhandlung geschehen sei, gab der BF an, seit November 2019 bei seiner Lebensgefährtin angemeldet zu sein und mit ihr zusammenzuleben. Er habe auch ehrenamtliche Tätigkeiten absolviert und einen Deutschkurs besucht. Er sei auch beider der Caritas wegen des Projektes "Jung-Caritas" gewesen, zumal er als Krankenpfleger arbeiten wolle. Er stehe auf der Warteliste. Er möchte gerne eine Krankenpflegerausbildung absolvieren. In einem Pflegeheim im XXXX.Bezirk habe er sich vorgestellt. Er sei zum Warten aufgefordert worden. Zum Roten Kreuz könne er erst am 12.3.2020 kommen. Dazu verwies der BF auf seine vorgelegten Unterlagen. Der BF legte eine mit 9.3.2020 datierte Religionsaustrittserklärung vor, in der vom Magistrat der Stadt Wien der vom BF am 9.3.2020 gemeldete Austritt aus der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich bestätigt wurde. Weiters legte der BF einen Ausschnitt aus der Internetseite des Roten Kreuzes über Informationsveranstaltungen in den nächsten Monaten und zur Suche von freiwilligen Helfern sowie eine Beratungsbestätigung des AWZ Soziales Wien vom 11.2.2020 vor. Darüber hinaus habe sich seit der letzten Verhandlung nichts Neues ergeben.

Der BF führte weiter aus, in der Mietwohung von Frau XXXX zu leben und einen Teil der Miete zu bezahlen. Er lebe von der Grundversorgung der Caritas von 365,-- EURO im Monat. Seit acht oder neun Monaten habe er eine fixe Beziehung zu Frau XXXX , die er seit Jänner/Februar 2019 kenne und via Facebook kennengelernt habe. Seit eineinhalb Jahren habe er einen Facebook-Account " XXXX ". Er schreibe dort nicht, sondern gebe nur ab und zu Fotos rein. Er möchte auch so wie Frau XXXX sein, nämlich sehr lieb und loyal. Er möchte Frau XXXX heiraten, eine Familie gründen und das ganze Leben mit ihr zusammen sein. Zu seinem Tagesablauf führte der BF aus, im Internet meistens ehrenamtlichen Arbeitsstellen zu suchen, seiner Freundin zu Hause zu helfen, zu putzen und zu kochen, weil seine Freundin arbeite. Sonst treffe er sich mit Freunden, die er aus dem Fitnessstudio kenne, das er besuche. Am Wochenende würde die Freizeit geplant. Sie würden die Eltern von Frau XXXX besuchen oder es seien Freunde zu Besuch. Er stehe auch in Kontakt mit seinen Eltern in Afghanistan.

In seiner letzten Stellungnahme habe er dargelegt, seine Freundin seit cirka einem Jahr zu kennen und mit ihr gemeinsam seit November 2019 zu wohnen. Aber vom Standpunkt der islamischen Religion dürfe er nicht ohne Ehe mit einer fremden Frau eine intime Beziehung haben. Er faste und bete schon lange nicht mehr. Seit einem Jahr, seit er seine Freundin kenne, habe er den Entschluss zum Austritt gefasst, da der Islam sehr streng sei und nicht einmal erlaube, einer Frau die Hand zu geben. Ein echter Moslem müsse alles machen wie beten, fasten und dürfe keine intime Beziehung zu einer Frau haben. Er sei ohnehin kein echter Moslem. Es sei ihm das Menschsein wichtig. Befragt zu seiner Einstellung gegenüber liberalen Richtungen des Islams beharrte der BF darauf, dass ein echter Moslem die Regeln des Korans einzuhalten habe. Es müsse eine Frau eine Hijab tragen, Beziehungen zum anderen Geschlecht seien nicht erlaubt. Eine intime Beziehung zu einer Frau lasse der Islam nicht zu, vielmehr sei er in diesem Fall kein Moslem mehr. Der Islam bezeichne das als "zena". Seit seinem Austritt aus der islamischen Gemeinschaft lebe er sehr ruhig. Es sei ihm nicht wichtig, wer welcher Religion, Nationalität oder Rasse angehöre. Als er noch Moslem gewesen sei, habe er keine Beziehung zu einer fremden Frau gehabt. Seit er seine Freundin kennengelernt habe und aus dem Islam ausgetreten sei, fühle er sich wohl. Seit er nicht mehr bete, nicht mehr faste und keine Moschee besuche und Schweinefleisch esse und mit einer Österreicherin zusammenlebe, sei er erkennbar kein Moslem mehr. Er bete und fast schon seit langem nicht mehr. Seit er mit seiner Freundin gemeinsam sei, sei er überhaupt aus dem Islam ausgetreten. Seit er in Österreich sei, bete er nicht mehr, habe nicht gefastet und keine Moschee gesehen. Er habe schon früher damit aufgehört und sei kein gläubiger Moslem mehr gewesen.

Er habe ein Jahr lang das Jugendcollege besucht und einen positiven Hauptschulabschluss. Anschließend schilderte der BF seine Flucht aus Afghanistan verständlich in deutscher Sprache. Er plane eine Ausbildung als Krankenpfleger zu machen, wofür er sich schon erkundigt habe. Er möchte gerne arbeiten und dem Land dienen.

Zu seinen Befürchtungen im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan führte der BF aus, dass sich die Sicherheitslage in Afghanistan jeden Tag verschlechtere. Dies gelte insbesondere für sein Heimatdorf. Er sei schon lange in Österreich und aus dem Islam ausgetreten und zähle daher nicht mehr zu den Muslimen. Unabhängig davon, wie lange jedem in Europa gewesen sei, würde er in Afghanistan als "Kafer" beschimpft. Sein Leben sei in Gefahr, sogar noch stärker als vorher. Er wolle nicht mehr nach Afghanistan zurückkehren, sondern seine Zukunft in Österreich gemeinsam mit seiner Freundin verbringen und eine bessere Zukunft aufbauen. Auf Frage seiner Rechtsberaterin, ob er an Gott glaube, verneinte der BF dies.

Ebenso wurde Frau XXXX als Zeugin einvernommen. Zur Frage, was sich seit der letzten Verhandlung mit dem BF geändert habe, führte die Zeugin aus, dass der BF im November 2019 gezogen sei und sie an ihrem Wohnsitz angemeldet habe. Sie habe ihn über Facebook 2019 kennengelernt. Er habe sich in deutscher Sprache vorgestellt. Er habe Fotos von seiner Person in seinem Profil. Nach einer Phase des Kennenlernens würden sie seit März 2019 eine intime Beziehung pflegen. Er wohne bei ihr und erledige den Haushalt. Abwechselnd würde gekocht werden. Sie sei berufstätig und verlasse bereits um 5:30 Uhr das Haus. Wenn sie nicht arbeite, würden sie ein- oder zweimal im Monat ihre Eltern besuchen oder mit Freunden Zeit verbringen, Essen oder ins Kino gehen. Zur Frage inwiefern sich der BF verändert habe, gab die Zeugin an, dass es ihr leichter falle, da der BF dem Haushalt führe. Er zahle auch 150 Euro Miete oder bezahle beim Einkaufen. Arbeiten gehe der BF nicht, da er noch keinen positiven Bescheid habe. Darüber hinaus habe sich seit dem Zeitpunkt des Kennenlernens nichts Maßgebendes verändert. Sie hätten sich kenne- und schätzen gelernt. Der BF habe seit dem Kennenlernen nie gebetet. Es könne sein, dass der BF einige Male Schweinfleisch gegessen habe.

Zu den aktuellen Länderberichten wurde insbesondere auf den EASO-Country-Guidance auf Seite 68f verwiesen, wonach Apostaten in Afghanistan schwerwiegender Verfolgung ausgesetzt seien. Darüber hinaus werde auf die letzte Stellungnahme vom 19.11.2019 verwiesen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des BF:

Der BF ist am XXXX geboren und afghanischer Staatsangehöriger.

Der BF gehört der Volksgruppe der Tadschiken an und wurde als sunnitischer Moslem im Kreise seiner moslemischen Familie erzogen, mit der er aufwuchs.

Der BF ist in XXXX geboren und im Dorf XXXX im Distrikt XXXX in XXXX aufgewachsen. Er war im Heimatdort intergiert und besuchte die Moschee.

Die Kernfamilie des BF mit seinen Eltern und drei Brüdern sowie seiner Schwester leben weiterhin im Heimatdorf des BF am Familienwohnsitz und bearbeiten die familieneigenen Grundstücke. Mit seinen Eltern ist der BF in Kontakt.

Der BF hat 11 Jahre lange die Schule besucht und in der familieneigenen Landwirtschaft gearbeitet.

Der BF spricht Dari und Paschtu und Deutsch auf durchschnittlichem Niveau.

Der BF ist gesund und ledig.

Er hat in Österreich einen Kurs des Österreichischen Roten Kreuzes und des multikulturellen Netzwerkes besucht. Ebenso hat er unentgeltlich das Roten Kreuz im Katastrophenlager vom 1.11.2015 bis 31.8.2016 unterstützt. Er hat an Info-Modulen der Stadt Wien für "Sozial", "Gesundheit" "Wohnen" und "Zusammenleben" teilgenommen.

Der BF hat in Österreich am 22.6.2018 die Pflichtschulabschluss-Prüfung bestanden.

Seit März 2019 führt der BF eine Beziehung mit Frau XXXX , bei der er anfangs mehrmals in der Woche übernachtete und zu der er im November 2019 gezogen ist. Der BF lebt von der Grundversorgung der Caritas. Der BF möchte Krankenpfleger werden.

Der BF geht in Österreich ins Fitnessstudio und trifft sich mit Freunden und Bekannten.

Der BF ist in Österreich in keinem Verein und absolviert derzeit keine ehrenamtliche Tätigkeit.

Der BF ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

1.2. Zu den Fluchtgründen des BF:

Der BF hat Afghanistan nicht aufgrund asylrelevanter Verfolgung verlassen.

Der BF ist auch nicht aufgrund einer Tätigkeit seines Vaters für das Verteidigungsministerium in Afghanistan einer Verfolgung durch die Taliban ausgesetzt. Der am XXXX geborene BF ist nicht aufgrund individueller Merkmale einer besonderen Gefahr ausgesetzt, in Afghanistan zwanghaft rekrutiert zu werden. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan droht dem BF individuell und konkret weder Lebensgefahr, noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch Mitglieder der Taliban oder andere Personen.

Der sunnitisch moslemisch sozialisierte BF ist nicht vom muslimischen Glauben abgefallen. Er hat keine Verhaltensweisen verinnerlicht, die bei einer Rückkehr nach Afghanistan als Glaubensabfall gewertet würden. Es würde von ihm auch nicht im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan ein Glaubensabfall vom muslimischen Glauben aktiv nach außen zur Schau getragen. Der BF interessiert sich in Österreich nicht für den Glauben. Der BF wäre im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan auf Grund seines behaupteten Abfalls vom muslimischen Glauben nicht psychischer und/oder physischer Gewalt aus asylrelevanten Gründen ausgesetzt bzw. hätte eine solche im Fall seiner Rückkehr auch nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten.

Der BF ist nicht auf Grund der Tatsache, dass er sich zuletzt in Europa aufgehalten hat bzw. dass er als afghanischer Staatsangehöriger, der aus Europa nach Afghanistan zurückkehrt, in Afghanistan einer Verfolgung ausgesetzt. Die kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates sind dem BF bekannt.

Dem BF droht bei einer Rückkehr in seine Herkunftsprovinz in Afghanistan ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan und einer Ansiedelung in den Städten Mazar-e-Sharif oder Herat bestünde für den BF nicht ein so hohes Maß an willkürlicher Gewalt, dass er allein durch seine Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften, individuellen Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit ausgesetzt zu sein. Dem BF steht eine zumutbare innerstaatliche Flucht- bzw. Schutzalternative in den Städten Mazar-e-Sharif und Herat zur Verfügung.

1.3 Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Dem Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht werden insbesondere folgende Quellen zugrunde gelegt:

Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan (Gesamtaktualisierung 13.11.2019)

Politische Lage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.5.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).

In Folge der Präsidentschaftswahlen 2014 wurde am 29.09.2014 Mohammad Ashraf Ghani als Nachfolger von Hamid Karzai in das Präsidentenamt eingeführt. Gleichzeitig trat sein Gegenkandidat Abdullah Abdullah das Amt des Regierungsvorsitzenden (CEO) an - eine per Präsidialdekret eingeführte Position, die Ähnlichkeiten mit der Position eines Premierministers aufweist. Ghani und Abdullah stehen an der Spitze einer Regierung der nationalen Einheit (National Unity Government, NUG), auf deren Bildung sich beide Seiten in Folge der Präsidentschaftswahlen verständigten (AA 15.4.2019; vgl. AM 2015, DW 30.9.2014). Bei der Präsidentenwahl 2014 gab es Vorwürfe von Wahlbetrug in großem Stil (RFE/RL 29.5.2019). Die ursprünglich für den 20. April 2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019).

Parlament und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für 5 Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.4.2019).

Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.4.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.3.2019).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 13.3.2019, Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 2.9.2019).

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21. Oktober 2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (AA 15.4.2019; vgl. USDOS 13.3.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28. September 2019 statt; ein vorläufiges Ergebnis wird laut der unabhängigen Wahlkommission (IEC) für den 14. November 2019 erwartet (RFE/RL 20.10.2019).

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. In der Provinz Kandahar musste die Stimmabgabe wegen eines Attentats auf den Provinzpolizeichef um eine Woche verschoben werden und in der Provinz Ghazni wurde die Wahl wegen politischer Proteste, welche die Wählerregistrierung beeinträchtigten, nicht durchgeführt (s.o.). Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen. Durch Wahl bezogene Gewalt kamen 56 Personen ums Leben und 379 wurden verletzt. Mindestens zehn Kandidaten kamen im Vorfeld der Wahl bei Angriffen ums Leben, wobei die jeweiligen Motive der Angreifer unklar waren (USDOS 13.3.2019).

Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 6.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.5.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als "Katastrophe" und die beiden Wahlkommissionen als "ineffizient" (AAN 17.5.2019).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.5.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004, USDOS 29.5.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.1.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 2.9.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 2.9.2019; vgl. AAN 6.5.2018, DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 2.9.2019).

Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).

Die Hezb-e Islami wird von Gulbuddin Hekmatyar, einem ehemaligen Warlord, der zahlreicher Kriegsverbrechen beschuldigt wird, geleitet. Im Jahr 2016 kam es zu einem Friedensschluss und Präsident Ghani sicherte den Mitgliedern der Hezb-e Islami Immunität zu. Hekmatyar kehrte 2016 aus dem Exil nach Afghanistan zurück und kündigte im Jänner 2019 seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen 2019 an (CNA 19.1.2019).

Im Februar 2018 hat Präsident Ghani in einem Plan für Friedensgespräche mit den Taliban diesen die Anerkennung als politische Partei in Aussicht gestellt (DP 16.6.2018). Bedingung dafür ist, dass die Taliban Afghanistans Verfassung und einen Waffenstillstand akzeptieren (NZZ 27.1.2019). Die Taliban reagierten nicht offiziell auf den Vorschlag (DP 16.6.2018; s. folgender Abschnitt, Anm.).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Hochrangige Vertreter der Taliban sprachen zwischen Juli 2018 (DZ 12.8.2019) - bis zum plötzlichen Abbruch durch den US-amerikanischen Präsidenten im September 2019 (DZ 8.9.2019) - mit US-Unterhändlern über eine politische Lösung des nun schon fast 18 Jahre währenden Konflikts. Dabei ging es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan nicht zu einem sicheren Hafen für Terroristen wird. Die Gespräche sollen zudem in offizielle Friedensgespräche zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban münden. Die Taliban hatten es bisher abgelehnt, mit der afghanischen Regierung zu sprechen, die sie als "Marionette" des Westens betrachten - auch ein Waffenstillstand war Thema (DZ 12.8.2019; vgl. NZZ 12.8.2019; DZ 8.9.2019).

Präsident Ghani hatte die Taliban mehrmals aufgefordert, direkt mit seiner Regierung zu verhandeln und zeigte sich über den Ausschluss der afghanischen Regierung von den Friedensgesprächen besorgt (NYT 28.1.2019; vgl. DP 28.1.2019, MS 28.1.2019). Bereits im Februar 2018 hatte Präsident Ghani die Taliban als gleichberechtigten Partner zu Friedensgesprächen eingeladen und ihnen eine Amnestie angeboten (CR 2018). Ein für Mitte April 2019 in Katar geplantes Dialogtreffen, bei dem die afghanische Regierung erstmals an den Friedensgesprächen mit den Taliban beteiligt gewesen wäre, kam nicht zustande (HE 16.5.2019). Im Februar und Mai 2019 fanden in Moskau Gespräche zwischen Taliban und bekannten afghanischen Oppositionspolitikern, darunter der ehemalige Staatspräsident Hamid Karzai und mehreren Warlords, statt (Qantara 12.2.2019; vgl. TN 31.5.2019). Die afghanische Regierung war weder an den beiden Friedensgesprächen in Doha, noch an dem Treffen in Moskau beteiligt (Qantara 12.2.2019; vgl. NYT 7.3.2019), was Unbehagen unter einigen Regierungsvertretern auslöste und die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Regierungen beeinträchtigte (REU 18.3.2019; vgl. WP 18.3.2019).

Vom 29.4.2019 bis 3.5.2019 tagte in Kabul die "große Ratsversammlung" (Loya Jirga). Dabei verabschiedeten deren Mitglieder eine Resolution mit dem Ziel, einen Friedensschluss mit den Taliban zu erreichen und den innerafghanischen Dialog zu fördern. Auch bot Präsident Ghani den Taliban einen Waffenstillstand während des Ramadan von 6.5.2019 bis 4.6.2019 an, betonte aber dennoch, dass dieser nicht einseitig sein würde. Des Weiteren sollten 175 gefangene Talibankämpfer freigelassen werden (BAMF 6.5.2019). Die Taliban nahmen an dieser von der Regierung einberufenen Friedensveranstaltung nicht teil (HE 16.5.2019).

Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 3.9.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison - was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.4.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.6.2019; vgl. AJ 12.4.2019; NYT 12.4.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.4.2019; vgl. NYT 12.4.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen, waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.6.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt - dies hatte zum Ziel die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.1.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss. Als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten - als Reaktion auf einen Anschlag - absagte (DZ 8.9.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 6.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 3.9.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 7.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.8. - 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. (SIGAR 30.4.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran ihr Ziel zu erreichen (USDOD 6.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 3.9.2019).

So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 3.9.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 7.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 7.12.2018; vgl. ARN 23.6.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit - insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan. (UNGASC 3.9.2019).

Für das gesamte Jahr 2018, registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.2.2019).

Für den Berichtszeitraum 10.5. bis 8.8.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevanter Vorfälle - eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 3.9.2019). Für den Berichtszeitraum 8.2-9.5.2019 registrierte die UN insgesamt 5.249 sicherheitsrelevante Vorfälle - ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.6.2019).

Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften, weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet - 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UNGASC 3.9.2019).

Im Gegensatz dazu, registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit 29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten, beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).

Folgender Tabelle kann die Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen pro Jahr im Zeitraum 2016-2018, sowie bis einschließlich August des Jahres 2019 entnommen werden:

Tab. 1: Anzahl sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan lt. INSO 2016-8.2019, monatlicher Überblick (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf INSO-Daten (INSO o.D.)

2016 2017 2018 2019

Jänner 2111 2203 2588 2118

Februar 2225 2062 2377 1809

März 2157 2533 2626 2168

April 2310 2441 2894 2326

Mai 2734 2508 2802 2394

Juni 2345 2245 2164 2386

Juli 2398 2804 2554 2794

August 2829 2850 2234 2443

September 2493 2548 2389 -

Oktober 2607 2725 2682 -

November 2348 2488 2086 -

Dezember 2281 2459 2097 -

insgesamt 28.838 29.866 29.493 18.438

Global Incident Map (GIM) verzeichnete in den ersten drei Quartalen des Jahres 2019 3.540 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahr 2018 waren es 4.433. Die folgende Grafik der Staatendokumentation schlüsselt die sicherheitsrelevanten Vorfälle anhand ihrer Vorfallarten und nach Quartalen auf (BFA Staatendokumentation 4.11.2019):

Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56% auf 54% der Distrikte ab, die Kontrolle bzw. Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15% auf 12%. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29% auf 34%. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5% zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6% der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast zwei Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.1.2019).

Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39% der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37% von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20% der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4% der Distrikte (MA 14.1.2019).

Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation (SIGAR 30.4.2019). Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019).

Zivile Opfer

Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 1.1.-30.9.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) - dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41% der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September - im Gegensatz zu 2019 - von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 17.10.2019).

Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) (SIGAR 30.4.2019) berichtet bzw. dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge, entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5% bzw. 11% bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die meisten zivilen Opfer wurden im Jahr 2018 in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab verzeichnet, wobei die beiden Provinzen mit der höchsten zivilen Opferanzahl - Kabul (1.866) und Nangarhar (1.815) - 2018 mehr als doppelt so viele Opfer zu verzeichnen hatten, wie die drittplatzierte Provinz Helmand (880 zivile Opfer) (UNAMA 24.2.2019; vgl. SIGAR 30.4.2019). Im Jahr 2018 stieg die Anzahl an dokumentierten zivilen Opfern aufgrund von Handlungen der regierungsfreundlichen Kräfte um 24% gegenüber 2017. Der Anstieg ziviler Opfer durch Handlungen regierungsfreundlicher Kräfte im Jahr 2018

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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