Entscheidungsdatum
07.04.2020Norm
BFA-VG §22aSpruch
W171 2136620-1/31E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Gregor MORAWETZ, MBA als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , alias XXXX alias XXXX geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Marokko, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung - Diakonie, gegen die Anhaltung aufgrund des Bescheides der Landespolizeidirektion XXXX vom 22.04.2013, XXXX , zu Recht erkannt:
A)
I. Der Beschwerde wird stattgegeben und die Anhaltung des Beschwerdeführers in Schubhaft vom 30.09.2016 bis zum 14.10.2016 für rechtswidrig erklärt.
II. Gemäß § 35 Abs. 2 VwGVG iVm § 1 Z. 1 VwG-AufwErsV hat der Bund dem Beschwerdeführer zu Handen seines ausgewiesenen Vertreters Aufwendungen in Höhe von ? 737,60 Euro binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
III. Der Antrag der Behörde auf Kostenersatz wird gemäß § 35 Abs. 3 VwGVG abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1.1.
Der Beschwerdeführer (in Folge: BF) reiste nach eigenen Angaben im Jahr 2006 in Österreich ein und stellte seither insgesamt drei Anträge auf internationalen Schutz.
1.2.
Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 20.10.2008, rechtskräftig seit 21.03.2009, wurde gegen den BF ein unbefristetes Rückkehrverbot erlassen. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 22.06.2010 wurde in Zuge einer asylrechtlichen Entscheidung gegen den BF eine durchsetzbare Ausweisung ausgesprochen.
1.3.
Im Stande der Untersuchungshaft wurde über den BF mit Bescheid vom 22.04.2013 zur Zahl XXXX der LPD XXXX die Schubhaft verhängt und ausgesprochen, dass die Rechtsfolgen dieses Bescheides erst nach Entlassung aus der Gerichtshaft eintreten sollen. Der Bescheid wurde dem BF nachweislich in der Haftanstalt persönlich überreicht.
1.4.
Der BF wurde seit dem Jahr 2007 in Österreich insgesamt sieben Mal durch verschiedene Landesgerichte rechtskräftig verurteilt. Zuletzt wurde er mit Urteil eines Landesgerichtes vom 15.11.2013 rechtskräftig zu einer Haftstrafe von vier Jahren und acht Monaten verurteilt. Er war vom 01.02.2013 bis 30.09.2016 in verschiedenen Justizanstalten in Untersuchungshaft bzw. in Strafhaft befindlich.
1.5.
Mit Schreiben vom 16.09.2016 wurde dem BF im Rahmen eines Verfahrens zur Erlassung einer Rückkehrentscheidung ein schriftliches Parteiengehör zur Stellungnahme hinsichtlich seiner persönlichen Verhältnisse übermittelt. In der durch den BF erstatteten Stellungnahme zum Parteiengehör führte dieser mit Schriftsatz vom 21.09.2016 aus, er halte sich seit Oktober 2006 in Österreich auf und sei ihm daher die ihm vorgehaltenen Verurteilungen aus den Jahren 1998 bis 2004 nicht zuzuordnen. Er habe eine Tochter, welche sich bei Pflegeeltern befinde. Er versuche gerade regelmäßigen Kontakt zu ihr aufzubauen. Eine Beziehung zur Kindesmutter sei nicht mehr aufrecht, dennoch könne er nach der Haft bei den Eltern der Kindesmutter wohnen. Er sei nicht verheiratet, habe kein Vermögen und lediglich Kontakt zur Kindesmutter und deren Eltern. Er spreche mittlerweile recht gut Deutsch und wolle wieder Kontakt mit seiner Tochter aufbauen. In Marokko lebe lediglich seine Mutter mit welcher er manchmal telefoniere. Er sei gesund und gäbe es keine weiteren Bindungen mehr zu Marokko.
1.6.
Am 19.09.2016 wurde seitens des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (in Folge: BFA) die Buchung eines Abschiebefluges des BF veranlasst. Mit 21.09.2016 wurde die Flugbuchung bestätigt.
1.7.
Der BF wurde am 30.09.2016 aus der Strafhaft entlassen und direkt in die gegenständliche Schubhaft übernommen.
1.8.
Mit Beschwerde der ARGE Rechtsberatung - Diakonie vom 06.10.2016 wurde gegen die Anhaltung des BF gem. § 22 a BFA-VG das Rechtsmittel der Beschwerde erhoben. Die gegenständliche Beschwerde wurde mit 07.10.2016 am Bundesverwaltungsgericht einlangend protokolliert.
Im Wesentlichen führte die Rechtsvertretung aus, dass der BF nach seiner Entlassung aus der Justizanstalt auf Basis einer unbekannten Rechtsgrundlage festgenommen und in Schubhaft genommen worden sei. Eine durch den Rechtsvertreter durchgeführte Akteneinsicht habe keinen näheren Aufschluss über die der Schubhaft zugrundeliegenden Rechtsgrundlagen gebracht, da der zur Einsicht gegebene Schubhaftakt offensichtlich unvollständig gewesen sei.
Der Beschwerdeführer habe eine Tochter und könne nach seiner Entlassung aus der Haft bei den Eltern seiner ehemaligen Lebensgefährtin (der Kindesmutter) wohnen. Da die Anhaltung des BF ohne Rechtsgrundlage erfolge, sei sie sohin rechtswidrig. In jedem Fall sei die Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit einer Schubhaft unter einzelfallbezogenen Abwägungen zwischen dem öffentlichen Interesse an der Sicherung der Außerlandesbringung und dem privaten Interesse an der Schonung der persönlichen Freiheit des Betroffenen vorzunehmen. Im gegenständlichen Fall werde vermutet, dass ein drei Jahre alter Schubhaftbescheid zur Begründung der Haft herangezogen worden sei. Eine vorgeschriebene Prüfung, ob der Freiheitsentzug notwendig und verhältnismäßig sei, müsse jedoch zeitnah vor der Verhängung der Maßnahme erfolgen. Ein drei Jahre alter Schubhaftbescheid erfülle diese Voraussetzungen jedenfalls nicht. Der Beschwerdeführer habe eine minderjährige Tochter in Österreich und könne bei der Ex-Lebensgefährtin und Kindesmutter Unterkunft nehmen. Er spreche mittlerweile Deutsch und werde das Bestehen eines Sicherungsbedarfes bestritten. Durch die Verweigerung der Akteneinsicht durch die Behörde sei der BF im Recht auf ein faires Verfahren verletzt worden. Akteneinsicht sei auf Verlangen für sämtliche Parteien im gleichen Umfang zu gewähren. Der zur Akteneinsicht bereitgestellte Akt habe lediglich die Strafakten des BF, sowie eine Flugbuchungsbestätigung enthalten. Der gegenständlich zugrundeliegende Schubhaftbescheid sei nicht Inhalt des Aktes gewesen.
Die Rechtsvertretung des BF beantragte den Ersatz etwaiger Dolmetschkosten, den Ersatz der gesetzmäßig vorgesehenen Kosten für den Schriftsatzaufwand der obsiegenden Partei, der gegenständlichen Beschwerde gem. § 22 Abs. 1 VwGVG die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen, im Rahmen einer mündlichen Verhandlung Zeugen einzuvernehmen, sowie die Anhaltung des Beschwerdeführers in Schubhaft für rechtswidrig zu erklären.
1.9.
Am 07.10.2016 legte das BFA dem Gericht den gegenständlichen Schubhaftakt und sämtliche Beiakten vor. Am 08.10.2016 stellte der BF seinen nunmehr dritten Asylantrag in Österreich. In der am 12.10.2016 abgehaltenen Erstbefragung führte der BF an, er habe niemanden mehr in Marokko. In Österreich habe er guten Kontakt zu seiner Freundin und habe hier auch eine Tochter. Mit seiner Mutter habe er seit mehreren Jahren keinen Kontakt. Diese sei glaublich ebenso wie sein Vater bereits verstorben. Er habe im Jahr 2006 wirtschaftliche Gründe als Fluchtgrund angegeben, wolle aber jetzt die Wahrheit sagen.
Der mit der Asylantragstellung verbundene faktische Abschiebeschutz wurde gem. § 12a AsylG aufgehoben.
1.10.
Mit Stellungnahmen des BFA vom 10.10.2016 und 11.10.2016 wurde ausgeführt, dass gegen den BF ein unbefristetes Rückkehrverbot aus dem Jahre 2009 und eine durchsetzbare Ausweisung aus dem Jahre 2010 bestehen würden. Es sei richtig, dass dem Beschwerdeführer am 16.09.2016 Parteiengehör eingeräumt und ihm mitgeteilt worden sei, dass es beabsichtigt sei, eine aufenthaltsbeendende Maßnahme zu erlassen und das Rückkehrverbot vom 22.10.2008 von Amts wegen aufzuheben. Die Aufhebung sei bis dato nicht erfolgt. Aufgrund der Angaben des BF im Rahmen dieses Parteiengehörs, sei das aufrechte Bestehen eines Sicherungsbedarfes und die Verhältnismäßigkeit der Inschubhaftnahme von Amts wegen überprüft worden und sei in weiterer Folge auf Basis des seinerzeit im Jahr 2013 bereits erlassene und unbekämpft gebliebenen Schubhaft-bescheides die direkte Überführung des BF am 30.09.2016 von Strafhaft in Schubhaft beschlossen worden. Eine neuerliche Erlassung einer Rückkehrentscheidung, wie zuvor beabsichtigt, sei als weitere Rechtsgrundlage für die Abschiebung rechtlich nicht erforderlich gewesen und habe man daher auf die bereits bestehenden Rechtsgrundlagen bzw. den Schubhaftbescheid zurückgegriffen. Dies sei auch der Vertretung des BF in der Form mitgeteilt worden und sei daher nicht von einer rechtswidrigen titellosen Anhaltung die Rede. Im Zuge des am 16.09.2016 durchgeführten Parteiengehörs sei auch eine neuerliche Prüfung der Voraussetzungen der seinerzeitigen Schubhaftverhängung, zeitnah vor tatsächlicher Vollstreckung der Schubhaft, durchgeführt worden.
Der Rechtsvertretung des BF sei im Vorfeld des gegenständlichen Beschwerdeverfahrens die umfassende Akteneinsicht an einem anderen Ort angeboten worden, da das BFA als zentralstrukturierte, aber monokratisch organisierte Behörde Akten oder Aktenbestandteile in unterschiedlichen regionalen Organisationseinheiten aufbewahren könne. Der seinerzeitige Schubhaftbescheid wurde im Jahr 2013 der geltenden Rechtslage entsprechend dem Beschwerdeführer nachweislich zugestellt. Von einer Befragung der Referentin möge Abstand genommen werden und werde weiters beantragt, das BVwG möge die Beschwerde abweisen und feststellen, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorlägen, sowie den Beschwerdeführer zum Ersatz der gesetzesmäßig vorgesehenen Kosten zu verpflichten.
1.11.
Mit Schriftsatz vom 11.10.2016 wurde dem Gericht bekannt gegeben, dass für den 13.10.2016 ein Termin bei der Marokkanischen Botschaft zur Erlangung eines Heimreisezertifikates vereinbart worden sei.
1.12.
Am 11.10.2016 wurde der Titelbescheid der LPD XXXX vom 22.04.2013 seitens des Gerichts an die Rechtsvertretung in Kopie übermittelt.
1.13.
Mit Schriftsatz vom 11.10.2016 erstattete die Rechtsvertretung des BF eine weitere Stellungnahme und führte im Wesentlichen aus, dass sich der Sachverhalt seit der Bescheiderlassung im Jahr 2013 nunmehr anders darstelle. Der BF könne zu seiner Ex-Lebensgefährtin, der Mutter seiner minderjährigen Tochter, ziehen. Dies sei bereits im Rahmen des Parteiengehörs vorgebracht worden. Die Tochter sei zwar nach wie vor bei Pflegeeltern untergebracht, die Kindesmutter sei jedoch schon länger bemüht, die Obsorge für die gemeinsame Tochter wieder zu erlangen. Darüber hinaus erwarte die Kindesmutter in den nächsten Monaten die Zuweisung einer Gemeindewohnung. Bis dahin könne der BF in der gemeinsamen Wohnung der Kindesmutter und ihres Vaters wohnen. Der BF verfüge über soziale Anknüpfungspunkte im Bundesgebiet und könne eine Unterkunft vorweisen. Er sei vorzeitig aus der Strafhaft entlassen worden und unter Verhängung einer Probezeit sei die Bewährungshilfe angeordnet worden. Am 08.10.2016 habe er einen neuerlichen Antrag auf internationalen Schutz gestellt über den noch nicht abgesprochen worden sei. Die unterlassene Durchführung einer neuerlichen Einvernahme und die Verhängung eines neuen Schubhaftbescheides belaste die bisherige und andauernde Anhaltung mit Rechtswidrigkeit. Da die belangte Behörde über den Zeitraum der bedingten Entlassung in Kenntnis war, hätte sie unter Durchführung eines ordentlichen Ermittlungsverfahrens die Notwendigkeit der Schubhaftverhängung, unter Wahrung des Parteiengehörs, überprüfen müssen. Aufgrund der offenkundig eingetretenen Änderung in der persönlichen Situation des BF sei der Vollzug eines drei Jahre alten Schubhaftbescheides eine schwerwiegende Verletzung des BF in seinem Recht auf persönliche Freiheit. Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung wäre daher unabdingbar gewesen. Abschließend wurde die zeugenschaftliche Einvernahme der Kindesmutter beantragt.
1.14.
Der BF wurde am 14.10.2016 (noch vor Zustellung der gerichtlichen Entscheidung im ersten Rechtsgang) vom BFA aus der Schubhaft entlassen.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Allgemein:
1.1. Der unter I. zusammengefasste Verfahrensgang wird zur Feststellung erhoben.
1.2. Der Beschwerdeführer befand sich auf Grundlage eines Schubhaftbescheides der LPD XXXX vom 22.04.2013 für die Zeit von 30.09.2016 bis 14.10.2016 in Schubhaft.
1.3. Zwischen der Schubhaftbescheiderlassung 2013 und dem Vollzug der Schubhaft per 30.09.2016 haben sich maßgebliche Umstände für die Beurteilung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit die Person des BF betreffend verändert, was aus der Stellungnahme des BF vom 21.09.2016 zum behördlichen Parteiengehör vom 16.09.2016 klar hervorgeht.
1.4. Die Behörde hat keine erkennbaren Ermittlungen zur persönlichen Situation des BF vor Beginn der Schubhaft getätigt und auch den BF zu seinem Vorbringen im Parteiengehör vom 16.09.2016 bzw. seiner Stellungnahme vom 21.09.2016 nicht einvernommen.
2. Beweiswürdigung:
Zu 1.1.: Der geschilderte Verfahrensgang ergibt sich aus den verfahrensgegenständlichen Akten und steht im Einklang mit dem diesbezüglichen Vorbringen des BF in Rahmen des Verfahrens.
Zu 1.2.: Im Rahmen des Verfahrens wurde der Schubhaftbescheid vom 22.04.2013 als Grundlage für die nun angefochtene Schubhaft festgestellt. Der Zeitpunkt der Inschubhaftnahme ist unstrittig. Mit e-mail des PAZ vom 14.10.2016, 1421 Uhr wurde mitgeteilt, dass der BF an diesem Tage bereits um 1240 Uhr entlassen worden war. Dies ergibt sich aus dem Akt des BVwG.
Zu 1.3.: Auf Grund der durch die Behörde vorgelegten Akten, insbesondere aus der Stellungnahme des BF zum gewährten Parteiengehör vom 21.09.2016 ergibt sich, dass sich in der Zeit zwischen der Schubhaftbescheiderlassung (2013) und dem Beginn der Schubhaft wesentliche Beurteilungskriterien geändert haben. Der BF führte in der Stellungnahme im Wesentlichen aus, er habe eine Tochter, die 2008 geboren worden sei, welche sich bei Pflegeeltern befinde. Er versuche gerade regelmäßigen Kontakt zu ihr aufzubauen. Eine Beziehung zur Kindesmutter sei nicht mehr aufrecht, dennoch könne er nach der Haft bei den Eltern der Kindesmutter wohnen. Er sei nicht verheiratet, habe kein Vermögen, jedoch Kontakt zur Kindesmutter und deren Eltern. Er spreche mittlerweile recht gut Deutsch und wolle wieder Kontakt mit seiner Tochter aufbauen.
Im seinerzeitigen Schubhaftbescheid vom 22.04.2013 wurde festgehalten, dass der BF lediglich wenige Monate hindurch eine Meldeadresse gehabt habe und an Briefkastenadressen obdachlos gemeldet gewesen sei. Zur Kindesmutter und zur Tochter habe kein Kontakt bestanden.
Es zeigte sich sohin, dass sich in den Punkten Wohnsitz und familiäre Kontakte nach Angaben des BF wesentliche, zu berücksichtigende Änderungen ergeben haben könnten, die einer näheren Klärung bedurft hätten.
Zu 1.4.:
Nach dem Akteninhalt im behördlichen Akt sind keine weiterführenden Ermittlungsschritte zu möglichen Änderung der familiären Kontakte und der Wohnmöglichkeit des BF erkennbar und wurde dieser diesbezüglich auch nicht ergänzend einvernommen.
3. Rechtliche Beurteilung:
3.1. Zu Spruchpunkt A. I.:
3.1.1. Gesetzliche Grundlage in der Fassung BGBl. I Nr. 100/2005, zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 70/2015:
Schubhaft
§ 76. (1) Fremde können festgenommen und angehalten werden (Schubhaft), sofern der Zweck der Schubhaft nicht durch ein gelinderes Mittel (§ 77) erreicht werden kann. Unmündige Minderjährige dürfen nicht in Schubhaft angehalten werden.
(2) Die Schubhaft darf nur dann angeordnet werden, wenn
1. dies zur Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme, zur Sicherung des Verfahrens über einen Antrag auf internationalen Schutz im Hinblick auf die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme oder der Abschiebung notwendig ist und sofern jeweils Fluchtgefahr vorliegt und die Schubhaft verhältnismäßig ist, oder
2. die Voraussetzungen des Art. 28 Abs. 1 und 2 Dublin-Verordnung vorliegen.
(3) Eine Fluchtgefahr im Sinne des Abs. 2 Z 1 oder im Sinne des Art. 2 lit n Dublin-Verordnung liegt vor, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sich der Fremde dem Verfahren oder der Abschiebung entziehen wird oder dass der Fremde die Abschiebung wesentlich erschweren wird. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen,
1. ob der Fremde an dem Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme mitwirkt oder die Rückkehr oder Abschiebung umgeht oder behindert;
2. ob der Fremde entgegen einem aufrechten Einreiseverbot, einem aufrechten Aufenthaltsverbot oder während einer aufrechten Anordnung zur Außerlandesbringung neuerlich in das Bundesgebiet eingereist ist;
3. ob eine durchsetzbare aufenthaltsbeendende Maßnahme besteht oder der Fremde sich dem Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme oder über einen Antrag auf internationalen Schutz bereits entzogen hat;
4. ob der faktische Abschiebeschutz bei einem Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23 AsylG 2005) aufgehoben wurde oder dieser dem Fremden nicht zukommt;
5. ob gegen den Fremden zum Zeitpunkt der Stellung eines Antrages auf internationalen Schutz eine durchsetzbare aufenthaltsbeendende Maßnahme bestand, insbesondere, wenn er sich zu diesem Zeitpunkt bereits in Schubhaft befand oder aufgrund § 34 Abs. 3 Z 1 bis 3 BFA-VG angehalten wurde;
6. ob aufgrund des Ergebnisses der Befragung, der Durchsuchung oder der erkennungsdienstlichen Behandlung anzunehmen ist, dass ein anderer Mitgliedstaat nach der Dublin-Verordnung zuständig ist, insbesondere sofern
a. der Fremde bereits mehrere Anträge auf internationalen Schutz in den Mitgliedstaaten gestellt hat oder der Fremde falsche Angaben hierüber gemacht hat,
b. der Fremde versucht hat, in einen dritten Mitgliedstaat weiterzureisen, oder
c. es aufgrund der Ergebnisse der Befragung, der Durchsuchung, der erkennungsdienstlichen Behandlung oder des bisherigen Verhaltens des Fremden wahrscheinlich ist, dass der Fremde die Weiterreise in einen dritten Mitgliedstaat beabsichtigt;
7. ob der Fremde seiner Verpflichtung aus dem gelinderen Mittel nicht nachkommt;
8. ob Auflagen, Mitwirkungspflichten, Gebietsbeschränkungen oder Meldeverpflichtungen gemäß §§ 56 oder 71 FPG, § 13 Abs. 2 BFA-VG oder 15a AsylG 2005 verletzt wurden, insbesondere bei Vorliegen einer aktuell oder zum Zeitpunkt der Stellung eines Antrags auf internationalen Schutzes durchsetzbaren aufenthaltsbeendenden Maßnahme;
9. der Grad der sozialen Verankerung in Österreich, insbesondere das Bestehen familiärer Beziehungen, das Ausüben einer legalen Erwerbstätigkeit beziehungsweise das Vorhandensein ausreichender Existenzmittel sowie die Existenz eines gesicherten Wohnsitzes.
(4) Die Schubhaft ist schriftlich mit Bescheid anzuordnen; dieser ist gemäß § 57 AVG zu erlassen, es sei denn, der Fremde befände sich bei Einleitung des Verfahrens zu seiner Erlassung aus anderem Grund nicht bloß kurzfristig in Haft. Nicht vollstreckte Schubhaftbescheide gemäß § 57 AVG gelten 14 Tage nach ihrer Erlassung als widerrufen.
(5) Wird eine aufenthaltsbeendende Maßnahme durchsetzbar und erscheint die Überwachung der Ausreise des Fremden notwendig, so gilt die zur Sicherung des Verfahrens angeordnete Schubhaft ab diesem Zeitpunkt als zur Sicherung der Abschiebung verhängt.
(6) Stellt ein Fremder während einer Anhaltung in Schubhaft einen Antrag auf internationalen Schutz, so kann diese aufrechterhalten werden, wenn Gründe zur Annahme bestehen, dass der Antrag zur Verzögerung der Vollstreckung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gestellt wurde. Das Vorliegen der Voraussetzungen ist mit Aktenvermerk festzuhalten; dieser ist dem Fremden zur Kenntnis zu bringen. § 11 Abs. 8 und § 12 Abs. 1 BFA-VG gelten sinngemäß.
3.1.2. Zur Judikatur:
Insbesondere ist in diesem Zusammenhang auf Art 1 Abs. 3 PersFrSchG 1988 hinzuweisen, aus dem sich das für alle Freiheitsentziehungen geltende Gebot der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit ergibt, deren Prüfung im Einzelfall eine entsprechende Interessenabwägung verlangt. Für die Schubhaft ergibt sich das im Übrigen auch noch aus der Wendung "... wenn dies notwendig ist, um ..." in Art 2 Abs. 1 Z 7 PersFrSchG 1988. Dementsprechend hat der VfGH - nachdem er bereits in seinem Erkenntnis vom 24.06.2006, B 362/06, die Verpflichtung der Behörden betont hatte, von der Anwendung der Schubhaft jedenfalls Abstand zu nehmen, wenn sie im Einzelfall nicht notwendig und verhältnismäßig ist - in seinem Erkenntnis vom 15.06.2007, B 1330/06 und B 1331/06, klargestellt, dass die Behörden in allen Fällen des § 76 Abs. 2 FrPolG 2005 unter Bedachtnahme auf das verfassungsrechtliche Gebot der Verhältnismäßigkeit verpflichtet sind, eine einzelfallbezogene Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der Sicherung des Verfahrens und der Schonung der persönlichen Freiheit des Betroffenen vorzunehmen. Der VwGH hat dazu beginnend mit dem Erkenntnis vom 30.08.2007, 2007/21/0043, mehrfach festgehalten, dass die Schubhaft auch dann, wenn sie auf einen der Tatbestände des § 76 Abs. 2 FrPolG 2005 gestützt werden soll, stets nur ultima ratio sein dürfe." (VwGH 02.08.2013, Zl. 2013/21/0008)
In VwGH 23.02.2017, Ra 2016/21/0347-10 hält dieser fest, dass ein Schubhaftbescheid, der, wie im dort gegenständlichen Fall, erst nach mehr als drei Jahren in Vollzug gesetzt werden soll, nicht ohne Weiteres als der Haft zugrundeliegender Titelbescheid herangezogen werden kann. Diesfalls hat eine Beurteilung zu erfolgen, ob zum Zeitpunkt des Vollzugsbeginns die Voraussetzungen für die Schubhaft noch (immer) vorliegen. Die vorzunehmende Prüfung der Rechtmäßigkeit der Schubhaft hat auf Basis der zum Zeitpunkt des Vollzugsbeginns geltenden Rechtslage zu erfolgen.
3.1.3. Im Hinblick auf die unter Punkt 3.1.2. zitierte Judikatur des VwGH wäre daher vor Vollzugsbeginn der Schubhaft durch die Behörde eine neuerliche Prüfung der für die Schubhaft notwendigen Voraussetzungen unter Berücksichtigung der gesetzlichen Bestimmungen in der Fassung zum Vollzugstag (§ 76 FPG in der Fassung BGBl. I Nr. 100/2005, zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 70/2015) durchzuführen gewesen.
Nach § 76 Abs. 3 Zi. 9 FPG in der anzuwendenden Fassung war in Bezug auf den BF daher der Grad der sozialen Verankerung in Österreich, insbesondere das Bestehen familiärer Beziehungen, das Ausüben einer legalen Erwerbstätigkeit beziehungsweise das Vorhandensein ausreichender Existenzmittel sowie die Existenz eines gesicherten Wohnsitzes einer aktuellen Überprüfung zu unterziehen.
Wie unter Punkt II 1) festgestellt wurde, hat die Behörde zum damaligen Zeitpunkt vorhandene Aktenteile, im Wesentlichen aber die Stellungnahme des BF vom 21.09.2016 als Entscheidungsgrundlage herangezogen. Aus dieser Stellungnahme ergibt sich jedoch nach Ansicht des erkennenden Gerichts ganz klar, dass sich seit der Bescheiderlassung (Schubhaftbescheid) im Jahre 2013 wesentliche Kriterien für die Beurteilung der Zulässigkeit der Schubhaft verändert haben. Dennoch sah die Behörde keine Veranlassung weitere Ermittlungsschritte in diese Richtung wie etwa eine Einvernahme des BF zu setzen oder aber das Vorbringen des BF zu verifizieren. Eine Prüfung des Vorbringens der Angaben des BF aufgrund der Stellungnahme vom 21.09.2016, die an sich geboten gewesen wäre, hat im Vorfeld der Inschubhaftnahme daher in keiner Weise stattgefunden, weshalb der angefochtene Bescheid mit Rechtswidrigkeit aufgrund eines mangelhaften Verfahrens behaftet ist. Richtigerweise hätte die Behörde geeignete Ermittlungsschritte wie etwa die Durchführung einer Einvernahme unmittelbar vor Beginn der Schubhaft setzen müssen bzw. die familiäre Situation des BF und das Vorhandensein eines gesicherten Wohnsitzes einer eingehenden Überprüfung unterziehen müssen.
Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.
3.1.4 Im vorliegenden Fall konnte von der Abhaltung einer mündlichen Verhandlung Abstand genommen werden, da sich die Rechtswidrigkeit der Anhaltung des BF in Schubhaft bereits durch Einsicht in die Verwaltungsakten ergeben hat.
4. Der BF wurde am 14.10.2016 (noch vor Zustellung der gerichtlichen Entscheidung im ersten Rechtsgang) vom BFA aus der Schubhaft entlassen. Der Ausspruch über die Zulässigkeit einer weiteren Fortsetzung der Schubhaft im Rahmen des ersten Rechtsganges war daher bereits im Zeitpunkt der Erlassung des Ersterkenntnisses obsolet und konnte im Rahmen dieses Erkenntnisses sohin unterbleiben.
Zu Spruchpunkt II u. III.:
2.1. Der VwGH hat im Erkenntnis vom 23.04.2015, Zl. XXXX , ausgeführt, dass die Beschwerde an das BVwG, soweit damit die dem (gemeint: rechtswidrigen) Schubhaftbescheid nachfolgende Anhaltung bekämpft wird, eine Beschwerde gegen die behauptete Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt darstellt, weshalb auch § 35 VwGVG zur Anwendung kommt, und zwar zumindest insoweit, als er einem Beschwerdeführer vor dem Verwaltungsgericht im Falle des Obsiegens in einem Beschwerdeverfahren wegen behaupteter Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt Kostenersatz einräumt.
§ 35 VwGVG lautet:
"(1) Die im Verfahren über Beschwerden wegen Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt (Art. 130 Abs. 1 Z 2 B-VG) obsiegende Partei hat Anspruch auf Ersatz ihrer Aufwendungen durch die unterlegene Partei.
(2) Wenn die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt für rechtswidrig erklärt wird, dann ist der Beschwerdeführer die obsiegende und die Behörde die unterlegene Partei.
(3) Wenn die Beschwerde zurückgewiesen oder abgewiesen wird oder vom Beschwerdeführer vor der Entscheidung durch das Verwaltungsgericht zurückgezogen wird, dann ist die Behörde die obsiegende und der Beschwerdeführer die unterlegene Partei.
(4) Als Aufwendungen gemäß Abs. 1 gelten:
1. die Kommissionsgebühren sowie die Barauslagen, für die der Beschwerdeführer aufzukommen hat,
2. die Fahrtkosten, die mit der Wahrnehmung seiner Parteirechte in Verhandlungen vor dem Verwaltungsgericht verbunden waren, sowie
3. die durch Verordnung des Bundeskanzlers festzusetzenden Pauschalbeträge für den Schriftsatz-, den Verhandlungs- und den Vorlageaufwand.
(5) Die Höhe des Schriftsatz- und des Verhandlungsaufwands hat den durchschnittlichen Kosten der Vertretung bzw. der Einbringung des Schriftsatzes durch einen Rechtsanwalt zu entsprechen. Für den Ersatz der den Behörden erwachsenden Kosten ist ein Pauschalbetrag festzusetzen, der dem durchschnittlichen Vorlage-, Schriftsatz- und Verhandlungsaufwand der Behörden entspricht.
(6) Die §§ 52 bis 54 VwGG sind auf den Anspruch auf Aufwandersatz gemäß Abs. 1 sinngemäß anzuwenden.
(7) Aufwandersatz ist auf Antrag der Partei zu leisten. Der Antrag kann bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung gestellt werden."
Die Höhe der im Verfahren vor den Verwaltungsgerichten über Beschwerden wegen Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 2 B-VG und Beschwerden wegen Rechtswidrigkeit eines Verhaltens einer Behörde in Vollziehung der Gesetze gemäß Art. 130 Abs. 2 Z 1 B-VG als Aufwandersatz zu leistenden Pauschalbeträge wird in § 1 der VwG-Aufwandersatzverordnung (VwG-AufwErsV), BGBl. II Nr. 517/2013, wie folgt festgesetzt. Dieser lautet:
"1. Ersatz des Schriftsatzaufwands des Beschwerdeführers als obsiegende Partei 737,60 Euro
2. Ersatz des Verhandlungsaufwands des Beschwerdeführers als obsiegende Partei 922,00 Euro
3. Ersatz des Vorlageaufwands der belangten Behörde als obsiegende Partei 57,40 Euro
4. Ersatz des Schriftsatzaufwands der belangten Behörde als obsiegende Partei 368,80 Euro
5. Ersatz des Verhandlungsaufwands der belangten Behörde als obsiegende Partei 461,00 Euro
6. Ersatz des Aufwands, der für den Beschwerdeführer mit dem Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens verbunden war (Schriftsatzaufwand) 553,20 Euro
7. Ersatz des Aufwands, der für die belangte Behörde mit dem Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens verbunden war (Schriftsatzaufwand) 276,60 Euro."
2.2. Im gegenständlichen Verfahren wurde gegen die Anhaltung in Schubhaft Beschwerde erhoben.
Da diese für rechtswidrig erklärt wurde, ist gemäß § 35 Abs. 2 VwGVG die beschwerdeführende Partei die obsiegende und die belangte Behörde die unterlegene Partei.
In der Beschwerde wurde von der beschwerdeführenden Partei beantragt, ihr Kostenersatz im Umfang der anzuwendenden Pauschalersatzverordnung (Schriftsatz- und Verhandlungsaufwand) zuzuerkennen.
Da im gegenständlichen Verfahren die Durchführung einer mündlichen Verhandlung unterbleiben konnte, war der von der belangten Behörde als unterlege Partei zu leistende Aufwandersatz auf den Ersatz des Schriftsatzaufwandes der beschwerdeführenden Partei in Höhe von 737,60 Euro zu beschränken.
Ein Kostenersatz für die Behörde besteht nach dem Gesetz in diesem Fall nicht.
Zu Spruchpunkt B. - Revision
Gemäß § 25a Abs. 1 des Verwaltungsgerichtshofgesetzes 1985 hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig, wenn die Entscheidung von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, wenn die Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, wenn es an einer Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes fehlt oder wenn die Frage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird bzw. sonstige Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vorliegen.
Wie bereits ausgeführt sind keine Auslegungsfragen hinsichtlich der anzuwendenden Normen hervorgekommen, es waren auch keine Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung zu lösen. Das maßgebliche Judikat des VwGH wurde zitiert. Die Revision war daher im Hinblick auf die eindeutige Rechtslage nicht zuzulassen.
Schlagworte
Änderung maßgeblicher Umstände Ermittlungsmangel familiäre Situation Kostenersatz Rechtswidrigkeit SchubhaftEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2020:W171.2136620.1.00Im RIS seit
28.07.2020Zuletzt aktualisiert am
28.07.2020