Entscheidungsdatum
08.04.2020Norm
BBG §40Spruch
W261 2222113-1/7E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Karin GASTINGER, MAS als Vorsitzende und die Richterin Mag. Karin RETTENHABER-LAGLER sowie den fachkundigen Laienrichter Herbert PICHLER als Beisitzerin und Beisitzer über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , gegen den Bescheid des Sozialministeriumservice, Landesstelle Wien, vom 17.06.2019, in der Fassung der Beschwerdevorentscheidung vom 24.07.2019, betreffend die Abweisung des Antrages auf Ausstellung eines Behindertenpasses zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
Die Beschwerdeführerin stellte am 29.04.2019 (einlangend) erstmals einen Antrag auf Ausstellung eines Parkausweises nach § 29b StVO beim Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (auch Sozialministeriumservice, in der Folge belangte Behörde), der entsprechend dem von der belangten Behörde zur Verfügung gestellten und von der Beschwerdeführerin ausgefüllten Antragsformular auch als Antrag auf Ausstellung eines Behindertenpasses unter Vornahme der Zusatzeintragung "Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung" in den Behindertenpass gilt und legte eine Reihe von ärztlichen Befunden vor.
Die belangte Behörde holte zur Überprüfung des Antrages ein Sachverständigengutachten eines Facharztes für Orthopädie ein. In dem auf Grundlage einer persönlichen Untersuchung der Beschwerdeführerin am 28.05.2019 erstatteten Gutachten vom 02.06.2019 stellte der medizinische Sachverständige bei der Beschwerdeführerin folgende Funktionseinschränkungen "Knietotalendoprothese links" und "degenerative Veränderungen der Wirbelsäule" und einen Gesamtgrad der Behinderung in Höhe von 30 von Hundert (in der Folge vH) fest.
Die belangte Behörde übermittelte der Beschwerdeführerin dieses Sachverständigengutachten mit Schreiben vom 04.06.2019 im Rahmen des Parteiengehörs und räumte dieser eine Frist zur Abgabe einer Stellungnahme ein.
Die Beschwerdeführerin führte in ihrer Stellungnahme vom 13.06.2019 aus, dass es richtig sei, dass sie öffentliche Verkehrsmittel benutzen könne, jedoch sei der Weg dorthin sehr beschwerlich, da sie von ihrer Wohnung zuerst Stiegen, dann einen für sie steilen Weg (Aussichtsweg) zu bewältigen habe. Der Weg zum öffentlichen Verkehrsmittel betrage ca. 500 Meter. Diese Strecke sei für sie nur mit einer Krücke möglich. Sie habe beim Gehen noch immer Schmerzen, weswegen sie auf die Krücke nicht verzichten könne. Sie könne mit dem Auto fahren, müsse jedoch beim Einsteigen die Türe weit öffnen, damit sie sich seitlich setzen könne, um das operierte Bein hineinheben zu können. Zu Hause sei ihr das in einem Garagenplatz leicht möglich, ihr wäre wichtig, dass sie dort parken könne, wo sie immer die Türe weit öffnen könne, damit das Ein- und Aussteigen problemlos funktioniere.
Mit dem angefochtenen Bescheid vom 17.06.2019 wies die belangte Behörde den Antrag auf Ausstellung eines Behindertenpasses gemäß §§ 40, 41 und 45 Bundesbehindertengesetz (BBG) ab und stellte einen Grad der Behinderung in Höhe von 30 vH fest. Die belangte Behörde legte dem Bescheid das eingeholte Sachverständigengutachten in Kopie bei.
Gegen diesen Bescheid erhob die Beschwerdeführerin fristgerecht Beschwerde und brachte zusammengefasst vor, dass das Stufen Steigen und abwärts Gehen für sie mit Schmerzen verbunden sei. Sie hoffe, dass aufgrund des der Beschwerde beigelegten Befundes ein positiver Bescheid erlassen werde. Die Beschwerdeführerin legte der Beschwerde einen ärztlichen Befund einer bildgebenden Diagnostik über ein MRT der Hüfte vom 04.07.2019 bei.
Die belangte Behörde nahm die Beschwerde zum Anlass, um ein ergänzendes medizinisches Sachverständigengutachten des befassten Facharztes für Orthopädie aufgrund der Aktenlage vom 19.07.2019 einzuholen. Der medizinische Sachverständige kommt zu dem Ergebnis, dass bei der Beschwerdeführerin die Funktionseinschränkungen "Knietotalendoprothese links", "Hüftgelenksarthrose beidseits" und "degenerative Veränderungen der Wirbelsäule" mit einem Gesamtgrad der Behinderung von 30 vH vorliegen würden.
Mit Beschwerdevorentscheidung vom 24.07.2019 wies die belangte Behörde die Beschwerde gegen den Bescheid vom 17.06.2019 ab. Die belangte Behörde schloss der Beschwerde das Gutachten des medizinischen Sachverständigen vom 19.07.2019 an.
Die Beschwerdeführerin erstattete fristgerecht mit Eingabe vom 06.08.2019 einen Vorlageantrag, welchem sie einen OP Bericht aus dem Jahr 1991 anschloss. Nach dieser OP sei ihr mitgeteilt worden, dass sie in Zukunft nur bis ca. 2 kg tragen und heben dürfe, sonst gebe es eine Verschlechterung. Daher sei es ihr nicht möglich, Einkäufe über dieses Gewicht alleine zu tätigen. Sie habe auch einen steilen Weg und Stufen zu bewältigen, um zu ihrer Wohnung zu gelangen.
Die belangte Behörde legte den Aktenvorgang dem Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) mit Schreiben vom 07.08.2019 vor, wo dieser am selben Tag in der Gerichtsabteilung W260 einlangte.
Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 21.01.2020 wurde das gegenständliche Beschwerdeverfahren der Gerichtsabteilung W260 abgenommen und der Gerichtsabteilung W261 neu zugeteilt, wo dieses am 12.02.2020 einlangte.
Das BVwG führte am 12.02.2020 eine Abfrage im Zentralen Melderegister durch, wonach die Beschwerdeführerin österreichische Staatsbürgerin ist, und ihren ordentlichen Wohnsitz im Inland hat.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Der Antrag auf Ausstellung eines Behindertenpasses langte am 29.04.2019 bei der belangten Behörde ein.
Die Beschwerdeführerin erfüllt die allgemeinen Voraussetzungen für die Ausstellung eines Behindertenpasses. Die Beschwerdeführerin hat ihren Wohnsitz im Inland.
Ausmaß der Funktionseinschränkungen der Beschwerdeführerin:
Allgemeinzustand: altersentsprechend.
Ernährungszustand: normal.
Größe: 160,00 cm Gewicht: 62,00 kg
Klinischer Status - Fachstatus:
Caput/Collum: unauffällig. Thorax: symmetrisch, elastisch. Abdomen: klinisch unauffällig, kein Druckschmerz.
Obere Extremitäten:
Rechtshänderin. Symmetrische Muskelverhältnisse. Die Durchblutung ist ungestört, die Sensibilität wird als ungestört angegeben. Benützungszeichen sind seitengleich. Sämtliche Gelenke sind klinisch unauffällig und frei beweglich. Grob- und Spitzgriff sind uneingeschränkt durchführbar. Nacken- und Kreuzgriff sind uneingeschränkt durchführbar.
Untere Extremitäten:
Der Barfußgang ist etwas verlangsamt, bei annähernd gleicher Schrittlänge. Zehenballen- Fersenstand und Einbeinstand mit anhalten, Anhocken ist knapp 1/2 möglich. Die Beinachse ist im Lot. Muskelverschmächtigung am linken Ober- und Unterschenkel. Beinlänge ist gleich. Die Durchblutung ist ungestört, die Sensibilität wird als ungestört angegeben. Die Fußsohlenbeschwielung ist seitengleich ausgebildet, das Fußgewölbe ist erhalten. Spreizfüße beidseits. Linkes Sprunggelenk: etwas verbreitert, bandfest. Linkes Knie: Blasse Narbe streckseitig. Kein wesentlicher intraartikulärer Erguss. Soweit bandfest. Endlagenschmerz beim Beugen. Übrige Gelenke sind bandfest und klinisch unauffällig.
Beweglichkeit: Hüften S 0-0-100 beidseits, R (S 90°) rechts 5-0-30, links 20-0-15, Knie S rechts 0-0-130, links 0-0-95, oberes Sprunggelenk 15-0-40 beidseits, unteres Sprunggelenk rechts frei, links 1/3 eingeschränkt.
Wirbelsäule:
Schultergürtel und Becken sind horizontal. Im Lot. Mäßig Streckhaltung der Lendenwirbelsäule. Die Rückenmuskulatur ist symmetrisch ausgebildet, kein Hartspann, kein Klopfschmerz, ISG und Ischiadicusdruckpunkte sind frei.
Beweglichkeit: Halswirbelsäule: allseits endlagig eingeschränkt. Brustwirbelsäule/Lendenwirbelsäule: FBA 10, Seitwärtsneigen und Rotation endlagig eingeschränkt.
Gesamtmobilität - Gangbild:
Kommt in Konfektionsschuhen ohne Gehhilfen zur Untersuchung, das Gangbild ist etwas vorsichtig, gering linkshinkend, insgesamt sicher. Das Aus- und Ankleiden wird im Stehen durchgeführt.
Status Psychicus: wach, Sprache unauffällig.
Bei der Beschwerdeführerin bestehen folgende Funktionseinschränkungen, die voraussichtlich länger als sechs Monate andauern werden:
1) Knietotalendoprothese links
2) Hüftgelenksarthrose beidseits
3) Degenerative Veränderungen der Wirbelsäule
Der Gesamtgrad der Behinderung beträgt 30 v. H.
Das führende Leiden 1 wird durch die Leiden 2 und 3 nicht erhöht, wegen fehlender wechselseitiger ungünstiger Leidensbeeinflussung in relevantem Ausmaß und zu geringer funktioneller Relevanz.
Die unwesentliche Funktionsbehinderung am linken Sprunggelenk erreicht keinen Grad der Behinderung.
Eine im MRT beschriebene Blasensenkung, ohne beklagter oder dokumentierter Beschwerden erreicht keinen Grad der Behinderung.
2. Beweiswürdigung:
Die Feststellungen hinsichtlich der Antragsstellung basieren auf dem Akteninhalt.
Die Feststellungen zum Wohnsitz bzw. gewöhnlichen Aufenthalt der Beschwerdeführerin im Inland basieren auf dem vom BVwG eingeholten Auszug aus dem Zentralen Melderegister.
Der Gesamtgrad der Behinderung gründet sich auf das seitens der belangten Behörde eingeholte Sachverständigengutachten eines Facharztes für Orthopädie vom 02.06.2019, basierend auf einer persönlichen Untersuchung der Beschwerdeführerin am 28.05.2019 und auf das Sachverständigengutachten des befassten medizinischen Sachverständigen aufgrund der Aktenlage vom 19.07.2019.
In diesen beiden Gutachten wird auf die Art der Leiden der Beschwerdeführerin und deren Ausmaß vollständig, nachvollziehbar und widerspruchsfrei eingegangen. Der medizinische Gutachter setzt sich auch umfassend und nachvollziehbar mit den vorgelegten Befunden sowie mit der Frage der wechselseitigen Leidensbeeinflussungen und dem Zusammenwirken der zu berücksichtigenden Gesundheitsschädigungen auseinander. Die getroffenen Einschätzungen, basierend auf den im Rahmen einer persönlichen Untersuchung erhobenen Befunden, entsprechen auch den festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen; die Gesundheitsschädigungen sind nach der Einschätzungsverordnung richtig eingestuft.
In seinem Sachverständigengutachten aufgrund der Aktenlage berücksichtigt der medizinische Sachverständige auch den aktuellen MRT Befund, welche die Beschwerdeführerin mit deren Beschwerde vom 16.07.2019 vorlegte, und ergänzte sein ursprüngliches Gutachten um Leiden 2, einer Hüftgelenksarthrose beidseits. Der Sachverständige geht daher in seinem Gutachten vom 19.07.2019 ausführlich auf sämtliche Befunde der Beschwerdeführerin, welche diese mit der Beschwerde vorlegte, ein.
Das Vorbringen der Beschwerdeführerin stellt insbesondere darauf ab, dass sie aufgrund ihrer Funktionseinschränkungen und der Steilheit des Weges, welchen sie zu benützen habe, um zu öffentlichen Verkehrsmitteln zu gelangen, nicht in der Lage sei, den Weg zu öffentlichen Verkehrsmitteln zu bewältigen. Weiters argumentiert die Beschwerdeführerin damit, dass sie Platz benötige, um in das Auto ein- und ausstiegen zu können, schließlich, dass sie nicht in der Lage sei, Einkäufe mit mehr als zwei Kilogramm Gewicht zu heben. Bei dieser Argumentation übersieht die Beschwerdeführerin, dass im gegenständlichen Beschwerdeverfahren nicht die Frage der Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel Verfahrensgegenstand ist, sondern die Frage, ob die Beschwerdeführerin aufgrund ihrer Funktionseinschränkungen und Leiden die Voraussetzungen für die Ausstellung eines Behindertenpasses erfüllt. Erst wenn sie diese Voraussetzungen erfüllen würde, was bedingen würde, dass sie aufgrund ihrer Leiden einen Gesamtgrad der Behinderung von zumindest 50 vH aufweist, kann in einem nächsten Verfahrensschritt beurteilt werden, ob die Voraussetzungen für die Zusatzeintragung ""Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung" in den Behindertenpass vorliegen, oder nicht.
Die Beschwerdeführerin zweifelte das Ergebnis der Begutachtung, genauer, dass bei ihr ein Gesamtgrad der Behinderung von 30 vH vorliegt, nicht an.
Die Beschwerdeführerin ist mit ihren Argumenten in der Beschwerde und im Vorlageantrag den Ausführungen des medizinischen Sachverständigen nicht und damit insbesondere auch nicht auf gleicher fachlicher Ebene entgegengetreten, steht es dem Antragsteller, so er der Auffassung ist, dass seine Leiden nicht hinreichend berücksichtigt wurden, nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes doch frei, das im Auftrag der Behörde erstellte Gutachten durch die Beibringung eines Gegengutachtens eines Sachverständigen seiner Wahl zu entkräften (vgl. etwa VwGH 27.06.2000, 2000/11/0093).
Seitens des BVwG bestehen folglich keine Zweifel an der Richtigkeit, Vollständigkeit, Widerspruchsfreiheit und Schlüssigkeit der vorliegenden Sachverständigengutachten vom 02.06.2019 und vom 19.07.2019 Diese werden daher in freier Beweiswürdigung der gegenständlichen Entscheidung zu Grunde gelegt.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A)
1. Zur Entscheidung in der Sache
Die gegenständlich maßgeblichen Bestimmungen des Bundesbehindertengesetzes (BBG) lauten:
"§ 40. (1) Behinderten Menschen mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt im Inland und einem Grad der Behinderung oder einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 50% ist auf Antrag vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (§ 45) ein Behindertenpass auszustellen, wenn
1. ihr Grad der Behinderung (ihre Minderung der Erwerbsfähigkeit) nach bundesgesetzlichen Vorschriften durch Bescheid oder Urteil festgestellt ist oder
2. sie nach bundesgesetzlichen Vorschriften wegen Invalidität, Berufsunfähigkeit, Dienstunfähigkeit oder dauernder Erwerbsunfähigkeit Geldleistungen beziehen oder
3. sie nach bundesgesetzlichen Vorschriften ein Pflegegeld, eine Pflegezulage, eine Blindenzulage oder eine gleichartige Leistung erhalten oder
...
5. sie dem Personenkreis der begünstigten Behinderten im Sinne des Behinderteneinstellungsgesetzes, BGBl. Nr. 22/1970, angehören.
(2) Behinderten Menschen, die nicht dem im Abs. 1 angeführten Personenkreis angehören, ist ein Behindertenpaß auszustellen, wenn und insoweit das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen auf Grund von Vereinbarungen des Bundes mit dem jeweiligen Land oder auf Grund anderer Rechtsvorschriften hiezu ermächtigt ist.
§ 41. (1) Als Nachweis für das Vorliegen der im § 40 genannten Voraussetzungen gilt der letzte rechtskräftige Bescheid eines Rehabilitationsträgers (§ 3) oder ein rechtskräftiges Urteil eines Gerichtes nach dem Arbeits- und Sozialgerichtsgesetz, BGBl. Nr. 104/1985, ein rechtskräftiges Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes oder die Mitteilung über die Gewährung der erhöhten Familienbeihilfe gemäß § 8 Abs. 5 des Familienlastenausgleichsgesetzes 1967, BGBl. Nr. 376. Das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen hat den Grad der Behinderung nach der Einschätzungsverordnung (BGBl. II Nr. 261/2010) unter Mitwirkung von ärztlichen Sachverständigen einzuschätzen, wenn
1. nach bundesgesetzlichen Vorschriften Leistungen wegen einer Behinderung erbracht werden und die hiefür maßgebenden Vorschriften keine Einschätzung vorsehen oder
2. zwei oder mehr Einschätzungen nach bundesgesetzlichen Vorschriften vorliegen und keine Gesamteinschätzung vorgenommen wurde oder
3. ein Fall des § 40 Abs. 2 vorliegt.
(2) Anträge auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme von Zusatzeintragungen oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung sind ohne Durchführung eines Ermittlungsverfahrens zurückzuweisen, wenn seit der letzten rechtskräftigen Entscheidung noch kein Jahr vergangen ist. Dies gilt nicht, wenn eine offenkundige Änderung einer Funktionsbeeinträchtigung glaubhaft geltend gemacht wird.
...
§ 42. (1) Der Behindertenpass hat den Vornamen sowie den Familien- oder Nachnamen, das Geburtsdatum, eine allfällige Versicherungsnummer, den Wohnort und einen festgestellten Grad der Behinderung oder der Minderung der Erwerbsfähigkeit zu enthalten und ist mit einem Lichtbild auszustatten. Zusätzliche Eintragungen, die dem Nachweis von Rechten und Vergünstigungen dienen, sind auf Antrag des behinderten Menschen zulässig. Die Eintragung ist vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen vorzunehmen.
...
§ 45. (1) Anträge auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme einer Zusatzeintragung oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung sind unter Anschluss der erforderlichen Nachweise bei dem Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen einzubringen.
(2) Ein Bescheid ist nur dann zu erteilen, wenn einem Antrag gemäß Abs. 1 nicht stattgegeben, das Verfahren eingestellt (§ 41 Abs. 3) oder der Pass eingezogen wird. Dem ausgestellten Behindertenpass kommt Bescheidcharakter zu.
(3) In Verfahren auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme von Zusatzeintragungen oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung hat die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts durch den Senat zu erfolgen.
(4) Bei Senatsentscheidungen in Verfahren gemäß Abs. 3 hat eine Vertreterin oder ein Vertreter der Interessenvertretung der Menschen mit Behinderung als fachkundige Laienrichterin oder fachkundiger Laienrichter mitzuwirken. Die fachkundigen Laienrichterinnen oder Laienrichter (Ersatzmitglieder) haben für die jeweiligen Agenden die erforderliche Qualifikation (insbesondere Fachkunde im Bereich des Sozialrechts) aufzuweisen.
§ 46 Die Beschwerdefrist beträgt abweichend von den Vorschriften des Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetzes, BGBl. I Nr. 33/2013, sechs Wochen. Die Frist zur Erlassung der Beschwerdevorentscheidung beträgt 12 Wochen. In Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht dürfen neue Tatsachen und Beweismittel nicht vorgebracht werden."
Die maßgebenden Bestimmungen der Verordnung des Bundesministers für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz betreffend nähere Bestimmungen über die Feststellung des Grades der Behinderung (Einschätzungsverordnung, BGBl. II. Nr. 261/2010 idgF BGBl II. Nr. 251/2012) lauten auszugsweise wie folgt:
"Behinderung
§ 1. Unter Behinderung im Sinne dieser Verordnung ist die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden körperlichen, geistigen oder psychischen Funktionsbeeinträchtigung oder Beeinträchtigung der Sinnesfunktionen zu verstehen, die geeignet ist, die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft, insbesondere am allgemeinen Erwerbsleben, zu erschweren. Als nicht nur vorübergehend gilt ein Zeitraum von mehr als voraussichtlich sechs Monaten.
Grad der Behinderung
§ 2. (1) Die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen sind als Grad der Behinderung zu beurteilen. Der Grad der Behinderung wird nach Art und Schwere der Funktionsbeeinträchtigung in festen Sätzen oder Rahmensätzen in der Anlage dieser Verordnung festgelegt. Die Anlage bildet einen Bestandteil dieser Verordnung.
(2) Bei Auswirkungen von Funktionsbeeinträchtigungen, die nicht in der Anlage angeführt sind, ist der Grad der Behinderung in Analogie zu vergleichbaren Funktionsbeeinträchtigungen festzulegen.
(3) Der Grad der Behinderung ist nach durch zehn teilbaren Hundertsätzen festzustellen. Ein um fünf geringerer Grad der Behinderung wird von ihnen mit umfasst. Das Ergebnis der Einschätzung innerhalb eines Rahmensatzes ist zu begründen.
Gesamtgrad der Behinderung
§ 3. (1) Eine Einschätzung des Gesamtgrades der Behinderung ist dann vorzunehmen, wenn mehrere Funktionsbeeinträchtigungen vorliegen. Bei der Ermittlung des Gesamtgrades der Behinderung sind die einzelnen Werte der Funktionsbeeinträchtigungen nicht zu addieren. Maßgebend sind die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander.
(2) Bei der Ermittlung des Gesamtgrades der Behinderung ist zunächst von jener Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, für die der höchste Wert festgestellt wurde. In der Folge ist zu prüfen, ob und inwieweit dieser durch die weiteren Funktionsbeeinträchtigungen erhöht wird. Gesundheitsschädigungen mit einem Ausmaß von weniger als 20 v.H. sind außer Betracht zu lassen, sofern eine solche Gesundheitsschädigung im Zusammenwirken mit einer anderen Gesundheitsschädigung keine wesentliche Funktionsbeeinträchtigung verursacht. Bei Überschneidungen von Funktionsbeeinträchtigungen ist grundsätzlich vom höheren Grad der Behinderung auszugehen.
(3) Eine wechselseitige Beeinflussung der Funktionsbeeinträchtigungen, die geeignet ist, eine Erhöhung des Grades der Behinderung zu bewirken, liegt vor, wenn
- sich eine Funktionsbeeinträchtigung auf eine andere besonders nachteilig auswirkt,
- zwei oder mehrere Funktionsbeeinträchtigungen vorliegen, die gemeinsam zu einer wesentlichen Funktionsbeeinträchtigung führen.
(4) Eine wesentliche Funktionsbeeinträchtigung ist dann gegeben, wenn das Gesamtbild der Behinderung eine andere Beurteilung gerechtfertigt erscheinen lässt, als die einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen alleine.
Grundlage der Einschätzung
§ 4. (1) Die Grundlage für die Einschätzung des Grades der Behinderung bildet die Beurteilung der Funktionsbeeinträchtigungen im körperlichen, geistigen, psychischen Bereich oder in der Sinneswahrnehmung in Form eines ärztlichen Sachverständigengutachtens. Erforderlichenfalls sind Experten aus anderen Fachbereichen - beispielsweise Psychologen - zur ganzheitlichen Beurteilung heran zu ziehen.
(2) Das Gutachten hat neben den persönlichen Daten die Anamnese, den Untersuchungsbefund, die Diagnosen, die Einschätzung des Grades der Behinderung, eine Begründung für die Einschätzung des Grades der Behinderung innerhalb eines Rahmensatzes sowie die Erstellung des Gesamtgrades der Behinderung und dessen Begründung zu enthalten.
..."
Zunächst ist rechtlich festzuhalten, dass der Grad der Behinderung im Beschwerdefall - wie dies auch die belangte Behörde zu Recht annahm - nach der Einschätzungsverordnung einzuschätzen war, was im Verfahren auch unbestritten geblieben ist.
Beim Leiden 1 der Beschwerdeführerin handelt es sich um eine Knietotalendoprothese links, welche der medizinische Sachverständige nach Position 02.05.20 der Einschätzungsverordnung als Funktionseinschränkung des Knies mittleren Grades einseitig richtig mit einem GdB von 30 % einstufte. Dabei berücksichtigte der medizinische Sachverständige, dass die Beschwerdeführerin bereits mehrfach am Knie operiert wurde, Muskelverschmälerungen am linken Bein vorliegen und eine mäßige Gangbildstörung und Gangleistungsminderung gegeben ist.
Das Leiden 2, welches aufgrund der Beschwerde der Beschwerdeführerin und den mit dieser vorgelegten MRT Befund der Hüften vom 04.07.2019 vom medizinischen Sachverständigen in dessen Sachverständigengutachten vom 19.07.2019 neu aufgenommen wurde, ist eine Hüftgelenksarthrose beidseits, welche der medizinische Sachverständige richtig nach Position 02.05.08 der Einschätzungsverordnung als Funktionseinschränkung der Hüftgelenke geringen Grades beidseits mit einem GdB von 20 % einstufte. Dabei berücksichtigte der medizinische Sachverständige, dass bei der Beschwerdeführerin keine relevanten Bewegungseinschränkungen vorliegen.
Beim Leiden 3 der Beschwerdeführerin handelt es sich um degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, welche der medizinische Sachverständige richtig nach der Position 02.01.01 der Einschätzungsverordnung als Funktionseinschränkung mittleren Grades mit einem GdB von 10 % einstufte. Der medizinische Sachverständige wählte richtigerweise den unteren Rahmensatz dieser Position, da bei der Beschwerdeführerin keine relevanten Funktionsbehinderungen objektivierbar sind.
Die Ermittlung des Gesamtgrades der Behinderung hat bei mehreren Funktionsbeeinträchtigungen nicht im Wege der Addition der einzelnen Werte der Funktionsbeeinträchtigungen zu erfolgen, sondern es ist bei Zusammentreffen mehrerer Leiden zunächst von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, für welche der höchste Wert festgestellt wurde, und dann ist zu prüfen, ob und inwieweit durch das Zusammenwirken aller zu berücksichtigenden Funktionsbeeinträchtigungen eine höhere Einschätzung des Grades der Behinderung gerechtfertigt ist (vgl. den eindeutigen Wortlaut des § 3 der Einschätzungsverordnung, sowie die auf diese Rechtslage übertragbare Rechtsprechung, VwGH 17.07.2009, 2007/11/0088; 22.01.2013, 2011/11/0209 mwN).
Wie oben unter Punkt 2. (Beweiswürdigung) ausgeführt, werden der gegenständlichen Entscheidung die beiden seitens der belangten Behörde eingeholte Sachverständigengutachten eines Facharztes für Orthopädie vom 02.06.2019 und vom 19.07.2019, beruhend auf einer persönlichen Untersuchung der Beschwerdeführerin am 28.05.2019 bzw. aufgrund der Aktenlage zu Grunde gelegt.
Der medizinische Sachverständige stellt in diesem Sachverständigengutachten vom 19.07.2019 fest, dass eine ungünstige wechselseitige Leidensbeeinflussung der Leiden der Beschwerdeführerin wegen geringer funktioneller Relevanz nicht besteht, woraus sich ein Gesamtgrad der Behinderung von 30 vH ergibt.
Mit einem Gesamtgrad der Behinderung von 30 vH sind die Voraussetzungen für die Ausstellung eines Behindertenpasses gemäß § 40 Abs. 1 BBG, wonach behinderten Menschen mit Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland und einem Grad der Behinderung oder einer Minderung der Erwerbstätigkeit von mindestens 50 vH ein Behindertenpass auszustellen ist, aktuell nicht erfüllt.
Im Übrigen ist aber auch darauf hinzuweisen, dass bei einer späteren Verschlechterung des Leidenszustandes die neuerliche Einschätzung des Grades der Behinderung nach Maßgabe des § 41 Abs. 2 BBG in Betracht kommt.
Die Beschwerde war daher spruchgemäß abzuweisen.
2. Zum Entfall einer mündlichen Verhandlung
Der im Beschwerdefall maßgebliche Sachverhalt ergibt sich aus dem Akt der belangten Behörde und insbesondere die von der belangten Behörde eingeholten medizinischen Sachverständigengutachten, welche auf einer persönlichen Untersuchung der Beschwerdeführerin bzw. aufgrund der Aktenlage beruht, auf alle Einwände und die im Verfahren vorgelegten Atteste der Beschwerdeführerin in fachlicher Hinsicht eingeht, und welchem die Beschwerdeführerin nicht substantiiert entgegengetreten ist. Die strittige Tatsachenfrage, genauer die Art und das Ausmaß der Funktionseinschränkungen der Beschwerdeführerin sind einem Bereich zuzuordnen, der von einem Sachverständigen zu beurteilen ist. Beide Parteien haben keinen Verhandlungsantrag gestellt. All dies lässt die Einschätzung zu, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und eine Entscheidung ohne vorherige Verhandlung im Beschwerdefall nicht nur mit Art. 6 EMRK und Art. 47 GRC kompatibel ist, sondern der Zweckmäßigkeit, Raschheit, Einfachheit und Kostenersparnis (§ 39 Abs. 2a AVG) gedient ist, gleichzeitig aber das Interesse der materiellen Wahrheit und der Wahrung des Parteiengehörs nicht verkürzt wird.
Zu Spruchteil B)
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht worden noch im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht hervorgekommen. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen.
Schlagworte
Behindertenpass Grad der Behinderung SachverständigengutachtenEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2020:W261.2222113.1.00Im RIS seit
28.07.2020Zuletzt aktualisiert am
28.07.2020