Entscheidungsdatum
14.04.2020Norm
AsylG 2005 §10Spruch
W192 2193673-1/20E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Ruso als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, gegen die Spruchpunkte IV. bis VI. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 09.03.2018, Zahl 1002678110-160088846, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 22.10.2019 zu Recht erkannt:
A) I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 10 AsylG 2005 i.dg.F, § 9 BFA-VG i.d.g.F. und § 52 FPG i.d.g.F. als unbegründet abgewiesen.
II. Die Spruchpunkte V. und VI. des Bescheides werden aufgehoben und es wird gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung des Beschwerdeführers in die Russische Föderation unzulässig ist.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang
1.1.1. Der Beschwerdeführer verließ im Jahr 2009 die Russische Föderation und reiste illegal in das Gebiet der Mitgliedstaaten ein. Er stellte am 12.08.2009 einen Antrag auf internationalen Schutz in Polen, reiste später weiter nach Frankreich und stellte dort am 14.01.2011 einen weiteren Asylantrag. Die französischen Behörden stellten in der Folge ein Wiederaufnahmegesuch an Polen, welches von Polen mit Schreiben vom 26.01.2011 positiv beantwortet wurde. Innerhalb der in der Dublin-Verordnung vorgesehenen Frist erfolgte jedoch keine Rücküberstellung des Beschwerdeführers von Frankreich nach Polen. In der Folge reiste der Beschwerdeführer illegal nach Österreich ein und brachte hier am 10.03.2014 seinen ersten Antrag auf internationalen Schutz ein. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl leitete ein Konsultationsverfahren ein und stellte letztlich ein Wiederaufnahmeersuchen an Frankreich. Da Frankreich nicht fristgerecht antwortete, wurde davon ausgegangen, dass gemäß Art. 25 Abs. 2 Dublin-III-VO die Verpflichtung Frankreichs, den Beschwerdeführer wieder aufzunehmen, eingetreten ist.
1.1.2. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) holte im Erstverfahren eine gutachterliche Stellungnahme einer Ärztin für Allgemeinmedizin und psychotherapeutische Medizin ein. Diese kam in ihrer gutachterlichen Stellungnahme vom 25.03.2014 zu dem Schluss, dass beim Beschwerdeführer aus aktueller Sicht weder eine belastungsabhängige krankheitswertige psychische Störung, noch sonstige psychische Krankheitssymptome vorliegen. Dass der Beschwerdeführer situativ sorgenvoll sei, scheine aus seiner derzeit bestehenden Lage im Asylverfahren nachvollziehbar; jedoch seien diese Sorgen noch nicht krankheitswertig.
1.1.3. In der Folge wies das BFA diesen ersten Antrag auf internationalen Schutz ohne in die Sache einzutreten mit Bescheid vom 12.04.2014, Zl. 1002678110 EAST-Ost, gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurück und sprach aus, dass Frankreich gemäß Art. 25 Abs. 2 iVm Art. 18 Abs. 1 lit. d der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates (im folgenden Dublin III-VO) zur Prüfung des Antrages zuständig sei, weiters wurde unter Spruchpunkt II. gemäß § 61 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz, BGBl. I Nr. 100/2005 (FPG) idgF die Außerlandesbringung des Antragstellers angeordnet und festgestellt, dass demzufolge gemäß § 61 Abs. 2 FPG dessen Abschiebung nach Frankreich zulässig sei.
In der dagegen gerichteten Beschwerde brachte der Beschwerdeführer zusammengefasst vor, krank zu sein und im Falle einer Überstellung nach Frankreich eine Verschlechterung seines Gesundheitszustandes zu befürchten. Er habe in Wien zwei Brüder, die ihm helfen könnten, seine Gesundheit wiederherzustellen.
1.1.4. Das Bundesverwaltungsgericht wies diese Beschwerde mit Erkenntnis vom 08.05.2014, W161 2007471-1/4E, gemäß § 5 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 144/2013, und § 61 FPG, BGBl. I Nr. 87/2012, als unbegründet ab.
Mit Schreiben vom 18.08.2014 wurden die französischen Behörden darüber in Kenntnis gesetzt, dass der Beschwerdeführer untergetaucht sei und sich die Überstellungfrist demnach auf 18 Monate verlängern würde.
1.2.1. Am 22.09.2014 stellte der Beschwerdeführer in Österreich den zweiten Antrag auf internationalen Schutz. Zusammengefasst gab der Beschwerdeführer bei der Befragung vom selben Tag an, nach dem damals negativen Ausgang seines Asylverfahrens in Österreich nach Frankreich gefahren zu sein und sich dort bis zum 20.05.2014 aufgehalten zu haben. Anschließend habe er sich nach Tschetschenien begeben, wo er am 24.05.2014 angekommen und sogleich von Leuten des Präsidenten Kadyrov verhaftet und für zwei Tage inhaftiert worden sei. Nach seiner Freilassung habe er sich bis zum 01.07.2014 bei einem Freund in Tschetschenien versteckt gehalten, der ihn danach in eine andere russische Stadt gebracht habe. Dort habe er sich wiederum bis zum 22.08.2014 bei einem Bekannten aufgehalten und sei in weiterer Folge mit dem Zug in die Ukraine gefahren. Nachdem er sich bis zum 19.09.2014 in der Ukraine aufgehalten habe, sei er schließlich schlepperunterstützt nach Österreich gereist. Er könne aber nicht angeben, welche Länder er im Zuge dieser Reise durchquert habe. Der Beschwerdeführer gab weiters an, nach Österreich zurückgekehrt zu sein, da man ihn in Tschetschenien verhaftet und zu einer Zusammenarbeit mit der Regierung gezwungen habe. Dazu befragt, ob es Beweise für seine Rückkehr nach Tschetschenien gebe, legte der Beschwerdeführer eine Zugfahrkarte von Rostov nach Kiew vom 22.08.2014 vor. Er wolle nunmehr in Österreich bei seinen Brüdern bleiben. Er wolle weder nach Polen noch nach Frankreich zurückkehren, da er Angst habe, von diesen Ländern nach Russland abgeschoben zu werden.
Nach Aufnahme eines Konsultationsverfahrens erteilte Frankreich mit Schreiben vom 04.11.2014 seine Zustimmung zur Wiederaufnahme des Beschwerdeführers gemäß Art. 18 Abs. 1 lit. d Dublin III-VO.
Im Zuge der Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Erstaufnahmestelle Ost am 19.11.2014 gab der Beschwerdeführer an, sich gut und in der Lage zu fühlen, der Einvernahme zu folgen. Über Vorhalt, dass er bereits eine rechtskräftig negative Entscheidung in Österreich habe, gab der Beschwerdeführer an, am 11.05.2014 über Frankreich nach Tschetschenien zurückgekehrt zu sein, wo er für zwei Tage inhaftiert worden sei. Am 01.06.2014 habe ihn ein Freund nach Rostov gebracht; am 22.08.2014 habe er sich in die Ukraine begeben und sei dort bis zum 19.09.2014 verblieben. Danach sei er am 22.09.2014 schlepperunterstützt nach Österreich gekommen. Die Frage, ob er Beweismittel über seine angebliche Rückkehr vorlegen könne, verneinte der Beschwerdeführer. Sein Asylverfahren in Frankreich sei mehrmals negativ entschieden worden. Er habe jedoch während seines dortigen Aufenthaltes keine Probleme mit den Behörden oder sonstigen Personen gehabt. Nichtsdestotrotz wolle er nicht nach Frankreich zurückkehren, da er befürchte, von dort nach Polen und in weiterer Folge nach Russland abgeschoben zu werden. Der Beschwerdeführer habe den Wunsch, bei seinen beiden in Österreich lebenden Brüdern zu bleiben. Die genannten Brüder seien seit mehr als vier Jahre in Österreich aufhältig. Einer dieser Brüder sei derzeit arbeitslos; der andere Bruder sei Student. Abgesehen davon, dass der Beschwerdeführer eine "gute" Beziehung zu seinen Brüdern habe, ab und zu bei ihnen übernachte und Essen von diesen erhalte, benötige er aufgrund seines angeschlagenen Gesundheitszustandes auch deren "moralische Unterstützung.".
1.2.2. Mit Bescheid des Bundesamtes vom 01.12.2014, Zl. 1002678110-14996615, wurde dieser zweite Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und ausgesprochen, dass für die Prüfung des gegenständlichen Antrages gemäß Art. 18 Abs. 1 lit. d der Dublin III-VO Frankreich zuständig sei. Gemäß § 61 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz, BGBl. I Nr. 100/2005 (FPG) idgF wurde in Spruchpunkt II. gegen den Beschwerdeführer die Außerlandesbringung angeordnet. Demzufolge sei gemäß § 61 Abs. 2 FPG dessen Abschiebung nach Frankreich zulässig.
Nach einer Zusammenfassung des Verfahrensganges und der Einvernahmen stellte die Behörde fest, dass im gegenständlichen Fall Frankreich für die Führung des Asylverfahrens zuständig sei und sich die französischen Behörden mit Schreiben vom 04.11.2014 gemäß Art. 18 Abs. 1 lit. d der Dublin-III-VO für zuständig erklärt hätten. Der Beschwerdeführer leide an keinen Erkrankungen, die seiner Überstellung nach Frankreich im Wege stehen würden.
1.2.3. Gegen den genannten Bescheid richtete sich die fristgerecht eingebrachte Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. Mit Schreiben des BFA vom 22.04.2015 wurde den französischen Behörden zur Kenntnis gebracht, dass der Beschwerdeführer untergetaucht sei und sich daher die Überstellungsfrist auf 18 Monate verlängere.
1.2.4. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 11.05.2015, W185 2007471-2/4E, wurde die den zweiten Antrag betreffende Beschwerde gemäß § 5 AsylG 2005 und § 61 FPG als unbegründet abgewiesen.
Begründend wurde näher ausgeführt, dass - vor dem Hintergrund der getroffenen Feststellungen - im vorliegenden Fall keine Verletzung von Bestimmungen der GRC oder der EMRK zu befürchten sei. Daher habe auch keine Veranlassung bestanden, von dem in Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO vorgesehenen Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen und eine inhaltliche Prüfung des Antrages auf internationalen Schutz vorzunehmen.
1.2.5. Dieses das Zweitverfahren rechtskräftig beendende hg. Erkenntnis wurde dem Beschwerdeführer mit Wirksamkeit 26.06.2015 zugestellt.
1.3.1. Am 18.01.2016 stellte der Beschwerdeführer in Österreich den nunmehr verfahrensgegenständlichen dritten Antrag auf ihn internationalen Schutz. Bei seiner Erstbefragung vom selben Tag gab er an, an keinen Beschwerden oder Krankheiten zu leiden, die ihn an der Einvernahme hindern oder das Asylverfahren in der Folge beeinträchtigen könnten. Er habe seit seiner letzten Antragstellung Österreich nicht verlassen. Er habe aber Ergänzungen zu machen: Er habe in Österreich geheiratet, habe aber keine Heiratsurkunde, die Eheschließung sei in Österreich nicht anerkannt. Nach Frankreich wolle er nicht zurück, da seine Brüder auch hier in Österreich leben würden.
1.3.2. Dem Aktenvermerk des BFA vom 19.01.2016 ist zu entnehmen, dass die Erstbehörde das Vorliegen der Voraussetzungen nach § 12a Abs. 1 AsylG 2005 geprüft, diese Voraussetzungen für gegeben erachtet und festgestellt habe, dass faktischer Abschiebeschutz ex lege nicht bestehe. Die Zustimmung Frankreichs zur Rückübernahme des Beschwerdeführers liege seit 04.11.2014 vor, aufgrund unbekannten Aufenthalts des Beschwerdeführers sei die Überstellungsfrist auf insgesamt 18 Monate verlängert worden.
Dem Bericht der Landespolizeidirektion Niederösterreich vom 21. 01.2016 ist zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer am 21.01.2016 auf dem Luftweg nach Frankreich abgeschoben wurde.
1.3.3. Mit Bescheid des BFA vom 02.02.2016 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz ohne in die Sache einzutreten gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen. Begründet wurde diese Entscheidung nach Darstellung der derzeitigen Lage in Frankreich, welche Darstellung ident mit jener des das Zweitverfahren beendenden Erkenntnisses ist, unter Hinweis auf die Angaben des Beschwerdeführers, wonach keine neuen Gründe vorliegen würden, welche einer Überstellung nach Frankreich entgegenstehen würden, mit der Identität der Rechtssache. Zur Überstellungsfrist wurde ausgeführt, dass sich "aufgrund der Verlängerung der Überstellungsfrist gemäß Art. 19 (4) bzw. 20 (2) der Dublin-II-Verordnung auf 18 Monate [...] die Zulässigkeit der Überstellung nach Frankreich bis 04.05.2016" ergeben habe.
1.3.4. Gegen diesen Bescheid wurde fristgerecht Beschwerde erhoben. Darin wurde zunächst vorgebracht, ausgehend von der ersten fiktiven Annahme des österreichischen Aufnahmegesuchs im Frühjahr 2014 durch Frankreich sei die Überstellungsfrist zum Zeitpunkt der dritten Antragstellung am 18.01.2016 bereits abgelaufen gewesen. Weiters wurde ausgeführt, der Beschwerdeführer lebe in Lebensgemeinschaft mit einer namentlich genannten in Österreich asylberechtigten Frau, die ihr gemeinsames Kind erwarte. Der Verwaltungsgerichtshof habe (in einem näher zitierten) Erkenntnis klargestellt, dass es entscheidend darauf ankomme, ob zum Zeitpunkt der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme absehbar sei, dass der Fremde demnächst Vater eines in Österreich dauernd aufenthaltsberechtigten Kindes werden würde und auf den bei normalem Verlauf biologisch vorgegebenen Eintritt abgestellt. Vor diesem Hintergrund sei die belangte Behörde zum Selbsteintritt verpflichtet.
Unter einem wurde ein Mutter-Kind-Pass der namhaft gemachten Frau vorgelegt.
Mit ergänzender Eingabe vom 03.03.2016 brachte der Beschwerdeführer durch seinen ausgewiesenen Vertreter vor, dem Beschwerdeführer sei bei seiner Erstbefragung nicht gestattet worden, dass ihn seine damals schwangere Lebensgefährtin zur Erstbefragung begleite. Obwohl der Beschwerdeführer Angaben zu seiner asylberechtigten Lebensgefährtin und der bevorstehenden Geburt des gemeinsamen Kindes habe erstatten wollen, sei diese Tatsache der bevorstehenden Geburt nicht in das Protokoll aufgenommen worden. Es sei aber zumindest angeführt worden, dass der Beschwerdeführer in Österreich geheiratet habe. Dieser Umstand stelle eine Neuerung im Vergleich zum Vorverfahren dar und die Behörde hätte eine weitere Einvernahme durchführen müssen.
1.3.5 Mit Schreiben vom 29.04.2016 brachte der Beschwerdeführer eine Stellungnahme ein und führte aus, er befinde sich seit Anfang Februar 2016 wieder im Bundesgebiet. Er sei mit der schon im Verfahren namhaft gemachten asylberechtigten Frau verheiratet, die einen minderjährigen Sohn habe. 2016 sei inzwischen der gemeinsame Sohn zur Welt gekommen, dem mit Bescheid vom 04.03.2016 der Status eines Asylberechtigten zuerkannt worden sei. Er kümmere sich auch um seinen Sohn. Das gemeinsame Familienleben können nur in Österreich fortgesetzt werden, da dem Beschwerdeführer in Frankreich nach mehreren Abweisungen seiner Asylanträge die Ausweisung in die Russische Föderation drohe und weder Ehegattin noch ihr älterer Sohn noch der gemeinsame Sohn in Russland leben könnten, da sie dort gefährdet wären.
1.3.6. Der mit Schriftsatz vom 18.04.2016 gestellte neuerliche (4.) Antrag des Beschwerdeführers auf Gewährung internationalen Schutzes wurde dem Bundesverwaltungsgericht mit Schreiben des BFA vom 27.07.2016 als Ergänzung zum anhängigen Beschwerdeverfahren übermittelt (§ 17 Abs. 8 AsylG 2005).
1.3.7. Das Bundesverwaltungsgericht hat mit seinem Erkenntnis vom 05.08.2016 der Beschwerde gemäß § 21 Abs. 3 BFA-VG stattgegeben und den bekämpften Bescheid behoben. Begründend führte es unter Hinweis auf das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 11.06.2015, E 1286/2014 aus, dass sich die Sach- und Rechtslage seit der Stellung des Folgeantrages des Beschwerdeführers am 18.01.2016 insofern geändert habe, als mit der erfolgten Geburt eines Kindes, dessen Vater offenkundig der Beschwerdeführer sei und dem asylrechtlicher Schutz in Österreich zukomme, ein gemeinsames Familienleben im Schutzbereich des Rechts auf Achtung des Familienlebens im Sinne von Art. 8 Abs. 1 EMRK bestehe. Der mit der Wahrnehmung der Unzuständigkeit Österreichs bewirkte Eingriff in dieses Recht könne ohne Abwägung der geschützten subjektiven Interessen gegen die in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten öffentlichen Interessen nicht gerechtfertigt werden und es sei erforderlich, auf Grundlage von konkret zu treffenden Sachverhaltsfeststellungen eine entsprechende Interessenabwägung vorzunehmen.
2.1. Im fortgesetzten Verfahren erfolgte am 23.10.2017 eine weitere Einvernahme des Beschwerdeführers vor dem BFA, wobei dieser angab, dass er gesund sei. Er brachte vor, dass seine Lebensgefährtin mittlerweile sein zweites Kind zur Welt gebracht habe, dem mit Bescheid des BFA der Status einer Asylberechtigten zuerkannt worden sei. Er legte weiters eine Bestätigung des Besuches eines Deutschkurses vor, wobei er einige auf Deutsch gestellte Fragen nur zum Teil in gebrochenem Deutsch beantworten konnte. Er kündigte an, dass er in 2 bis 3 Monaten Deutsch reden werde können und das erste Mal im Kurs sei.
Der Beschwerdeführer habe im Herkunftsstaat neun Jahre lang die Schule besucht und sei danach einer Beschäftigung als Taxilenker nachgegangen. Er sei erstmals 2009 in Polen in das Gebiet der Mitgliedstaaten eingereist und 2014 nach Österreich gekommen, wo er Ende 2014 seine Lebensgefährtin kennengelernt und diese Anfang 2015 nach traditionellem muslimischen Ritus geheiratet habe. Er habe sich seit 2014 nahezu durchgehend in Österreich aufgehalten, sei jedoch 2016 nach Frankreich abgeschoben worden und danach wieder illegal nach Österreich eingereist.
Seine Ehe sei in Österreich nicht standesamtlich geschlossen worden. Neben seinen beiden in Österreich geborenen Kindern habe der Beschwerdeführer in Tschetschenien einen nunmehr 15 Jahre alten Sohn von seiner ersten Frau. Er habe sich von dieser 2009 getrennt. Die Scheidung von dieser Frau sei über Telefon vorgenommen worden.
Zu den Gründen seiner Ausreise brachte der Beschwerdeführer vor, dass er Probleme mit der Polizei gehabt habe. Er sei wegen seiner Tätigkeit als Taxifahrer aufgrund von Fahrten mit ihm unbekannten Personen verdächtigt worden, dass er Terroristen unterstütze. Er sei von der Polizei mitgenommen und geschlagen worden und aufgefordert worden, der Behörde Informationen zu geben. Der Beschwerdeführer habe zugesichert, die Polizei zu unterstützen, dies jedoch nicht getan. Im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat fürchte er, Repressionen ausgesetzt zu sein.
Der Beschwerdeführer habe seine Lebensgefährtin 2014 über das Internet kennengelernt und 10 bis 15 Mal gesehen und sie danach trotz seines unsicheren Aufenthaltes in Österreich traditionell muslimisch geheiratet. Die im Herkunftsstaat geschlossene Ehe des Beschwerdeführers sei auch standesamtlich registriert worden. Die vom Beschwerdeführer angesprochene Scheidung über Telefon sei nach moslemischem Recht zulässig. Aufgrund des Telefonates könne seine Frau zu Gericht gehen, um sich scheiden zu lassen; der Beschwerdeführer wisse nicht genau, ob sie es getan habe, aber wisse "ungefähr", dass sie den Reisepass geändert habe. Dies habe er aus telefonischen Kontakten mit seinem 15-jährigen Sohn erfahren. Die Eltern des Beschwerdeführers im Herkunftsstaat seien verstorben und er habe keine weiteren nahen Verwandten. Der Beschwerdeführer lebe in Österreich von staatlicher Unterstützung und wohne mit seiner Frau und seinen Kindern in einem Haushalt. Seine Lebensgefährtin sei einer Beschäftigung nachgegangen, bevor sie Kinder bekommen habe. In Österreich würden sich zwei Brüder des Beschwerdeführers befinden, eine Schwester sei in Frankreich.
Auf Befragen über eine mögliche Zukunft in Österreich brachte der Beschwerdeführer vor, dass er sich um seine Familie kümmern wolle, damit die Kinder auch eine Schulbildung bekommen. Er sei in keiner Organisation oder Verein tätig, habe sich auf das Lernen der Sprache konzentriert und habe am 24.11.2017 eine Deutschprüfung. Dann wolle er eine Arbeit als Taxifahrer suchen oder die Lenkerberechtigung als Autobusfahrer machen.
Der Beschwerdeführer habe keine österreichischen Bekannten, da er die Sprache nicht beherrsche. Er besuche von 08:00 bis 12:00 Uhr den Kurs, komme nach Hause und gehe danach mit seinem Sohn in den Park. Die Religion sei für den Beschwerdeführer das Wichtigste. Er bete fünfmal am Tag, trinke keinen Alkohol und tue nichts Unrechtes. Auf die Frage nach westlichen Werten brachte er vor, dass er die Kultur akzeptiere und die Menschen schätze, die Gesetze seien gut und es gebe Sicherheit.
Der Beschwerdeführer habe Kontakt zu seinen Brüdern und es würden zwei- bis dreimal in der Woche gegenseitige Besuche stattfinden.
Mit Eingabe vom 09.11.2017 legte der Beschwerdeführer durch seine Rechtsvertreterin eine russische Scheidungsurkunde vor.
2.2. Mit dem angefochtenen Bescheid des BFA wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation (Spruchpunkt II.) abgewiesen, ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass dessen Abschiebung in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.) und die Frist für dessen freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).
Im Rahmen der Entscheidungsbegründung wurde ausgeführt, dass die vorgebrachten Gründe für das Verlassen des Herkunftsstaates nicht glaubhaft gewesen seien. Die Behörde stützte dies auf näher bezeichnete Widersprüche in den Angaben des Beschwerdeführers über den behaupteten polizeilichen Übergriff sowie auf den Umstand, dass der Beschwerdeführer laut seinen eigenen Angaben im Mai 2014 nach Tschetschenien zurückgekehrt sei und dann für zwei Tage angehalten worden, aber danach wieder freigelassen worden sei, woraus ersichtlich sei, dass eine Verfolgungsgefahr seitens der Behörden des Herkunftsstaates nicht bestehe. Aufgrund der persönlichen Situation des Beschwerdeführers und der allgemeinen Lage im Herkunftsstaat würde keine refoulementschutzrechtlich relevante Gefährdung bestehen und es würden keine Hinderungsgründe gegen eine Rückkehrentscheidungen vorliegen, da dem Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der Aufnahme der Beziehung zu seiner nunmehrigen Lebensgefährtin die ungewisse aufenthaltsrechtliche Stellung bekannt gewesen sei. Auch im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation sei es dem Beschwerdeführer möglich, durch legale Einreisen den Kontakt zu seinen Familienangehörigen im Bundesgebiet aufrecht zu erhalten.
2.3. Gegen die Spruchpunkte IV. bis VI. dieses Bescheids brachte der Beschwerdeführer durch die damals bevollmächtigte Rechtsvertreterin mit Schriftsatz vom 11.04.2018 fristgerecht Beschwerde ein, in welcher begründend zusammengefasst ausgeführt wurde, dass der Beschwerdeführer in einer familiären Beziehung zu seiner Lebensgefährtin und seinen beiden in Österreich geborenen Kindern stehe. Die Behörde habe im Zuge ihrer Interessenabwägung nicht ausreichend darauf Bedacht genommen, dass diesen Personen der Status von Asylberechtigten zukommen und sie über ein dauerndes Aufenthaltsrecht verfügen würden. Daher sei eine Fortsetzung des Familienlebens im gemeinsamen Herkunftsstaat nicht möglich bzw. zumutbar. Die Behörde habe bei ihrer Entscheidung auch das Kindeswohl gänzlich außer Acht gelassen und den angefochtenen Bescheid dadurch mit Rechtswidrigkeit belastet. Sie habe nicht ermittelt, welche Auswirkungen die voraussichtlich nicht nur ganz kurze Trennung der beiden minderjährigen Kinder von ihrem Vater haben würden.
Der Beschwerde wurde eine Ausfertigung des am 11.02.2015 zwischen dem Beschwerdeführer und seiner Lebensgefährtin nach islamischer Tradition geschlossenen Ehevertrages angeschlossen.
2.4. Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des Bundesverwaltungsgerichtes vom 13.05.2019 wurde die gegenständliche Rechtssache der bis dahin zuständigen Gerichtsabteilung abgenommen und der nunmehr zuständigen Gerichtsabteilung neu zugewiesen.
2.5. Am 22.10.2019 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht zur Ermittlung des entscheidungsmaßgeblichen Sachverhaltes eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung statt, an welcher der Beschwerdeführer, dessen nunmehrige gewillkürte Vertreterin, eine Dolmetscherin für die russische Sprache sowie ein Vertreter des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl teilgenommen haben.
Der Beschwerdeführer brachte im Wesentlichen vor, er habe im November 2017 eine Deutschprüfung auf dem Niveau A1 bestanden und werde demnächst - als Vorbereitung für die A2-Prüfung - nochmals zur Prüfung auf dem Niveau A1 antreten. Der Beschwerdeführer habe seinen Lebensunterhalt bislang aus Mitteln der Grundversorgung bestritten und habe aufgrund seines aufenthaltsrechtlichen Status noch keine Erwerbstätigkeit oder gemeinnützige Tätigkeit ausgeübt. Wenn jemand Hilfe brauche, dann unterstütze er diesen unentgeltlich. Bislang sei er aufgrund seiner noch unzureichenden Deutschkenntnisse an keinen Verein oder eine Organisation herangetreten, um in diesem Rahmen eine gemeinnützige Tätigkeit auszuüben. Die Mutter seiner Kinder habe er über das Internet kennengelernt. Er habe seinen Brüdern gesagt, dass ihm diese Frau gefalle und er sie heiraten wolle; der ältere Bruder habe dann die Verwandten der Frau angerufen, es sei ein Hochzeitstermin festgelegt worden und sie hätten nach muslimischem Ritus geheiratet. Der Beschwerdeführer sei bereits im Herkunftsstaat verheiratet gewesen, habe sich jedoch von dieser ersten Frau scheiden lassen. Als die Probleme des Beschwerdeführers im Herkunftsstaat begonnen hätten, habe die erste Frau nicht mehr mit ihm leben wollen und hätte sich von ihm getrennt. Sie habe sich zu Hause gerichtlich von ihm scheiden lassen. Der Beschwerdeführer wurde aufgefordert, die bislang nicht im Akt enthaltene Scheidungsurkunde nachzureichen. Seine nunmehrige Frau habe er bislang nicht standesamtlich geheiratet, da ihm die hierfür erforderlichen Papiere fehlen würden. Seine Frau ginge gegenwärtig keiner Berufstätigkeit nach, da die Kinder klein wären. Der Beschwerdeführer verbringe seinen Alltag mit dem Besuch eines Deutschkurses, beteilige sich an der Betreuung seiner Kinder im Alter von zwei und drei Jahren und sei ansonsten zu Hause. Angesprochen auf seinen prekären Aufenthaltsstatus im Zeitraum, als er seine nunmehrige Frau kennengelernt und mit dieser eine Familie gegründet hätte, meinte der Beschwerdeführer: "Das ist die Liebe, ich habe mich verliebt." Für seinen im Herkunftsstaat lebenden siebzehnjährigen Sohn aus erster Ehe habe er nie Unterhalt geleistet, da er kein Geld gehabt und daher keine Möglichkeit gehabt hätte, für diesen zu sorgen. Sobald er eine Arbeit hätte, würde er diesem helfen.
Der Beschwerdeführer brachte vor, er würde im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat, ebenso wie seine Verwandten, verschwinden; er könnte auch umgebracht werden oder für 20 Jahre im Gefängnis landen. Diesbezüglich legte der Beschwerdeführer ein russischsprachiges Schreiben einer Nichtregierungsorganisation vor, welches die Verfolgung des Beschwerdeführers und seiner Brüder im Heimatland belegen würde. Seine beiden Brüder würden bereits seit zehn Jahren in Österreich leben, der ältere mache einen A2-Deutschkurs, der jüngere sei in einem Büro angestellt. Beide hätten Kinder in Österreich. Außerdem würden zwei Cousins des Beschwerdeführers mit deren jeweiligen Familien in Österreich leben. Der Beschwerdeführer sei bereits seit zehn Jahren aus seiner Heimat weg und habe nur selten Kontakt zu seinen dort verbliebenen Angehörigen. Für seine Kinder und seine Frau würde eine Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat großen Stress bedeuten. Durch die gewillkürte Vertreterin wurde abschließend die Einvernahme der Partnerin des Beschwerdeführers zum Beweis des gemeinsamen Familienlebens beantragt.
Aus der durch das Bundesverwaltungsgericht in der Folge in Auftrag gegebenen, am 09.11.2019 eingelangten, schriftlichen Übersetzung der vorgelegten Bestätigung einer Nichtregierungsorganisation vom 18.10.2019 ins Deutsche ergibt sich im Wesentlichen, dass die in Moskau ansässige Organisation für Flüchtlings- und Migrantenhilfe nach allgemeinen Ausführungen zu Hintergrund und Tätigkeit der Organisation, bestätige, dass der Beschwerdeführer im Jahr 2009 durch Angehörige des Büros für operative Fahndungsmaßnahmen von Zuhause verschleppt und gefoltert worden wäre. Auch die beiden Brüder des Beschwerdeführers seien ins Blickfeld jener Organisation geraten. Bei den im Herkunftsstaat verbliebenen Angehörigen der Brüder werde seither regelmäßig nach deren Aufenthaltsort gefragt. Das Schreiben enthält sodann eine Auflistung von Verfolgungshandlungen gegen Personen aus dem verwandtschaftlichen Umfeld des Beschwerdeführers. Desweiteren finden sich Ausführungen zum allgemeinen Vorgehen des tschetschenische Sicherheitsapparats gegen Personen, welche sich mutmaßlich an illegalen bewaffneten Gruppierungen beteiligen, und deren Angehörige. Verschiedene russische und internationale Menschenrechtsorganisationen würden nach wie vor über ungesetzliche Verhaftungen, Entführungen, Verschwindenlassen und Festhalten von Personen in Geheimgefängnissen berichten, wobei solche Menschen Opfer von Folter und außergerichtlichen Exekutionen würden. Abschließend wurde durch den Verfasser des Schreibens festgehalten, dass eine Rückkehr nach Russland für den Beschwerdeführer mit einer Tragödie enden könne und dessen Lage jener eines Flüchtlings im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention entspreche.
Mit Eingabe vom 29.10.2019 reichte die gewillkürte Vertretung die russischsprachige Scheidungsurkunde des Beschwerdeführers nach, deren durch das Bundesverwaltungsgericht in Auftrag gegebene Übersetzung ins Deutsche am 20.11.2019 einlangte. Demnach wurde die Ehe zwischen dem Beschwerdeführer und seiner ersten Ehefrau im April 2017 geschieden.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Der volljährige Beschwerdeführer führt die im Spruch ersichtlichen Personalien, ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation, Angehöriger der tschetschenischen Volksgruppe und bekennt sich zum moslemischen Glauben. Der Beschwerdeführer reiste eigenen Angaben zufolge im Jahr 2009 aus seinem Herkunftsstaat aus, er suchte im Jahr 2009 in Polen sowie im Jahr 2011 in Frankreich um internationalen Schutz an, und stellte nach illegaler Einreise erstmals am 10.03.2014 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Dieser Antrag wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 12.04.2014 gemäß § 5 AsylG 2005 zurückgewiesen und Frankreich für die Führung des Asylverfahrens für zuständig befunden. Die dagegen eingebrachte Beschwerde wurde am 08.05.2014 vom Bundesverwaltungsgericht als unbegründet abgewiesen. Mit Eingabe vom 18.08.2014 wurden die französischen Behörden darüber in Kenntnis gesetzt, dass der Beschwerdeführer untergetaucht ist und sich die Überstellungfrist demnach auf 18 Monate verlängert.
Am 22.09.2014 suchte der Beschwerdeführer erneut um die Gewährung internationalen Schutzes in Österreich an, woraufhin das Bundesamt am 17.10.2014 ein auf Art. 18 Abs. 1 lit. d Dublin III-Verordnung gestütztes Wiederaufnahmeersuchen an Frankreich richtete. Frankreich stimmte mit Schreiben vom 04.11.2014 der Wiederaufnahme gemäß der genannten Bestimmung ausdrücklich zu. Am 22.04.2015 informierte das Bundesamt die französischen Behörden erneut über die Aussetzung des Verfahrens bzw. die Verlängerung der Überstellungsfrist auf 18 Monate (aufgrund des neuerlichen Untertauchens des Beschwerdeführers).
Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 11.05.2015 wurde die den zweiten Antrag betreffende Beschwerde gemäß § 5 AsylG 2005 und § 61 FPG als unbegründet abgewiesen.
Am 18.01.2016 stellte der Beschwerdeführer in Österreich den nunmehr verfahrensgegenständlichen dritten Antrag auf internationalen Schutz, welcher zunächst mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 02.02.2016 wegen entschiedener Sache gemäß § 68 AVG zurückgewiesen wurde. Am 21.01.2016 war der Beschwerdeführer nach Frankreich überstellt worden. Infolge illegaler Rückkehr in das österreichische Bundesgebiet stellte der Beschwerdeführer am 22.07.2016 einen neuerlichen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich, welcher als Beschwerdeergänzung im anhängigen Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht über den dritten Antrag mitbehandelt wurde. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 05.08.2016 erfolgte unter Hinweis auf das zwischenzeitlich im Bundesgebiet begründete Familienleben des Beschwerdeführers eine Stattgabe der Beschwerde und Behebung des den Antrag wegen entschiedener Sache zurückweisenden Bescheides gemäß § 21 Abs. 3 BFA-VG.
Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 09.03.2018 wurde der dritte Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz abgewiesen (Spruchpunkte I. und II.), ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gegen diesen eine Rückkehrentscheidung ausgesprochen (Spruchpunkt IV.), die Zulässigkeit seiner Abschiebung in die Russische Föderation festgestellt (Spruchpunkt V.) und eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt (Spruchpunkt VI.).
Die verfahrensgegenständliche Beschwerde richtet sich ausschließlich gegen die Spruchteile IV. bis VI. des angeführten Bescheides, sodass der Bescheid im Umfang der Nichtzuerkennung des Status des Asyl- und subsidiär Schutzberechtigten sowie der Nichterteilung einer Aufenthaltsberechtigung gemäß § 57 AsylG 2005 mit insofern ungenutztem Ablauf der Beschwerdefrist in Rechtskraft erwachsen ist.
1.2. Der Beschwerdeführer hat im Februar 2015 eine in Österreich asylberechtigte russische Staatsangehörige nach islamischer Tradition geheiratet und mit dieser zwei gemeinsame, in den Jahren 2016 und 2017 in Österreich geborene Kinder bekommen, welchen in der Folge ebenfalls der Status von Asylberechtigten (abgeleitet vom Status ihrer Mutter) zuerkannt worden ist. Der Beschwerdeführer und seine nunmehrige Partnerin waren sich zum Zeitpunkt des Kennenlernens und der Begründung des gemeinsamen Familienlebens über den unsicheren Aufenthaltsstatus des Beschwerdeführers im Klaren und konnten zu keinem Zeitpunkt auf die Möglichkeit zur künftigen Führung eines gemeinsamen Familienlebens in Österreich vertrauen.
Der Beschwerdeführer lebt mit seiner Lebensgefährtin und den beiden gemeinsamen Kindern in einem gemeinsamen Haushalt und wirkt an der Betreuung der Kinder mit. Die Kindesmutter übt derzeit keine berufliche Tätigkeit aus.
In Tschetschenien lebt ein siebzehnjähriger Sohn des Beschwerdeführers aus dessen im März 2017 in der Russischen Föderation gerichtlich geschiedener erster Ehe.
Im Bundesgebiet halten sich zwei Brüder des Beschwerdeführers als Asylberechtigte auf. Beide Brüder haben eine Familie im Bundesgebiet. Außerdem leben zwei Cousins des Beschwerdeführers mit deren jeweiligen Familien in Österreich. Eine über die üblichen Beziehungen zwischen (erwachsenen) Verwandten hinausgehende Beziehung bzw. ein Abhängigkeitsverhältnis des Beschwerdeführers zu seinen in Österreich aufhältigen Brüdern und Cousins sowie deren Familien konnte nicht festgestellt werden. Der Beschwerdeführer lebt mit keinem dieser Angehörigen in einem gemeinsamen Haushalt. Das Vorliegen eines finanziellen bzw. sonstigen Abhängigkeitsverhältnisses wurde vom Beschwerdeführer nicht behauptet.
1.3. Der Beschwerdeführer hat seinen Aufenthalt im Bundesgebiet aus Mitteln der Grundversorgung bestritten, war zu keinem Zeitpunkt selbsterhaltungsfähig und ging bislang keiner erlaubten Erwerbstätigkeit oder ehrenamtlichen Tätigkeit nach. Dieser hat auch keine konkreten Bemühungen hinsichtlich der Eingliederung auf dem österreichischen Arbeitsmarkt respektive der Schaffung der Voraussetzungen für eine künftige Selbsterhaltungsfähigkeit dargetan. Der Beschwerdeführer hat die deutsche Sprache erst auf sehr grundlegendem Niveau erlernt, er hat im Jahr 2018 eine Sprachprüfung auf dem Niveau A1 bestanden und belegt derzeit einen weiterführenden Sprachkurs auf dem Niveau A2. Er hat keine Kontakte in der österreichischen Gesellschaft geknüpft, seine Beziehungen beschränken sich im Wesentlichen auf den Kreis seiner aus Tschetschenien stammenden, in Österreich aufhältigen, Angehörigen. Der Beschwerdeführer ist in keinen Vereinen Mitglied, hat mit Ausnahme des Besuchs von Sprachkursen keine Ausbildungen absolviert und insgesamt eine bereits erfolgte Integration in beruflicher, sprachlicher und gesellschaftlicher Hinsicht respektive eine konkrete Bemühung um eine solche nicht aufgezeigt.
1.4. Den Brüdern des Beschwerdeführers ist mit Erkenntnissen des Asylgerichtshofes vom 24.06.2013, Zahlen D20 421212-1/2011/14E und D20 421203-1/2011/14E, der Status von Asylberechtigten zuerkannt worden.
Diesen Entscheidungen wurde insbesondere der folgende maßgebliche Sachverhalt zu Grunde gelegt:
Der Bruder NN1 des Beschwerdeführers sei im Juli 2009 von Sicherheitskräften verschleppt und mehrere Monate in einem Keller festgehalten worden, wo er unter Gewaltzufügung und Folter zu einem Studienkollegen verhört worden sei, welcher in enger Verbindung zu einem Kommandant einer Rebellengruppe stehen dürfte. Auch sei der Bruder NN1 in das Blickfeld der Sicherheitsbehörden geraten, weil zahlreiche seiner Verwandten als Widerstandskämpfer in Tschetschenien tätig gewesen seien bzw. diesen eine Wiederstandstätigkeit seitens der Regierung unterstellt worden sei. Der Bruder NN1 sei erst freigelassen worden, als er sich mit der Zusammenarbeit mit den Behörden einverstanden und bereit erklärte, mit seinem Studienkollegen Kontakt herzustellen. Dem Bruder NN1 sei gedroht worden, dass er andernfalls ebenso wie der gemeinsam mit ihm mitgenommene Beschwerdeführer, getötet werde. Auch sei dem Bruder NN1 gedroht worden, seinen Bruder NN2 festzunehmen und zu töten. Der Bruder NN1 sei im Februar 2010 entlassen worden und habe Tschetschenien mit der Hilfe seiner Tante verlassen, die sich hinsichtlich der Mitnahme des NN1 unter anderem an die Menschenrechtsorganisation Memorial gewandt hätte.
Der Beschwerdeführer, welcher gemeinsam mit dem Bruder NN1 im Juli 2009 von Sicherheitskräften mitgenommen worden sei, sei ebenso wie der Bruder NN1 in einem Keller festgehalten worden, sei jedoch bald wieder freigelassen worden und unmittelbar danach aus Tschetschenien ausgereist. Er sei derzeit in Frankreich aufhältig.
Die in Tschetschenien aufhältigen Familienangehörigen der Brüder seien nach deren Ausreise aus Tschetschenien seitens der Behörden unter Druck gesetzt worden. Im Jänner 2011 seien zwei Cousins der Brüder mitgenommen und zu den Genannten unter Gewaltanwendung verhört worden.
Der Beschwerdeführer hat im Rahmen der Beschwerdeverhandlung vom 22.10.2019 eine Stellungnahme der Organisation "Ziviler Beistand" vom 18.10.2019 vorgelegt, in welcher bestätigt wurde, dass der Beschwerdeführer im Jahr 2009 der von ihm geschilderten Verschleppung und Folter durch tschetschenischen Sicherheitsbehörden ausgesetzt gewesen sei und die Behörden der Teilrepublik nach wie vor ein Interesse an der Familie des Beschwerdeführers hätten, welches sich in Verfolgungshandlungen gegen mehrere Personen aus dem Familienverband geäußert hätte.
Festgestellt wird, dass der Beschwerdeführer im Vorfeld der Ausreise im Jahr 2009 in das Blickfeld der russischen bzw. pro-russischen Sicherheitskräfte geraten ist und vor seiner Ausreise konkreten Verfolgungshandlungen ausgesetzt war, weshalb es unter Berücksichtigung der aktuellen Länderfeststellungen im Fall seiner Rückkehr nach Tschetschenien bzw. in die Russische Föderation nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auszuschließen ist, dass der Beschwerdeführer im Fall einer Rückkehr weitere Verfolgungshandlungen zu befürchten hätte.
Es besteht für den Beschwerdeführer als gesunden leistungsfähigen Mann im berufsfähigen Alter im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation (Tschetschenien) darüber hinaus keine Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.
1.5. Zur Lage im Herkunftsstaat:
Bekanntlich werden innerstaatliche Fluchtmöglichkeiten innerhalb Russlands seitens renommierter Menschenrechtseinrichtungen meist unter Verweis auf die Umtriebe der Schergen des tschetschenischen Machthabers Kadyrow im ganzen Land in Abrede gestellt. Der medialen Berichterstattung zufolge scheint das Netzwerk von Kadyrow auch in der tschetschenischen Diaspora im Ausland tätig zu sein. Dem ist entgegenzuhalten, dass renommierte Denkfabriken auf die hauptsächlich ökonomischen Gründe für die Migration aus dem Nordkaukasus und die Grenzen der Macht von Kadyrow außerhalb Tschetscheniens hinweisen. So sollen laut einer Analyse des Moskauer Carnegie-Zentrums die meisten Tschetschenen derzeit aus rein ökonomischen Gründen emigrieren: Tschetschenien bleibe zwar unter der Kontrolle von Kadyrow, seine Macht reiche allerdings nicht über die Grenzen der Teilrepublik hinaus. Zur Förderung der sozio-ökonomischen Entwicklung des Nordkaukasus dient ein eigenständiges Ministerium, das sich dabei gezielt um die Zusammenarbeit mit dem Ausland bemüht (ÖB Moskau 10.10.2018).
Quellen:
- ÖB Moskau (10.10.2018): Information per Email
Die russischen Behörden zeigen sich durchaus bemüht, den Vorwürfen der Verfolgung von bestimmten Personengruppen in Tschetschenien nachzugehen. Bei einem Treffen mit Präsident Putin Anfang Mai 2017 betonte die russische Ombudsfrau für Menschenrechte allerdings, dass zur Inanspruchnahme von staatlichem Schutz eine gewisse Kooperationsbereitschaft der mutmaßlichen Opfer erforderlich sei. Das von der Ombudsfrau Moskalkova gegenüber Präsident Putin genannte Gesetz sieht staatlichen Schutz von Opfern, Zeugen, Experten und anderen Teilnehmern von Strafverfahren sowie deren Angehörigen vor. Unter den Schutzmaßnahmen sind im Gesetz Bewachung der betroffenen Personen und deren Wohnungen, strengere Schutzmaßnahmen in Bezug auf die personenbezogenen Daten der Betroffenen sowie vorläufige Unterbringung an einem sicheren Ort vorgesehen. Wenn es sich um schwere oder besonders schwere Verbrechen handelt, sind auch Schutzmaßnahmen wie Umsiedlung in andere Regionen, Ausstellung neuer Dokumente, Veränderung des Aussehens etc. möglich. Die Möglichkeiten des russischen Staates zum Schutz von Teilnehmern von Strafverfahren beschränken sich allerdings nicht nur auf den innerstaatlichen Bereich. So wurde im Rahmen der GUS ein internationales Abkommen über den Schutz von Teilnehmern im Strafverfahren erarbeitet, das im Jahr 2006 in Minsk unterzeichnet, im Jahr 2008 von Russland ratifiziert und im Jahr 2009 in Kraft getreten ist. Das Dokument sieht vor, dass die Teilnehmerstaaten einander um Hilfe beim Schutz von Opfern, Zeugen und anderen Teilnehmern von Strafverfahren ersuchen können. Unter den Schutzmaßnahmen sind vorläufige Unterbringungen an einem sicheren Ort in einem der Teilnehmerstaaten, die Umsiedlung der betroffenen Personen in einen der Teilnehmerstaaten, etc. vorgesehen (ÖB Moskau 10.10.2018).
Quellen:
- ÖB Moskau (10.10.2018): Information per Email
Sicherheitslage
Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen. Todesopfer forderte zuletzt ein Terroranschlag in der Metro von St. Petersburg im April 2017. Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 28.8.2018a, vgl. BMeiA 28.8.2018, GIZ 6.2018d). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 28.8.2018).
Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Gewaltzwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).
Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sogenannten IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (28.8.2018a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 28.8.2018
- BmeiA (28.8.2018): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 28.8.2018
- Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 29.8.2018
- EDA - Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (28.8.2018): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 28.8.2018
- GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (6.2018d): Russland, Alltag, https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 28.8.2018
- SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018
Nordkaukasus
Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 21.5.2018). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff "low level insurgency" umschrieben (SWP 4.2017).
Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum sogenannten IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt. Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Novaya Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein ?Wilajat Kavkaz', eine Provinz Kaukasus, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus Emirats dem ?Kalifen' Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Dschihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren (SWP 10.2015). Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich in den vergangenen Jahren die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sogenannten IS, die mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt haben soll. Dabei sorgt nicht nur Propaganda und Rekrutierung des IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem sogenannten IS zuzurechnen waren (ÖB Moskau 12.2017). Offiziell kämpfen bis zu 800 erwachsene Tschetschenen für die Terrormiliz IS. Die Dunkelziffer dürfte höher sein (DW 25.1.2018).
Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Während in den Republiken Inguschetien und Kabardino-Balkarien auf einen Dialog innerhalb der muslimischen Gemeinschaft gesetzt wird, verfolgen die Republiken Tschetschenien und Dagestan eine konsequente Politik der Repression radikaler Elemente (ÖB Moskau 12.2017).
Im gesamten Jahr 2017 gab es im ganzen Nordkaukasus 175 Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon 134 Todesopfer (82 Aufständische, 30 Zivilisten, 22 Exekutivkräfte) und 41 Verwundete (31 Exekutivkräfte, neun Zivilisten, ein Aufständischer) (Caucasian Knot 29.1.2018). Im ersten Quartal 2018 gab es im gesamten Nordkaukasus 27 Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon 20 Todesopfer (12 Aufständische, sechs Zivilisten, 2 Exekutivkräfte) und sieben Verwundete (fünf Exekutivkräfte, zwei Zivilisten) (Caucasian Knot 21.6.2018).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation
- Caucasian Knot (29.1.2018): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus for 2017 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/42208/, Zugriff 28.8.2018
- Caucasian Knot (21.6.2018): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 1 of 2018 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/43519/, Zugriff 28.8.2018
- DW - Deutsche Welle (25.1.2018): Tschetschenien: "Wir sind beim IS beliebt", https://www.dw.com/de/tschetschenien-wir-sind-beim-is-beliebt/a-42302520, Zugriff 28.8.2018
- ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation
- SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (10.2015): Reaktionen auf den "Islamischen Staat" (ISIS) in Russland und Nachbarländern, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2015A85_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018
- SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018
Tschetschenien
Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat - etwa in der Ostukraine sowohl auf Seiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, auch in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der "Tschetschenisierung" wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).
Im gesamten Jahr 2017 gab es in Tschetschenien 75 Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon 59 Todesopfer (20 Aufständische, 26 Zivilisten, 13 Exekutivkräfte) und 16 Verwundete (14 Exekutivkräfte, zwei Zivilisten) (Caucasian Knot 29.1.2018). Im ersten Quartal 2018 gab es in Tschetschenien acht Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon sieben Todesopfer (sechs Aufständische, eine Exekutivkraft) und ein Verwundeter (eine Exekutivkraft) (Caucasian Knot 21.6.2018).
Quellen:
- Caucasian Knot (29.1.2018): Infographics.Statistics of victims in Northern Caucasus for 2017 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/42208/, Zugriff 28.8.2018
- Caucasian Knot (21.6.2018): Infographics.Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 1 of 2018 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/43519/, Zugriff 28.8.2018
- SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 28.8.2018
- SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018
Rechtsschutz / Justizwesen
Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte bezüglich Verfassungs-, Zivil-, Administrativ- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR, EuR) als auch nationale Organisationen (Ombudsmann, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 12.2017). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kreml gebunden (FH 1.2018).
In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Laut einer Umfrage des Levada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen aus Ende 2014 rangiert die Justiz (gemeinsam mit der Polizei) im letzten Drittel. 45% der Befragten zweifeln daran, dass man der Justiz trauen kann, 17% sind überzeugt, dass die Justiz das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdient und nur 26% geben an, den Gerichten zu vertrauen (ÖB Moskau 12.2017). Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen: So wurde in einem aufsehenerregenden Fall der amtierende russische Wirtschaftsminister Alexei Ulyukayev im November 2016 verhaftet und im Dezember 2017 wegen Korruptionsvorwürfen seitens des mächtigen Leiters des Rohstoffunternehmens Rosneft zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018, FH 1.2018).
2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, so dass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das die Souveränität Russlands untergraben möchte (ÖB Moskau 12.2017). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt, welches dem VfGH das Recht einräumt, Urteile internationaler Menschenrechtsinstitutionen nicht umzusetzen, wenn diese nicht mit der russischen Verfassung im Einklang stehen. Das Gesetz wurde bereits einmal im Fall der Verurteilung Russlands durch den EGMR in Bezug auf das Wahlrecht von Häftlingen 61 angewendet (zugunsten der russischen Position) und ist auch für den YUKOS-Fall von Relevanz. Der russische Verfassungsgerichtshof zeigt sich allerdings um grundsätzlichen Einklang zwischen internationalen gerichtlichen Entscheidungen und der russischen Verfassung bemüht (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018, US DOS 20.4.2018).
Am 10.2.2017 fällte das Verfassungsgericht eine Entscheidung zu Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs, der wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsrecht als Straftat definiert. Die Richter entschieden, die Abhaltung einer "nichtgenehmigten" friedlichen Versammlung allein stelle noch keine Straftat dar. Am 22. Februar überprüfte das Oberste Gericht das Urteil gegen den Aktivisten Ildar Dadin, der wegen seiner friedlichen Proteste eine Freiheitsstrafe auf Grundlage von Artikel 212.1. erhalten hatte, und ordnete seine Freilassung an. Im Juli 2017 trat eine neue Bestimmung in Kraft, wonach die Behörden Personen die russische Staatsbürgerschaft aberkennen können, wenn sie diese mit der "Absicht" angenommen haben, die "Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes anzugreifen". NGOs kritisierten den Wortlaut des Gesetzes, der nach ihrer Ansicht Spielraum für willkürliche Auslegungen bietet (AI 22.2.2018).
Bemerkenswert ist die extrem hohe Verurteilungsquote bei Strafprozessen. Die Strafen in der Russischen Föderation sind generell erheblich höher, besonders im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität. Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet dabei nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Für zu lebenslanger Haft Verurteilte bzw. bei entsprechend umgewandelter Todesstrafe besteht bei guter Führung die Möglichkeit einer Freilassung frühestens nach 25 Jahren. Eine Begnadigung durch den Präsidenten ist möglich. Auch unabhängig von politisch oder ökonomisch motivierten Strafprozessen begünstigt ein Wetteifern zwischen Strafverfolgungsbehörden um hohe Verurteilungsquoten die Anwendung illegaler Methoden zum Erhalt von "Geständnissen" (AA 21.5.2018).
Repressionen Dritter, die sich gezielt gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe richten, äußern sich hauptsächlich in homophoben, fremdenfeindlichen oder antisemitischen Straftaten, die von Seiten des Staates nur in einer Minderheit der Fälle zufriedenstellend verfolgt und aufgeklärt werden (AA 21.5.2018).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation
- AI - Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https:/