TE Bvwg Erkenntnis 2020/4/30 W117 2168666-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 30.04.2020
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Entscheidungsdatum

30.04.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z4
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1 Z2
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §52
FPG §53 Abs3 Z5
FPG §55

Spruch

W117 2168666-2/5E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Andreas DRUCKENTHANER über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch RA Dr. Astrid WAGNER, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 10.04.2018, Zl. XXXX , gemäß § 28 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG), BGBI. I. Nr 33/2013 idgF, zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird gemäß § 8 Abs. 1 Z 2, § 10 Abs. 1 Z 4 und § 57 AsylG 2005 und § 9 BFA-VG sowie §§ 52, 53 Abs. 3 Z 5 und § 55 FPG als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG), BGBl. I Nr. 1/1930 idgF, nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation, gehört der tschetschenischen Volksgruppe an und ist moslemischen Glaubens.

Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 11.10.2004 wurde ihm auf Grund seines Antrags vom 11.03.2004 gemäß § 7 AsylG 1997 in Österreich Asyl gewährt und unter einem gemäß § 12 AsylG festgestellt, dass ihm damit die Flüchtlingseigenschaft zukommt. Dieser Bescheid erwuchs mit 02.11.2004 in Rechtskraft.

Mit Urteil eines inländischen LG vom 29.09.2016 wurde der Beschwerdeführer wegen §§ 15, 75 StGB (versuchter Mord) zu einer Freiheitsstrafe von 10 Jahren verurteilt. Dieser Verurteilung lag zu Grunde, dass der Beschwerdeführer am 29.05.2016 in XXXX eine näher angeführte Person zu töten versuchte, indem er diese mit der linken Hand über die Schulter am Brustkorb packte, zu sich drückte, mit einem Klappmesser mit circa 7,5 cm Klingenlänge von hinten in den Rücken und in den Hals sowie - als das Opfer sich aus der Umklammerung lösen und sich zum Beschwerdeführer umdrehen konnte - in den linken Oberarm stach, wodurch dieses eine an sich schwere Körperverletzung sowie eine länger als 24 Tage dauernde Gesundheitsschädigung erlitt, nämlich Stich- und Schnittverletzungen an der Halsvorderseite mit Beschädigung der rechten Unterkieferspeicheldrüse und des rechten Schulter-Zungenbein-Muskels, in der rechten mittleren Rückenregion auf Höhe der 9. Rippe, wobei aufgrund einer Flüssigkeitsansammlung in der Brusthöhle eine Blutung in der rechten Brustkorbhälfte diagnostiziert wurde, eine Durchschnittverletzung an der Streckseite des linken Oberarms mit Ein- und Ausstich und Beschädigung des darunterliegenden Muskels sowie streck- und daumenseitig und circa sieben Zentimeter oberhalb des Ellenhakens. Der Beschwerdeführer habe sein Opfer, während dieses auf seinem Handy konzentriert Kurznachrichten durchscrollte, ohne erkennbaren Anlass von hinten angegriffen. Als mildernd wurde berücksichtigt, dass es lediglich beim Versuch geblieben sei und dass der Beschwerdeführer bislang einen ordentlichen Lebenswandel aufgewiesen hätte, obschon festzuhalten sei, dass eine Anklage wider seine Person im Jahr 2015 diversionell erledigt worden wäre; als erschwerend wurde gewertet, dass der Beschwerdeführer grausam und heimtückisch vorgegangen sei und kein nachvollziehbares Motiv erkennbar gewesen sei.

Mit Urteil des Oberlandesgerichts XXXX vom 26.04.2017, Zl. XXXX , wurde die gegen den Beschwerdeführer verhängte Freiheitsstrafe in Stattgabe der Berufung der Staatsanwaltschaft XXXX auf vierzehn Jahre erhöht.

Infolgedessen wurde dem BF mit Bescheid des BFA vom 04.08.2017 der Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 aberkannt und gemäß § 7 Abs. 4 festgestellt, dass ihm die Flüchtlingseigenschaft nicht mehr zukommt (Spruchpunkt I.). Subsidiärer Schutz wurde ihm nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.), ihm ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §§ 55 und 57 AsylG 2005 nicht erteilt, eine Rückkehrentscheidung gegen ihn erlassen und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Russland zulässig sei (Spruchpunkt III.), sowie ein unbefristetes Einreiseverbot gegen ihn erlassen (Spruchpunkt IV.).

Die dagegen erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes (BVwG) vom 05.10.2017, GZ. W111 2168666-1/6E, hinsichtlich der Asylaberkennung als unbegründet abgewiesen (Spruchpunkt I.) und hinsichtlich der übrigen Spruchpunkte behoben und zur Erlassung eines neuen Bescheides ans BFA zurückverwiesen, weil ohne eine Auseinandersetzung mit den ursprünglichen Fluchtgründen des BF und der Frage, ob die ursprüngliche Verfolgungsgefahr nach wie vor aufrecht ist, eine Prüfung gemäß § 8 bzw. § 8 Abs. 3a AsylG 2005 nicht vorgenommen werden könne (Spruchpunkt II.). Dieses Erkenntnis wurde am 06.10.2017 zugestellt und ist in Rechtskraft erwachsen.

Mit Beschluss des VwGH vom 14.02.2018, Ra 2017/18/0419-6, wurde die Revision gegen die Asylaberkennung zurückgewiesen.

Im fortgesetzten Verfahren wurde der BF durch das BFA am 27.03.2018 im Beisein seiner anwaltlichen Vertreterin und einer Dolmetscherin für die russische Sprache in der Justizanstalt einvernommen. Dabei wurden eingangs 7 österreichische Geburtsurkunden seiner Kinder sowie ein B1-Deutsch-Zertifikat vom 10.05.2013 mit der Beurteilung "ausreichend bestanden" für den BF vorgelegt. Er gab auf Befragen an, gesund zu sein und keine Medikamente zu nehmen. Er sei nicht standesamtlich sondern nur traditionell verheiratet. Mit seiner aktuellen Frau habe er zwei Kinder und habe mit ihnen vor seiner Inhaftierung ein gemeinsamer Haushalt bestanden. Er sei in Tschetschenien davor bereits standesamtlich verheiratet gewesen. Seine geschiedene Ehefrau und ihre 5 Kinder würden ebenfalls in Österreich leben. Mit beiden Ehefrauen und ihren Kindern stehe er in regelmäßigem Kontakt. Er sei im Bundesgebiet bereits berufstätig gewesen (Sicherheitsfirma, Postzustellungen). Er habe im Bundesgebiet keine allgemeinen Fortbildungen besucht und Arbeitslosengeld bezogen. Er sei auch nicht in Vereinen aktiv gewesen. Mit den Kindern habe er Kampfsport betrieben. Er habe in Österreich zwei Freunde, dies seien Landsleute, welche in Österreich lebten. In der Justizanstalt werde er von der Familie (Frau, Kinder, Mutter, Geschwister) besucht. Seine geschiedene Frau sei zwei Mal da gewesen. Seine Mutter und sein Bruder hätten subsidiären Schutz in Österreich, seine Frau besitze eine Rot-Weiß-Rot-Karte, 6 seiner Kinder hätten den Asylstatus von ihm abgeleitet, das jüngste habe denselben Titel wie seine Frau. In der Russischen Föderation habe er zuletzt mit seiner (nun) geschiedenen Frau in XXXX gelebt. In der Russischen Föderation seien noch eine Tante, ein Onkel und weitschichtige Verwandte aufhältig. Er habe keinen Kontakt zu ihnen. Er fühle sich dort nicht mehr integriert, er befinde sich seit dem 11.04.2004 in Österreich. Er besuche im Gefängnis einen weiteren Deutschkurs. Außerdem spreche er noch Russisch und Tschetschenisch. Zu seinen damaligen Fluchtgründen brachte er zusammengefasst vor, dass er 2003 von Maskierten festgenommen und gefoltert worden sei, damit er einen Terroranschlag gegen die Russen gestehe und ein Dokument unterschreibe. Dies habe er nicht gemacht und hätte erschossen werden sollen, was er überlebt habe. Einen Tag danach sei er in einem Grab gefunden und zum Arzt gebracht worden. Eine Rückkehr in die Russische Föderation könne sehr gefährlich für ihn sein, da noch immer Menschen verschwinden würden. Sein Bruder sei seit 2001 vermisst. Er glaube, dass die damalige Gefährdung noch aktuell sei, weil vor zwei Jahren Russen in sein Heimatdorf gekommen seien und nach ihm und seinem Bruder gefragt hätten. Dies habe er von seiner Mutter erfahren, welche mit seiner noch dort ansässigen Cousine in Kontakt stehe. Wenn es nicht gefährlich wäre, wäre er mit § 133a (Strafvollzugsgesetz) ausgereist. Er werde in der Russischen Föderation gesucht, von russischen Soldaten. Den Grund würden sie ihm nicht nennen. Zum Vorhalt einer innerstaatlichen Fluchtalternative in einem anderen Teil der Russischen Föderation brachte er vor, dass man ihn überall finden könne. Der Krieg sei zu Ende, aber noch immer würden Menschen dort verschwinden. Nach den Gründen befragt, warum er nach der Haftentlassung nicht neuerlich straffällig werden würde, brachte er vor, 40 Jahre keine Straftat begangen und aus Selbstschutz gehandelt zu haben. Nach den Angaben des anwaltlichen Vertreters sei die Tat im Zuge eines Raufhandels geschehen. Der neue Freund seiner geschiedenen Frau habe ihn beschimpft und angegriffen, deshalb habe er so reagiert, er habe im Affekt gehandelt. Im April beginne er eine Anti-Aggressionstherapie im Gefängnis. Seine Familie habe auch eine private Therapie organisiert und bezahle diese. Im Gefängnis mache er eine Ausbildung zum Orthopädieschuhmacher. Er wolle in Österreich in Zukunft ein normales Leben führen und als orthopädischer Schuster arbeiten. Die anwaltliche Vertretung beantragte die Einvernahme der Mutter des BF als Zeugin zur noch immer aufrechten Bedrohung im Herkunftsstaat. Er telefoniere mit seinen Kindern und sie würden ihn besuchen.

Die Mutter des BF gab im Rahmen ihrer niederschriftlichen Einvernahme am 10.04.2018 beim BFA als Zeugin zusammengefasst an, dass ihre Nichte ihr vor kurzem (telefonisch) gesagt habe, dass ständig Leute auch mitten in der Nacht nach dem BF fragen würden. Sie wisse nicht, warum die Behörden ein derartiges Interesse an ihrem Sohn hätten. Er sei kein einziges Mal zurückgekehrt. In der Russischen Föderation würden noch ihre zwei Schwestern und deren jeweils drei Kinder leben. Im Fall der Rückkehr des BF in die Russische Föderation könne sie selbst ihn finanziell kaum unterstützen.

Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des BFA vom 10.04.2018 wurde dem BF subsidiärer Schutz gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 nicht zuerkannt (Spruchpunkt I.), ihm ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt II.), gemäß § 10 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 1 FPG erlassen (Spruchpunkt III.), gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig ist (Spruchpunkt IV.), gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für seine freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt V.) sowie gemäß § 53 Abs.1 iVm Abs. 3 Z 5 FPG gegen ihn ein unbefristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VI.) .

Dazu wurde u.a. festgestellt dass der BF mit Urteil eines LG wegen Mordes zunächst zu einer Freiheitsstrafe von 10 Jahren verurteilt worden sei, diese jedoch mit durch Urteil eines OLG auf 14 Jahre erhöht worden sei. Angesichts der besonderen Brutalität der Tat aus nicht erkennbarem Anlass lasse befürchten, dass er nach der Haftentlassung wiederholt straffällig werden und erneut schwere Straftaten gegen Leib und Leben seiner Mitbürger begehen werde, sodass er eine Gefahr für die Gemeinschaft sowie für die Sicherheit der Republik Österreich darstelle. Unzweifelhaft sei er wegen eines Verbrechens verurteilt worden. Er sei keiner Verfolgung durch die russischen Behörden oder Dritte ausgesetzt und könne eine Wiedereinreise in die Russische Föderation ohne Gefährdung seiner Person erfolgen. Er sei gesund und arbeitsfähig. Sei in der Russischen Föderation sozialisiert worden und mit den örtlichen Gegebenheiten vertraut. Im Fall der Rückkehr drohe ihm keine aussichtlose Lage, Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder Gefahr für seine körperliche Unversehrtheit oder sein Leben. Er habe Angehörige im Herkunftsstaat. Zu seinem Privat- und Familienleben wurde im Wesentlichen festgestellt, dass er nicht standesamtlich verheiratet sei und sieben Kinder von zwei verschiedenen Frauen habe. Bis zur Inhaftierung habe er mit seiner aktuellen Frau im gemeinsamen Haushalt gelebt. Seine Mutter und sein Bruder lebten ebenfalls in Österreich. In den letzten 5 Jahren habe er zeitweise kurze Beschäftigungsverhältnisse gehabt und dazwischen wiederholt staatliche Leistungen bezogen. Weder sei er in einem Verein aktiv noch habe er Kontakt zu österreichischen Staatsbürgern, sei sohin nicht in die österreichische Gesellschaft integriert. Sein Privat- und Familienleben werde nicht als schützenswert erachtet. Hinsichtlich der Erlassung eines Einreiseverbotes werde auf die Feststellungen zur Nichtgewährung von subsidiärem Schutz verwiesen. Durch die Begehung gerichtlich strafbarer Handlungen habe er klar zum Ausdruck gebracht, dass er nicht gewillt sei, sich der österreichischen Rechts- oder Werteordnung zu unterwerfen und habe diese missachtet, in dem er ein besonders schweres Verbrechen begangen habe. Dies zeige, dass er gewillt sei bzw. es zumindest in Kauf nehme, durch sein Verhalten eine tatsächliche gegenwärtige und erhebliche Gefahr darzustellen, welche ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre, sodass sein weiterer Aufenthalt im Bundesgebiet eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstellen würde. Er sei als gemeingefährlich zu qualifizieren. Die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit stelle jedenfalls ein Grundinteresse der österreichischen Gesellschaft dar.

Zum Herkunftsstaat wurde wie folgt festgestellt:

"Politische Lage

Die Russische Föderation hat knapp 143 Millionen Einwohner (CIA 15.6.2017, vgl. GIZ 7.2017c). Die Russische Föderation ist eine föderale Republik mit präsidialem Regierungssystem. Am 12. Juni 1991 erklärte sie ihre staatliche Souveränität. Die Verfassung der Russischen Föderation wurde am 12. Dezember 1993 verabschiedet. Das russische Parlament besteht aus zwei Kammern, der Staatsduma (Volksvertretung) und dem Föderationsrat (Vertretung der Föderationssubjekte) (AA 3.2017a). Der Staatspräsident der Russischen Föderation verfügt über sehr weitreichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik. Seine Amtszeit beträgt sechs Jahre. Amtsinhaber ist seit dem 7. Mai 2012 Wladimir Putin (AA 3.2017a, vgl. EASO 3.2017). Er wurde am 4. März 2012 (mit offiziell 63,6% der Stimmen) gewählt. Es handelt sich um seine dritte Amtszeit als Staatspräsident. Dmitri Medwedjew, Staatspräsident 2008-2012, übernahm am 8. Mai 2012 erneut das Amt des Ministerpräsidenten. Seit der Wiederwahl von Staatspräsident Putin im Mai 2012 wird eine Zunahme autoritärer Tendenzen beklagt. So wurden das Versammlungsrecht und die Gesetzgebung über Nichtregierungsorganisationen erheblich verschärft, ein föderales Gesetz gegen "Propaganda nicht-traditioneller sexueller Beziehungen" erlassen, die Extremismus-Gesetzgebung verschärft sowie Hürden für die Wahlteilnahme von Parteien und Kandidaten beschlossen, welche die Wahlchancen oppositioneller Kräfte weitgehend zunichtemachen. Der Druck auf Regimekritiker und Teilnehmer von Protestaktionen wächst, oft mit strafrechtlichen Konsequenzen. Der Mord am Oppositionspolitiker Boris Nemzow hat das Misstrauen zwischen Staatsmacht und außerparlamentarischer Opposition weiter verschärft (AA 3.2017a). Mittlerweile wurden alle fünf Angeklagten im Mordfall Nemzow schuldig gesprochen. Alle fünf stammen aus Tschetschenien. Der Oppositionelle Ilja Jaschin hat das Urteil als "gerecht" bezeichnet, jedoch sei der Fall nicht aufgeklärt, solange Organisatoren und Auftraggeber frei sind. Kreml- Sprecher Dmitri Peskow hat verlautbart, dass die Suche nach den Auftraggebern weiter gehen wird. Allerdings sind sich Staatsanwaltschaft und Nebenklage, die die Interessen der Nemzow-Familie vertreten, nicht einig, wen sie als potenziellen Hintermann weiter verfolgen. Die staatlichen Anklagevertreter sehen als Lenker der Tat Ruslan Muchutdinow, einen Offizier des Bataillons "Nord", der sich in die Vereinigten Arabischen Emirate abgesetzt haben soll. Nemzows Angehörige hingegen vermuten, dass die Spuren bis "zu den höchsten Amtsträgern in Tschetschenien und Russland" führen. Sie fordern die Befragung des Vizebataillonskommandeurs Ruslan Geremejew, der ein entfernter Verwandter von Tschetscheniens Oberhaupt Ramsan Kadyrow ist (Standard 29.6.2017). Ein Moskauer Gericht hat den Todesschützen von Nemzow zu 20 Jahren Straflager verurteilt. Vier Komplizen erhielten Haftstrafen zwischen 11 und 19 Jahren. Zudem belegte der Richter Juri Schitnikow die fünf Angeklagten aus dem russischen Nordkaukasus demnach mit Geldstrafen von jeweils 100.000 Rubel (knapp 1.500 Euro). Die Staatsanwaltschaft hatte für den Todesschützen lebenslange Haft beantragt, für die Mitangeklagten 17 bis 23 Jahre (Kurier 13.7.2017). Russland ist formal eine Föderation, die aus 83 Föderationssubjekten besteht. Die im Zuge der völkerrechtswidrigen Annexion erfolgte Eingliederung der ukrainischen Krim und der Stadt Sewastopol als Föderationssubjekte Nr. 84 und 85 in den russischen Staatsverband ist international nicht anerkannt. Die Föderationssubjekte genießen unterschiedliche Autonomiegrade und werden unterschiedlich bezeichnet (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Regionen, Gebiete, Föderale Städte). Die Föderationssubjekte verfügen jeweils über eine eigene Legislative und Exekutive. In der Praxis unterstehen die Regionen aber finanziell und politisch dem föderalen Zentrum (AA 3.2017a).

Die siebte Parlamentswahl in Russland hat am 18. September 2016 stattgefunden. Gewählt wurden die 450 Abgeordneten der russischen Duma. Insgesamt waren 14 Parteien angetreten, unter ihnen die oppositionellen Parteien Jabloko und Partei der Volksfreiheit (PARNAS). Die Wahlbeteiligung lag bei 47,8%. Die meisten Stimmen bei der Wahl, die auch auf der Halbinsel Krim abgehalten wurde, erhielt die von Ministerpräsident Dmitri Medwedew geführte Regierungspartei "Einiges Russland" mit gut 54%. Nach Angaben der Wahlkommission landete die Kommunistische Partei mit 13,5% auf Platz zwei, gefolgt von der nationalkonservativen LDPR mit 13,2%. Die nationalistische Partei "Gerechtes Russland" erhielt 6%. Diese vier Parteien waren auch bislang schon in der Duma vertreten und stimmten in allen wesentlichen Fragen mit der Mehrheit. Den außerparlamentarischen Oppositionsparteien gelang es nicht die Fünf-Prozent-Hürde zu überwinden. In der Duma verschiebt sich die Macht zugunsten der Regierungspartei "Einiges Russland". Die Partei erreicht im Parlament mit 343 Sitzen deutlich die Zweidrittelmehrheit, die ihr nun Verfassungsänderungen ermöglicht. Die russischen Wahlbeobachter von der NGO Golos berichteten auch in diesem Jahr über viele Verstöße gegen das Wahlrecht (GIZ 4.2017a, vgl.AA 3.2017a).

Das Verfahren am Wahltag selbst wurde offenbar korrekter durchgeführt als bei den Dumawahlen im Dezember 2011. Direkte Wahlfälschung wurde nur in Einzelfällen gemeldet, sieht man von Regionen wie Tatarstan oder Tschetschenien ab, in denen Wahlbetrug ohnehin erwartet wurde. Die Wahlbeteiligung von über 90% und die hohen Zustimmungsraten in diesen Regionen sind auch nicht geeignet, diesen Verdacht zu entkräften. Doch ist die korrekte Durchführung der Abstimmung nur ein Aspekt einer demokratischen Wahl. Ebenso relevant ist, dass alle Bewerber die gleichen Chancen bei der Zulassung zur Wahl und die gleichen Möglichkeiten haben, sich der Öffentlichkeit zu präsentieren. Der Einsatz der Administrationen hatte aber bereits im Vorfeld der Wahlen - bei der Bestellung der Wahlkommissionen, bei der Aufstellung und Registrierung der Kandidaten sowie in der Wahlkampagne - sichergestellt, dass sich kein unerwünschter Kandidat und keine missliebige Oppositionspartei durchsetzen konnte. Durch restriktives Vorgehen bei der Registrierung und durch Behinderung bei der Agitation wurden der nichtsystemischen Opposition von vornherein alle Chancen genommen. Dieses Vorgehen ist nicht neu, man hat derlei in Russland vielfach erprobt und zuletzt bei den Regionalwahlen 2014 und 2015 erfolgreich eingesetzt. Das Ergebnis der Dumawahl 2016 demonstriert also, dass die Zentrale in der Lage ist, politische Ziele mit Hilfe der regionalen und kommunalen Verwaltungen landesweit durchzusetzen. Insofern bestätigt das Wahlergebnis die Stabilität und Funktionsfähigkeit des Apparats und die Wirksamkeit der politischen Kontrolle. Dies ist eine der Voraussetzungen für die Erhaltung der politischen Stabilität (RA 7.10.2016).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (3.2017a): Russische Föderation - Innenpolitik, http://www.auswaertigesamt.de/sid_167537BE2E4C25B1A754139A317E2F27/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/RussischeFoederation/Innenpolitik_node.html, Zugriff 21.6.2017

- CIA - Central Intelligence Agency (15.6.2017): The World Factbook,

https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/rs.html, Zugriff 21.6.2017

- EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation -

State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoirussia-

state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 21.6.2017

- GIZ Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (4.2017a):

Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichtestaat/#

c24819, Zugriff 21.6.2017

- GIZ Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2017c):

Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/, Zugriff 11.7.2017

- Kurier.at (13.7.2017): Nemzow-Mord: 20 Jahre Straflager für Mörder,

https://kurier.at/politik/ausland/nemzow-mord-20-jahre-straflager-fuermoerder/

274.903.855, Zugriff 13.7.2017

- RA - Russland Analysen (7.10.2016): Nr. 322, Bewegung in der russischen Politik?,

http://www.laender-analysen.de/russland/pdf/RusslandAnalysen322.pdf, Zugriff

21.6.2017

- Standard (29.7.2017): Alle Angeklagten im Mordfall Nemzow schuldiggesprochen,

http://derstandard.at/2000060550142/Alle-Angeklagten-im-Mordfall-Nemzow-schuldiggesprochen,

Zugriff 30.6.2017

1. Tschetschenien

Die Tschetschenische Republik ist eine der 21 Republiken der Russischen Föderation.

Betreffend Fläche und Einwohnerzahl - 15.647 km2 und fast 1,3 Millionen Einwohner/innen

(2010) - ist Tschetschenien mit der Steiermark vergleichbar. Etwa die Hälfte des

tschetschenischen Territoriums besteht aus Ebenen im Norden und Zentrum der Republik.

Heutzutage ist die Republik eine nahezu monoethnische: 95,3% der Bewohner/innen

Tschetscheniens gaben 2010 an, ethnische Tschetschenen/innen zu sein. Der Anteil

ethnischer Russen/innen an der Gesamtbevölkerung liegt bei 1,9%. Rund 1% sind ethnische

Kumyk/innen, des Weiteren leben einige Awar/innen, Nogaier/innen, Tabasar/innen,

Türk/innen, Inguschet/innen und Tatar/innen in der Republik (Rüdisser 11.2012).

Den Föderationssubjekten stehen Gouverneure vor. Gouverneur von Tschetschenien ist

Ramsan Kadyrow. Er gilt als willkürlich herrschend. Russlands Präsident Putin lässt ihn aber

walten, da er Tschetschenien "ruhig" hält. Tschetschenien wird überwiegend von Geldern der

Zentralregierung finanziert. So erfolgte der Wiederaufbau von Tschetscheniens Hauptstadt

Grosny vor allem mit Geldern aus Moskau (BAMF 10.2013, vgl. RFE/RL 19.1.2015).

In Tschetschenien gilt Ramsan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der

russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres System geschaffen, das

vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und größtenteils außerhalb des

föderalen Rechtsrahmens funktioniert. So musste im Mai 2016 der Vorsitzende des Obersten

Gerichts Tschetscheniens zurücktreten, nachdem er von Kadyrow kritisiert worden war,

obwohl die Ernennung/Entlassung der Richter in die föderale Kompetenz fällt. Fraglich bleibt

auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische

Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Im Juni 2016 beschloss das

tschetschenische Parlament die vorzeitige Selbstauflösung, um vorgezogene Neuwahlen im

September 2016, wenn auch das Republikoberhaupt gewählt wird, durchzuführen. Die

Entscheidung erklärte man mit potentiellen Einsparungen durch das Zusammenlegen der

beiden Wahlgänge, Experten gehen jedoch davon aus, dass Kadyrow einen Teil der

Abgeordneten durch jüngere, aus seinem Umfeld stammende Politiker ersetzen möchte. Bei

den Wahlen vom 18. September 2016 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien weit über

dem landesweiten Durchschnitt. Den offiziellen Angaben zufolge wurde Kadyrow mit über

97% der Stimmen im Amt des Oberhauptes der Republik bestätigt. Unabhängige Medien

berichteten über Unregelmäßigen bei den Wahlen, in deren Vorfeld HRW über

Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet hatte (ÖB Moskau

12.2016). In Tschetschenien hat das Republikoberhaupt Ramsan Kadyrow ein auf seine

Person zugeschnittenes repressives Regime etabliert. Vertreter russischer und

internationaler NGOs berichten von Gewalt und Menschenrechtsverletzungen, einem Klima

der Angst und Einschüchterung (AA 24.1.2017).

Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische

Gegner, wird hart vorgegangen. Anfang 2016 sorgte Kadyrow landesweit für Aufregung, als

er die liberale Opposition in Moskau als Staatsfeinde bezeichnete, die darauf aus wären,

Russland zu zerstören. Nachdem er dafür von Menschenrechtlern, aber auch von Vertretern

des präsidentiellen Menschenrechtsrats scharf kritisiert worden war, wurde in Grozny eine

Massendemonstration zur Unterstützung Kadyrows organisiert. Im März ernannte Präsident

Putin Kadyrow im Zusammenhang mit dessen im April auslaufender Amtszeit zum Interims-

Oberhaupt der Republik und drückte seine Unterstützung für Kadyrows erneute Kandidatur

aus. Bei den Wahlen im September 2016 wurde Kadyrow laut offiziellen Angaben bei hoher

Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren

gewählt, wohingegen unabhängige Medien von krassen Regelverstößen bei der Wahl

berichteten (ÖB Moskau 12.2016). Im Vorfeld dieser Wahlen zielten lokale Behörden auf

Kritiker und Personen, die als nicht loyal zu Kadyrow gelten ab, z.B. mittels Entführungen,

Verschwindenlassen, Misshandlungen, Todesdrohungen und Androhung von Gewalt

gegenüber Verwandten (HRW 12.1.2017).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (24.1.2017): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante

Lage in der Russischen Föderation

- BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (10.2013): Protokoll zum Workshop

Russische Föderation/Tschetschenien am 21.-22.10.2013 in Nürnberg

- HRW - Human Rights Watch (12.1.2017): World Report 2017 - Russia,

http://www.ecoi.net/local_link/334746/476500_de.html, Zugriff 28.6.2017)

- ÖB Moskau (12.2016): Asylländerbericht Russische Föderation

- RFE/RL - Radio Free Europe/Radio Liberty (19.1.2015): The Unstoppable Rise Of

Ramzan Kadyrov, http://www.rferl.org/content/profile-ramzan-kadyrov-chechnya-russiaputin/

26802368.html, Zugriff 21.6.2017

- Rüdisser, V. (11.2012): Russische Föderation/Tschetschenische Republik. In:

Länderinformation n°15, Österreichischer Integrationsfonds,

http://www.integrationsfonds.at/themen/publikationen/oeif-laenderinformation/, Zugriff

21.6.2017

1. Sicherheitslage

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt

haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, jederzeit zu Attentaten

kommen. Zuletzt kam es am 3.4.2017 in Sankt Petersburg zu einem Anschlag in der Metro,

der Todesopfer und Verletzte forderte. Die russischen Behörden haben zuletzt ihre Warnung

vor Attentaten bekräftigt und rufen zu besonderer Vorsicht auf (AA 21.7.2017b). Den

Selbstmordanschlag in der St. Petersburger U-Bahn am 3.4.2017 hat nach Angaben von

Experten eine Gruppe mit mutmaßlichen Verbindungen zum islamistischen Terrornetzwerk

Al-Qaida für sich reklamiert. Das Imam-Schamil-Bataillon habe den Anschlag mit 15

Todesopfern nach eigenen Angaben auf Anweisung des Al-Qaida-Chefs Ayman al-Zawahiri

verübt, teilte das auf die Überwachung islamistischer Internetseiten spezialisierte USUnternehmen SITE am Dienstag mit (Standard 25.4.2017). Der Selbstmordattentäter

Akbarschon Dschalilow stammte aus der kirgisischen Stadt Osch. Zehn Personen, die in den

Anschlag verwickelt sein sollen, sitzen in Haft, sechs von ihnen wurden in St. Petersburg,

vier in Moskau festgenommen. In russischen Medien wurde der Name eines weiteren

Mannes aus der Gegend von Osch genannt, den die Ermittler für den Auftraggeber des

Anschlags hielten: Siroschiddin Muchtarow, genannt Abu Salach al Usbeki. Der Angriff, sei

eine Vergeltung für russische Gewalt gegen muslimische Länder wie Syrien und für das, was

in der russischen Nordkaukasus-Teilrepublik Tschetschenien geschehe; die Operation sei

erst der Anfang. Mit Terrorangriffen auf und in Russland hatte sich zuletzt nicht Al-Qaida,

sondern der sogenannte Islamische Staat gebrüstet, so mit jüngsten Angriffen auf

Sicherheitskräfte in Tschetschenien und der Stadt Astrachan. Laut offizieller Angaben sollen

4.000 Russen und 5.000 Zentralasiaten in Syrien und dem Irak für den IS oder andere

Gruppen kämpfen. Verteidigungsminister Schoigu behauptete Mitte März 2016, es seien

durch Russlands Luftschläge in Syrien "mehr als 2.000 Banditen" aus Russland, unter ihnen

17 Feldkommandeure getötet worden (FAZ 26.4.2017).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet

damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999

bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet

konfrontiert, die Hunderte Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über

Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Gewaltzwischenfälle

am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51%

zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land

misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an

neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor

jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter

Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der

Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der IS Russland den Jihad und

übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über

dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole

russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz

in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle

Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung

an internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Russland hat den sog. IS erst Ende Dezember 2014 auf seine Liste terroristischer

Organisationen gesetzt und dabei andere islamistische Gruppierungen außer Acht gelassen,

in denen seine Staatsbürger, insbesondere Tschetschenen und Dagestaner, in Syrien und

im Irak ebenfalls aktiv sind - wie die Jaish al-Muhajireen-wal-Ansar, die überwiegend von

Kämpfern aus dem Nordkaukasus gegründet wurde. Ausländische und russische

Beobachter, darunter die kremlkritische Novaja Gazeta im Juni 2015, erhoben gegenüber

den Sicherheitsbehörden Russlands den Vorwurf, der Abwanderung von Jihadisten aus dem

Nordkaukasus und anderen Regionen nach Syrien tatenlos, wenn nicht gar wohlwollend

zuzusehen, da sie eine Entlastung für den Anti-Terror-Einsatz im eigenen Land mit sich

bringe. Tatsächlich nahmen die Terroraktivitäten in Russland selber ab (SWP 10.2015). In

der zweiten Hälfte des Jahres 2014 kehrte sich diese Herangehensweise um, und Personen,

die z.B. Richtung Türkei ausreisen wollten, wurden an der Ausreise gehindert.

Nichtsdestotrotz geht der Abgang von gewaltbereiten Dschihadisten weiter und Experten

sagen, dass die stärksten Anführer der Aufständischen, die dem IS die Treue geschworen

haben, noch am Leben sind. Am 1.8.2015 wurde eine Hotline eingerichtet, mit dem Ziel,

Personen zu unterstützen, deren Angehörige in Syrien sind bzw. planen, nach Syrien zu

gehen. Auch Rekrutierer und Personen, die finanzielle Unterstützung für den Dschihad

sammeln, werden von den Sicherheitsbehörden ins Visier genommen. Einige Experten sind

der Meinung, dass das IS Rekrutierungsnetzwerk eine stabile Struktur in Russland hat und

Zellen im Nordkaukasus, in der Wolga Region, Sibirien und im russischen Osten hat (ICG

14.3.2016).

Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus

koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum IS von

Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt. Dem russischen Islamexperten Aleksej

Malaschenko zufolge reisten gar Offizielle aus der Teilrepublik Dagestan nach Syrien, um ISKämpfer

aus dem Kaukasus darin zu bestärken, ihren Jihad im Mittleren Osten und nicht in

ihrer Heimat auszutragen. Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in

Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Novaja Gazeta diesem Treiben

große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-

Adnani ein ?Wilajat Kavkaz', eine Provinz Kaukasus, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein

propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent

ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die

islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr

ideologische und militärische Führer des Kaukasus Emirats dem ?Kalifen' Abu Bakr al-

Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im

islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Jihad-Netzwerke in

Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren. Seitdem mehren sich am

Südrand der Russischen Föderation die Warnungen vor einer Bedrohung durch den

sogenannten Islamischen Staat. Kurz zuvor hatten die föderalen und lokalen

Sicherheitsorgane noch den Rückgang terroristischer Aktivitäten dort für sich reklamiert. Als

lautester Mahner tut sich wieder einmal der tschetschenische Republikführer Ramzan

Kadyrow hervor. Er rief alle muslimischen Länder dazu auf, sich im Kampf gegen den IS, den

er mit Iblis-Staat - also Teufelsstaat - übersetzt, zusammenzuschließen. Für Kadyrow ist der

IS ein Produkt anti-islamischer westlicher Politik, womit er sich im Einklang mit der offiziellen

Sichtweise des Kremls befindet, der dem Westen regelmäßig fatale Eingriffe im Mittleren

Osten vorwirft. Terroristische Aktivitäten im Nordkaukasus, die eindeutig den Überläufern

zum IS zuzuschreiben sind, haben sich aber bislang nicht verstärkt. Bis September 2015

wurden nur zwei Anschläge in Dagestan der IS-Gefolgschaft zugeschrieben: die Ermordung

des Imam einer Dorfmoschee und ein bewaffneter Angriff auf die Familie eines Wahrsagers.

Auch im Südkaukasus mehren sich die Stimmen, die vor dem IS warnen (SWP 10.2015).

Bis ins Jahr 2015 hinein hat Russland die vom sogenannten Islamischen Staat ausgehende

Gefahr eher relativiert und die Terrormiliz als einen von vielen islamistischen Akteuren

abgetan, die das mit Moskau verbündete Assad-Regime, die ?legitime Regierung Syriens',

bekämpfen. In seiner jährlichen Tele-Konferenz mit der Bevölkerung am 18. April 2015 hatte

Präsident Putin noch geäußert, der IS stelle keine Gefahr für Russland dar, obwohl die

Sicherheitsbehörden schon zu diesem Zeitpunkt eine zunehmende Abwanderung junger

Menschen nach Syrien und Irak registriert und vor den Gefahren gewarnt hatten, die von

Rückkehrern aus den dortigen Kampfgebieten ausgehen könnten. Wenige Tage später

bezeichnete Außenminister Lawrow den IS in einem Interview erstmals als Hauptfeind

Russlands (SWP 10.2015).

Innerhalb der extremistischen Gruppierungen ist ein Ansteigen der Sympathien für den IS -

v.a. auch auf Kosten des sog. Kaukasus-Emirats - festzustellen. Nicht nur die bislang auf

Propaganda und Rekrutierung fokussierte Aktivität des IS im Nordkaukasus erregt die

Besorgnis der russischen Sicherheitskräfte. Ein Sicherheitsrisiko stellt auch die mögliche

Rückkehr von nach Syrien oder in den Irak abwandernden russischen Kämpfern dar. Laut

diversen staatlichen und nichtstaatlichen Quellen kann man davon ausgehen, dass die

Präsenz russischer Kämpfer in den Krisengebieten Syrien und Irak mehrere tausend

Personen umfasst. Gegen IS-Kämpfer, die aus den Krisengebieten Syrien und Irak

zurückkehren, wird v.a. gerichtlich vorgegangen. Zu Jahresende 2015 liefen laut Angaben

des russischen Innenministeriums rund 880 Strafprozesse, die meisten davon basierend auf

den relevanten Bestimmungen des russischen StGB zur Teilnahme an einer terroristischen

Handlung, der Absolvierung einer Terror-Ausbildung sowie zur Organisation einer illegalen

bewaffneten Gruppierung oder Teilnahme daran. Laut einer INTERFAX-Meldung vom

2.12.2015 seien in Russland bereits über 150 aus Syrien zurückgekehrte Kämpfer verurteilt

worden. Laut einer APA-Meldung vom 27.7.2016 hat der Leiter des russischen

Inlandsgeheimdienstes FSB erläutert, das im Vorjahr geschätzte 3.000 Kämpfer nach

Russland aus den Kriegsgebieten in Syrien, Irak oder Afghanistan zurückkehrt seien, wobei

220 dieser Kämpfer im besonderen Fokus der Sicherheitskräfte zur Vorbeugung von

Anschlägen ständen. In einem medial verfolgten Fall griffen russische Sicherheitskräfte im

August 2016 in St. Petersburg auf mutmaßlich islamistische Terroristen mit

Querverbindungen zum Nordkaukasus zu. Medienberichten zufolge wurden im Verlauf des

Jahres 2016 über 100 militante Kämpfer in Russland getötet, in Syrien sollen über 2.000

militante Kämpfer aus Russland bzw. dem GUS-Raum getötet worden sein (ÖB Moskau

12.2016).

Der russische Präsident Wladimir Putin setzt tschetschenische und inguschetische

Kommandotruppen in Syrien ein. Bis vor kurzem wurden reguläre russische Truppen in

Syrien überwiegend als Begleitcrew für die Flugzeuge eingesetzt, die im Land Luftangriffe

fliegen. Von wenigen bemerkenswerten Ausnahmen abgesehen - der Einsatz von Artillerie

und Spezialtruppen in der Provinz Hama sowie von Militärberatern bei den syrischen

Streitkräften in Latakia - hat Moskau seine Bodeneinsätze bislang auf ein Minimum

beschränkt. Somit repräsentiert der anhaltende Einsatz von tschetschenischen und

inguschetischen Brigaden einen strategischen Umschwung seitens des Kremls. Russland

hat nun in ganz Syrien seine eigenen, der sunnitischen Bevölkerung entstammenden

Elitetruppen auf dem Boden. Diese verstärkte Präsenz erlaubt es dem sich dort langfristig

eingrabenden Kreml, einen stärkeren Einfluss auf die Ereignisse im Land auszuüben. Diese

Streitkräfte könnten eine entscheidende Rolle spielen, sollte es notwendig werden, gegen

Handlungen des Assad-Regimes vorzugehen, die die weitergehenden Interessen Moskaus

im Nahen Osten unterlaufen würden. Zugleich erlauben sie es dem Kreml, zu einem

reduzierten politischen Preis seine Macht in der Region zu auszubauen (Mena Watch

10.5.2017). Welche Rolle diese Brigaden spielen sollen, und ihre Anzahl sind noch nicht

sicher. Es wird geschätzt, dass zwischen 300 und 500 Tschetschenen und um die 300

Inguscheten in Syrien stationiert sind. Obwohl sie offiziell als "Militärpolizei" bezeichnet

werden, dürften sie von der Eliteeinheit Speznas innerhalb der tschetschenischen Streitkräfte

rekrutiert worden sein (FP 4.5.2017).

Für den Kreml hat der Einsatz der nordkaukasischen Brigaden mehrere Vorteile. Zum einen

reagiert die russische Bevölkerung sehr sensibel auf Verluste der russischen Armee in

Syrien. Verluste von Personen aus dem Nordkaukasus würden wohl weniger Kritik

hervorrufen. Zum anderen ist der wohl noch größere Vorteil jener, dass sowohl

Tschetschenen, als auch Inguscheten fast alle sunnitische Muslime sind und somit derselben

islamischen Richtung angehören, wie ein Großteil der syrischen Bevölkerung. Die

mehrheitlich sunnitischen Brigaden könnten bei der Bevölkerung besser ankommen, als

ethnisch russische Soldaten. Außerdem ist nicht zu vernachlässigen, dass diese

Einsatzkräfte schon über Erfahrung am Schlachtfeld verfügen, beispielsweise vom Kampf in

der Ukraine (FP 4.5.2017).

Bis jetzt war der Einsatz der tschetschenischen und inguschetischen Bodentruppen auf

Gebiete beschränkt, die für den Kreml von entscheidender Bedeutung waren. Obwohl es

momentan eher unwahrscheinlich scheint, dass die Rolle der nordkaukasischen

Einsatzkräfte bald ausgeweitet wird, agieren diese wohl weiterhin als die Speerspitze in

Moskaus Strategie, seinen Einfluss in Syrien zu vergrößern (FP 4.5.2017).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (21.7.2017b): Reise- und Sicherheitshinweise,

http://www.auswaertigesamt.

de/sid_93DF338D07240C852A755BB27CDFE343/DE/Laenderinformationen/00-

SiHi/Nodes/RussischeFoederationSicherheit_node.html, Zugriff 21.7.2017

- FAZ (26.4.2017):"Erst der Anfang", http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/anschlag-inst-

petersburg-russland-steht-im-visier-von-terror-14989012.html, Zugriff 21.7.2017

- FP - Foreign Policy (4.5.2017): Putin has a new secret weapon in Syria: Chechens,

http://foreignpolicy.com/2017/05/04/putin-has-a-new-secret-weapon-in-syria-chechens/,

Zugriff 21.7.2017

- ICG - International Crisis Group (14.3.2016): The North Caucasus Insurgency and Syria:

An Exported Jihad? http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1458642687_238-the-northcaucasus-

insurgency-and-syria-an-exported-jihad.pdf, S. 16-18, Zugriff 21.7.2017

- ÖB Moskau (12.2016): Asylländerbericht Russische Föderation

- Mena Watch (10.5.2017): Russland setzt auf sunnitische Soldaten in Syrien,

http://www.mena-watch.com/russland-setzt-auf-sunnitische-soldaten-in-syrien/, Zugriff

21.7.2017

- Standard (25.4.2017): Al-Kaida reklamiert Anschlag auf U-Bahn in St. Petersburg für

sich, https://derstandard.at/2000056544365/Al-Kaida-reklamiert-Anschlag-auf-U-Bahn-in-

St-Petersburg?ref=rec, Zugriff 21.7.2017

- SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste

Teilrepublik, http://www.swpberlin.

org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff

21.7.2017

- SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (10.2015): Reaktionen auf den "Islamischen

Staat" (ISIS) in Russland und Nachbarländern, http://www.swpberlin.

org/fileadmin/contents/products/aktuell/2015A85_hlb.pdf, Zugriff 21.7.2017

- SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im

Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swpberlin.

org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 21.7.2017

1.1. Nordkaukasus allgemein

Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75

größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderte Zivilisten das

Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende

Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Aus dieser Region kommen in den letzten drei

Jahren zwiespältige Nachrichten. Einerseits heißt es, der bewaffnete Untergrund sei deutlich

geschwächt und zersplittert. Andererseits verlagerte sich der regionale Jihad, der sich als

Kaukasus-Emirat manifestiert hatte, auf die globale Ebene, weil Kämpfer aus der Region

sich islamistischen Milizen in Syrien und Irak anschlossen. Von dauerhafter Stabilität ist der

Nordkaukasus wohl noch entfernt. Das zeigte zuletzt eine Serie von Anschlägen auf

Sicherheitskräfte in Tschetschenien im Dezember 2016 und im März 2017. Zudem stellt sich

für Russland, seine Nachbarn im Kaukasus und in Zentralasien wie auch für Europa die

Frage, wie viele Jihadisten aus dem nun schrumpfenden IS-Territorium in ihre

Heimatregionen zurückkehren werden. Für den Rückgang der Gewalt im Nordkaukasus

werden unterschiedliche Gründe angeführt. Russische Sicherheitsorgane verweisen auf

gesteigerte Effizienz bei der Bekämpfung des bewaffneten Untergrunds. In den letzten

Jahren wurden dessen militärische und ideologische Führer in hoher Zahl bei gezielten

Einsätzen von Eliteeinheiten getötet. Das Kaukasus-Emirat wurde innerlich gespalten, da

viele seiner Führer sich von al-Qaida abwandten und dem sogenannten Islamischen Staat

(IS) oder anderen Milizen in Syrien Treue schworen. Außerdem hieß es, russische

Sicherheitsorgane hätten die Abwanderung von Kämpfern in den Mittleren Osten

vorübergehend geduldet, wenn nicht sogar gefördert, um im eigenen Revier für Entlastung

zu sorgen - besonders vor der Winterolympiade in Sotschi 2014. Seit 2016 sinkt die Jihad-

Migration in den Mittleren Osten, da die Ressourcen des IS schrumpfen. Seine

Anziehungskraft auf die nun zersplitternde Untergrundbewegung des Nordkaukasus hatte

der IS in erster Linie seiner Territorialherrschaft zu verdanken, die in seinem Kerngebiet aber

inzwischen zurückgedrängt wird. Auf seinem Staatsgebiet im Nordkaukasus favorisiert

Russland militärische Einsätze, wenngleich in präzisierter, selektiver und gezielterer Form im

Vergleich zur unverhältnismäßigen Gewalt in den beiden Tschetschenienkriegen, die nahezu

in jeder tschetschenischen Familie Todesopfer gefordert hatte. Im Jahr 2009 eingeleitete

Reformmaßnahmen, die auf sozioökonomische und politische Krisenursachen zielten, sind

zugunsten der Agenda der "siloviki" (Sicherheitskräfte) wieder in den Hintergrund gerückt

(SWP 4.2017).

In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem

Begriff "low level insurgency" umschrieben. Seit gut zehn Jahren liegt das Epizentrum von

Gewalt nicht mehr in Tschetschenien. Dort konnte der Kriegszustand überwunden und ein

Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der "Tschetschenisierung" wurde die

Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert,

die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber

kaum für nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).

Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den

Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche

Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie

Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits weiterhin repressiven Maßnahmen

und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 24.1.2017).

Trotz der Versuche Moskaus, die sozioökonomische Situation im Nordkaukasus zu

verbessern, ist die Region nach wie vor weitgehend von Transferzahlungen des föderalen

Zentrums abhängig. Die derzeitige Wirtschaftskrise und damit einhergehenden

Einsparungen im Budget stellen eine potentielle Gefahr für die Subventionen an die

Nordkaukasus-Republiken dar. Ein weiteres Risikomoment für die Stabilität in der Region ist

die Verbreitung des radikalen Islamismus. Während in den Republiken Inguschetien und

Kabardino-Balkarien auf einen Dialog innerhalb der muslimischen Gemeinschaft gesetzt

wird, verfolgen die Republiken Tschetschenien und Dagestan eine harte Politik der

Einschüchterung und Repression extremistischer Elemente. Das harte Vorgehen der

Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer nach Syrien und in

den Irak haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den letzten zwei Jahren

deutlich zurückgegangen ist (ÖB Moskau 12.2016).

Im ersten Quartal des Jahres 2017 gab es im Nordkaukasus 45 Opfer des bewaffneten

Konfliktes, davon 36 Todesopfer (25 Aufständische, 11 Exekutivkräfte) und neun

Verwundete (sieben Exekutivkräfte, zwei Zivilisten). In Tschetschenien wurden im selben

Zeitraum elf Exekutivkräfte und 17 Aufständische getötet, zwei Zivilisten und sechs

Exekutivkräfte wurden verletzt. In Dagestan wurden im selben Zeitraum acht Aufständische

getötet und ein Polizist verletzt. In Inguschetien, Kabardino-Balkarien, Karatschay-

Tscherkessien, Nordossetien-Alania und im Stavropol Gebiet gab es im selben Zeitraum

keine Opfer (Caucasian Knot 15.5.2017).

Im Jahr 2016 gab es nach Angaben von Caucasian Knot im gesamten Föderalen Distrikt

Nordkaukasus 287 Opfer des bewaffneten Konfliktes (2015: 258; 2014: 525 Opfer). 202

davon wurden getötet (2015: 209; 2014: 341), 85 verwundet (2015: 49; 2014: 184)

(Caucasian Knot 2.2.2017). Im ersten Quartal 2016 gab es im gesamten Föderalen Distrikt

Nordkaukasus 48 Opfer des bewaffneten Konfliktes, 20 davon getötet, 28 davon verwundet

(Caucasian Knot 10.5.2016).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (24.1.2017): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante

Lage in der Russischen Föderation

- Caucasian Knot (2.2.2017): Statistics of victims in Northern Caucasus for 2016,

http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/38325/, Zugriff 18.7.2017

- Caucasian Knot (15.4.2017): Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 1 of

2017, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/39216/, Zugriff 18.7.2017

- ÖB Moskau (12.2016): Asylländerbericht Russische Föderation

- SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im

Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swpberlin.

org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 18.7.2017

1.2. Tschetschenien

Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in

der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind

dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender

Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat - etwa in der Ostukraine sowohl

auf Seiten prorussischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, vor allem

jedoch an der derzeit prominentesten und brutalsten Jihad-Front in Syrien und im Irak (SWP

4.2015).

2016 gab es in Tschetschenien 43 Opfer des bewaffneten Konfliktes (2015: 30; 2014: 117),

davon 27 Tote und 16 Verwundete (Caucasian Knot 2.2.2017).

Die Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) hat einen Anschlag auf einen russischen

Militärstützpunkt in Tschetschenien für sich reklamiert. Sechs Angreifer hätten am Freitag,

den 24.3.2017 eine Militärbasis der russischen Nationalgarde nahe dem Dorf Naurski im

Nordwesten Grosnys in Tschetschenien gestürmt. Alle Angreifer seien bei den

mehrstündigen Kämpfen auf dem Stützpunkt getötet worden (Zeit Online 24.3.2017). Nach

Armeeangaben wurden bei dem Angriff auch sechs russische Nationalgardisten getötet. Die

Nationalgarde erklärte, der Angriff sei in den frühen Morgenstunden bei dichtem Nebel

erfolgt. Die Soldaten auf dem Stützpunkt hätten den Angriff zurückgeschlagen. Außer den

Toten habe es auch Verletzte gegeben. Die im vergangenen Jahr gebildete Nationalgarde ist

direkt dem russischen Präsidenten Wladimir Putin unterstellt. Sie hat den Auftrag, Grenzen

zu schützen und Extremisten zu bekämpfen (Focus Online 24.3.2017).

Quellen:

- Caucasian Knot (2.2.2017): Statistics of victims in Northern Caucasus for 2016,

http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/38325/, Zugriff 18.7.2017

- Focus Online (24.3.2017): Sechs Rebellen und sechs Soldaten bei Anschlag

getötet, http://www.focus.de/politik/ausland/in-tschetschenien-sechs-rebellen-undsechs-

soldaten-bei-anschlag-getoetet_id_6830787.html, Zugriff 18.7.2017

- SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste

Teilrepublik, http://www.swpberlin.

org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff

18.7.2017

- Zeit Online (24.3.2017): IS bekennt sich zu Anschlag auf russischen Stützpunkt in

Tschetschenien, http://www.zeit.de/news/2017-03/24/russland-is-bekennt-sich-zuanschlag-

auf-russischen-stuetzpunkt-in-tschetscheni

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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