Entscheidungsdatum
07.05.2020Norm
BFA-VG §18 Abs5Spruch
G314 2230641-1/2E
IM NAMEN DER REPUBLIK
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag.a Katharina BAUMGARTNER über die Beschwerde des kroatischen Staatsangehörigen XXXX, geboren am XXXX, vertreten durch den Rechtsanwalt Mag. Alexander WIRTH, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX.03.2020, Zl. XXXX, A) beschlossen und B) zu Recht erkannt:
A)
Der Antrag, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, wird als unzulässig zurückgewiesen.
B)
Der Beschwerde wird Folge gegeben und der angefochtene Bescheid ersatzlos behoben.
C)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
Verfahrensgang:
Der Beschwerdeführer (BF), der im Bundesgebiet seit 2010 bereits mehrmals strafgerichtlich verurteilt wurde, ist seit 23.09.2019 in der Justizanstalt XXXX in Strafhaft. Am 02.10.2019 wurde er vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) zur beabsichtigten Erlassung eines Aufenthaltsverbots vernommen. Am 24.10.2019 wurde die Mutter seines Sohnes, XXXX, als Zeugin in diesem Verfahren vernommen.
Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid wurde gegen den BF gemäß § 67 Abs 1 und 2 FPG ein auf die Dauer von sechs Jahren befristetes Aufenthaltsverbot erlassen (Spruchpunkt I.), gemäß § 70 Abs 3 FPG kein Durchsetzungsaufschub erteilt (Spruchpunkt II.) und einer Beschwerde gegen das Aufenthaltsverbot gemäß § 18 Abs 3 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt III.). Das Aufenthaltsverbot wurde im Wesentlichen mit der massiven Straffälligkeit des BF begründet. Es liege zwar ein Familien- und Privatleben im Inland vor, zumal er von Geburt an in Österreich lebe und sein 2018 geborener Sohn österreichischer Staatsbürger sei; das öffentliche Interesse an Ordnung und Sicherheit überwiege aber sein persönliches Interesse an einem Verbleib in Österreich. In der Begründung des Bescheids wird der anzuwendende Gefährdungsmaßstab nicht thematisiert.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die Beschwerde des BF mit dem Antrag, den angefochtenen Bescheid aufzuheben und von der Erlassung eines Aufenthaltsverbots Abstand zu nehmen. Außerdem beantragt er die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung. Der BF begründet die Beschwerde zusammengefasst damit, dass nach seiner Verurteilung zu einer dreijährigen Freiheitsstrafe im Jänner 2010 die Erlassung eines Aufenthaltsverbots geprüft, das Verfahren aber letztlich eingestellt worden sei. Die Verurteilungen danach seien wegen Vergehen erfolgt und nicht für die Erlassung eines Aufenthaltsverbots geeignet. Keinesfalls werde die öffentliche Sicherheit der Republik Österreich durch den weiteren Verbleib des BF im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet. Seine letzte Verurteilung sei darauf zurückzuführen, dass er süchtig sei; er habe einen Strafaufschub nach § 39 SMG beantragt. Seine Eltern und seine Schwestern würden in Österreich leben, ebenso sein Sohn. Nach der Haftentlassung werde er sofort wieder einer Arbeit nachgehen. Er sei in Österreich geboren und halte sich seither rechtmäßig im Bundesgebiet auf, wo auch seine Sozialkontakte seien. Die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde widerspräche Art 8 Abs 2 EMRK und § 9 BFA-VG.
Das BFA legte die Beschwerde samt den Akten des Verwaltungsverfahrens dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) vor und beantragt, sie als unbegründet abzuweisen.
Feststellungen:
Der am XXXX geborene BF ist kroatischer Staatsangehöriger. Neben seiner kroatischen Muttersprache beherrscht er auch die deutsche Sprache. Er hält sich seit seiner Geburt (von kurzen Abwesenheiten zu Besuchs- und Urlaubszwecken abgesehen) kontinuierlich im Bundesgebiet auf, wo er die Pflichtschule absolvierte. Danach begann er eine Lehre, die er nicht abschloss.
Der BF ist ledig. Sein am XXXX geborener Sohn aus einer mittlerweile beendeten Beziehung ist österreichischer Staatsbürger. Vor seiner nunmehrigen Inhaftierung hatte der BF immer wieder (begleitete) Besuchskontakte mit seinem Sohn, von dem er auch während der Haft (gemeinsam mit der Mutter des Kindes) besucht wird. In Österreich leben auch die Eltern und die (volljährigen) Schwestern des BF sowie ein Onkel, Freunde und Bekannte. Er ist mit einer Österreicherin liiert. Die Freundin, die Eltern und die Geschwister des BF besuchen ihn ebenfalls während der Haft. In Kroatien leben seine Großeltern und andere Angehörige (Onkel, Tanten und Nichten), zu denen regelmäßiger Kontakt besteht. Der BF hat in Kroatien eine Wohnmöglichkeit im Haus seiner Großmutter.
Zwischen 2006 und 2011 verfügte der BF über einen Aufenthaltstitel "Daueraufenthalt - EG". Am 29.10.2009 wurde er erstmals verhaftet und in der Folge bis zu seiner bedingten Entlassung am 29.10.2011 in der Justizanstalt XXXX in Untersuchungs- bzw. Strafhaft angehalten. Mit dem seit XXXX rechtskräftigen Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX, wurde er wegen des Verbrechens des schweren Raubes nach §§ 142 Abs 1, 143 erster Satz, zweiter Fall StGB als junger Erwachsener zu einer dreijährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Wegen dieser Verurteilung wurde ihm von der Bezirkshauptmannschaft XXXX mit dem Schreiben vom XXXX.09.2010 die Erlassung eines Aufenthaltsverbots angedroht. Mit dem Bescheid vom XXXX.10.2010 wurde ihm das unbefristete Niederlassungsrecht entzogen und eine auf zwölf Monate befristete Niederlassungsbewilligung erteilt. Ab Juli 2011 verfügte der BF über Aufenthaltstitel "Rot-Weiß-Rot - Karte plus"; am 01.09.2014 wurde ihm eine Anmeldebescheinigung als Arbeitnehmer ausgestellt.
Mit den Urteilen des Bezirksgerichts XXXX vom XXXX, und des Landesgerichts XXXX vom XXXX (rechtskräftig seit XXXX) wurde der BF wegen der Vergehen der Sachbeschädigung (§ 125 StGB) bzw. der Körperverletzung (§ 83 Abs 2 StGB) jeweils zu einer Geldstrafe verurteilt. Mit dem seit XXXX rechtskräftigen Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX, wurde wegen des Vergehens der schweren Körperverletzung eine Zusatz-Freiheitsstrafe von sechs Monaten (unter Bedachtnahme auf die vorangegangene Verurteilung) verhängt; gleichzeitig wurde die 2011 gewährte bedingte Entlassung widerrufen. Der BF war daraufhin von März bis September 2016 in der Justizanstalt XXXX in Haft und danach bis zu seiner bedingten Entlassung am XXXX.12.2016 im elektronisch überwachten Hausarrest.
Mit dem Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX, wurde er wegen der Vergehen des versuchten Widerstands gegen die Staatsgewalt nach §§ 15, 269 Abs 1 StGB, der schweren Körperverletzung nach §§ 83 Abs 1, 84 Abs 2 StGB und nach § 50 Abs 1 Z 3 WaffG zu einer sechsmonatigen Freiheitsstrafe verurteilt. Dieser Verurteilung lag zugrunde, dass er am 16.08.2018 in XXXX einen Polizeibeamten mit Gewalt an einer Amtshandlung (Identitätsfeststellung, Kontrolle der Lenkberechtigung, Sachverhaltsaufnahme nach einem Verkehrsunfall und Anhaltung) zu hindern versuchte, indem er ihm drei Faustschläge ins Gesicht versetzte und ihn in den Oberschenkel sowie im Kniebereich biss. Dadurch verletzte er den Polizisten, der eine Rissquetschwunde oberhalb des Auges, multiple Prellungen und Abschürfungen sowie zwei Bissverletzungen erlitt, während und wegen der Vollziehung seiner Aufgaben und Erfüllung seiner Pflichten vorsätzlich. Außerdem besaß der BF von Februar bis August 2018 ein Karambit-Messer, obwohl ein Waffenverbot bestand. Bei der Strafbemessung wurden das Geständnis, die verminderte Zurechnungsfähigkeit, die teilweise Schadensgutmachung und der teilweise Versuch als mildernd gewertet; erschwerend wirkten sich die einschlägigen Vorstrafen und das Zusammentreffen von mehreren Vergehen aus. Gleichzeitig wurde die dem BF 2016 gewährte bedingte Entlassung (Strafrest neun Monate) widerrufen.
Der BF trat die Strafe zunächst nicht an, sondern tauchte im Mai 2019, nachdem er eine Ladung des BFA erhalten hatte, unter und hielt sich mehrere Monate lang versteckt. Am XXXX.09.2019 trat er die Strafe in der Justizanstalt XXXX, wo er seither angehalten wird, an.
Mit dem Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX, wurde gegen den BF wegen der Vergehen der Vorbereitung von Suchtgifthandel nach § 28 Abs 1 SMG, des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs 1 Z 1 achter Fall, des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs 1 Z 1 erster und zweiter Fall sowie Abs 2 SMG sowie des teils durch Einbruch begangenen Diebstahls nach §§ 127, 129 Abs 1 Z 1 StGB zu einer 14-monatigen Freiheitsstrafe verurteilt. Dieser Verurteilung lag zugrunde, dass er eine Indooranlage zur Aufzucht und Ernte von Cannabispflanzen und damit zur Gewinnung von Suchtgift in einer die Grenzmenge (§ 28 b SMG) übersteigenden Menge betrieb (28 Gewächse im April 2019, 15 Hanfgewächse im Mai 2019; avisierter Ertrag jeweils 500 g Marihuana) und von Februar bis Mai 2019 anderen Personen Cannabiskraut und Kokain verkaufte sowie von August 2018 bis Mai 2019 Cannabis, Amphetamine und Kokain (ausschließlich zum persönlichen Gebrauch) konsumierte. Außerdem stahl er am XXXX.11.2018 einen Fernseher (Wert EUR 999) nach Aufzwicken eines Vorhängeschlosses, am XXXX.02.2019 und am XXXX.04.2019 diverse Elektronikartikel (Wert EUR 1.166,16) und im Mai 2019 bei seinem Arbeitgeber Werkzeug in unbekanntem Wert. Bei der Strafbemessung wurde das reumütige Geständnis als mildernd gewertet; erschwerend wirkten sich vier einschlägige Vorstrafen, das Zusammentreffen von Vergehen, die Tatwiederholung, der rasche Rückfall und die Ausnutzung eines Vertrauensverhältnisses aus.
Der BF ist alkohol- und suchtgiftabhängig und beantragte einen Strafaufschub gemäß § 39 SMG, weil er eine Therapie machen möchte. Motiv für seine Suchtgiftdelinquenz war auch seine finanzielle Situation; er hatte keine wesentlichen Vermögenswerte, aber Schulden, sodass gegen ihn Exekutionsverfahren geführt wurden.
Beweiswürdigung:
Der Verfahrensgang und die Feststellungen ergeben sich aus dem unbedenklichen Inhalt der vorgelegten Verwaltungsakten und des Gerichtsakts des BVwG. Entscheidungswesentliche Widersprüche bestehen nicht.
Die Feststellungen zur Identität des BF und zu seinen persönlichen und familiären Verhältnissen beruhen auf seinen Angaben vor dem BFA, den (dem BVwG in Kopie vorliegenden) Ausweisdokumenten und den entsprechenden Feststellungen in den vorliegenden Strafurteilen. Seine Sprachkenntnisse gab er vor dem BFA glaubhaft und plausibel an. Kroatischkenntnisse folgen aus seiner Herkunft und Staatsangehörigkeit; Deutschkenntnisse sind angesichts des langjährigen Inlandsaufenthalts, der in Österreich absolvierten Ausbildung und der Erwerbstätigkeit hier nachvollziehbar.
Die Geburtsurkunde des Sohnes des BF liegt vor. Der BF schilderte die Kontakte zu ihm vor dem BFA im Einklang mit den Angaben der Mutter des Kindes als Zeugin. Besuche während der Haft ergeben sich auch aus der Vollzugsinformation vom 28.04.2020, wonach dem BF Tischbesuche mit seinem Sohn und dessen Mutter sowie mit seinen Eltern und Geschwistern gestattet wurden.
Die Feststellungen zu den in Österreich und Kroatien lebenden Angehörigen des BF folgen seinen diesbezüglichen Angaben vor dem BFA. Die Beziehung zu XXXX ergibt sich aus der Vollzugsinformation vom 28.04.2020, in der sie als Lebensgefährtin ("LG") aufscheint, der ebenfalls Tischbesuche gestattet wurden. Der BF gab vor dem BFA glaubhaft und nachvollziehbar an, dass er in Kroatien bei seiner Oma leben könne und dass regelmäßige Kontakte zu seine Verwandten dort bestehen.
Der kontinuierliche Inlandsaufenthalt des BF ergibt sich aus seinen Angaben und den entsprechenden Hauptwohnsitzmeldungen laut dem Zentralen Melderegister (ZMR), die ihm erteilten Aufenthaltstitel sowie die Dokumentation des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts aus den aktenkundigen Fremdenregisterauszügen. Der BF schilderte seine Ausbildung und Erwerbstätigkeit vor dem BFA im Einklang mit dem Versicherungsdatenauszug. Das Schreiben der Bezirkshauptmannschaft XXXX vom XXXX.09.2010 und der Bescheid über die Rückstufung liegen vor.
Die Feststellungen zu den strafgerichtlichen Verurteilungen des BF, den zugrundeliegenden Taten und den Strafzumessungsgründen sowie zu den Widerrufsentscheidungen beruhen auf dem Strafregister und den vorliegenden Strafurteilen. Es gibt keine Anhaltspunkte für Verurteilungen des BF in anderen Staaten, die er vor dem BFA in Abrede stellte. Der Strafvollzug ergibt sich aus den Wohnsitzmeldungen des BF in der Justizanstalt XXXX laut ZMR und aus den Vollzugsinformationen; die bedingen Entlassungen gehen aus dem Strafregister hervor. Der vom BF gegenüber dem BFA geschilderte elektronisch überwachte Hausarrest Ende 2016 wird durch ein entsprechendes E-Mail der Vollzugsstelle der Justizanstalt XXXX vom 19.12.2016 belegt.
Der BF gab vor dem BFA zu, dass er im Mai 2019 untergetaucht sei. Dies deckt sich mit dem Bericht der Polizeiinspektion XXXX vom 17.06.2019, wonach er an seiner Meldeadresse nicht angetroffen worden sei und sich dort schon seit ca. drei Wochen nicht mehr aufhalte. Der Strafantritt geht aus dem entsprechenden Bericht der Justizanstalt XXXX vom 24.09.2019 hervor.
Der BF schilderte vor dem BFA auch seine Suchtprobleme, die Absicht, eine Therapie zu machen, und seine finanzielle Situation als Motiv für die Suchtgiftdelikte schlüssig und nachvollziehbar. Er war bei der Einvernahme erkennbar um wahrheitsgemäße Angaben bemüht, zumal er auch die bestehenden Bindungen zu seinem Heimatstaat, die Taten, für die er zur Zeit der Einvernahme noch gar nicht verurteilt worden war, und seine Flucht offen darlegte, sodass keine Bedenken gegen die Verwertung seiner Aussage als Feststellungsbasis bestehen.
Rechtliche Beurteilung:
Zu Spruchteil A):
Aufgrund der in § 18 Abs 5 BFA-VG angeordneten amtswegigen Prüfung der Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung durch das BVwG ist der Antrag des BF, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, weder notwendig noch zulässig und daher zurückzuweisen.
Zu Spruchteil B):
Gegen den BF als unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR-Bürger ist die Erlassung eines Aufenthaltsverbots gemäß § 67 Abs 1 FPG nur zulässig, wenn auf Grund seines persönlichen Verhaltens die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet ist. Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Strafrechtliche Verurteilungen allein können nicht ohne weiteres diese Maßnahme begründen. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig. Die Erlassung eines Aufenthaltsverbots gegen EWR-Bürger, die ihren Aufenthalt seit zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, ist dann zulässig, wenn auf Grund ihres persönlichen Verhaltens davon ausgegangen werden kann, dass die öffentliche Sicherheit der Republik Österreich durch den Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde.
Der BF hält sich seit seiner Geburt XXXX - und damit seit weit mehr als zehn Jahren - im Bundesgebiet auf. Die Kontinuität seines Aufenthalts wird durch die Haft nicht unterbrochen, weil er insgesamt 29 Monate (6 Monate laut Urteil vom XXXX, 14 Monate laut Urteil vom XXXX, 9 Monate laut Widerrufsbeschluss), also weniger als drei Jahre, zu verbüßen hat und regelmäßig von seinen in Österreich lebenden Bezugspersonen besucht wird, sodass ein Abreißen der hier geknüpften Integrationsbande nicht zu befürchten ist. Für die Zulässigkeit der Erlassung eines Aufenthaltsverbotes ist im vorliegenden Fall daher der verschärfte Gefährdungsmaßstab nach § 67 Abs 1 fünfter Satz FPG maßgeblich. Mit dieser Bestimmung soll Art 28 Abs 3 lit a der Freizügigkeitsrichtlinie (§ 2 Abs 4 Z 18 FPG) umgesetzt werden, wozu der EuGH bereits judizierte, dass hierauf gestützte Maßnahmen auf "außergewöhnliche Umstände" begrenzt sein sollten; es sei vorausgesetzt, dass die vom Betroffenen ausgehende Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit einen "besonders hohen Schweregrad" aufweise, was etwa bei bandenmäßigem Handeln mit Betäubungsmitteln der Fall sein könne (EuGH 23.11.2010, Tsakouridis, C-145/09, insbesondere Rn. 40, 41 und 49 ff; siehe daran anknüpfend auch EuGH 22.5.2012, P.I., C-348/09, Rn. 19 und 20 sowie Rn. 28, wo überdies - im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch eines Kindes, der zu einer siebeneinhalbjährigen Freiheitsstrafe geführt hatte - darauf hingewiesen wurde, dass es "besonders schwerwiegende(r) Merkmale" bedarf; siehe VwGH 24.01.2019, Ra 2018/21/0248).
Hier kann nicht von "außergewöhnlichen Umständen" mit "besonders hohem Schweregrad" bzw. von "besonders schwerwiegenden Merkmalen" der vom BF begangenen Straftaten gesprochen werden, obwohl er bereits sechs Mal strafgerichtlich verurteilt wurde. Einmal wurde eine Zusatzstrafe verhängt; in zwei Fällen wurde - trotz der Vorstrafe wegen schweren Raubes - mit einer Geldstrafe das Auslangen gefunden. Der BF wurde - worauf die Beschwerde zu Recht hinweist - nach der Erstverurteilung 2010 nicht mehr wegen eines Verbrechens verurteilt, sondern nur wegen (zum Teil minderschwerer) Vergehen. Es lag auch kein bandenmäßiger Handel mit Suchtgift vor. Somit kommt die Erlassung eines Aufenthaltsverbots gegen ihn auf Basis des § 67 Abs 1 fünfter Satz FPG entgegen der Ansicht des BFA nicht in Betracht, sodass der auf dieser Annahme fußende Bescheid in Stattgebung der Beschwerde ersatzlos zu beheben ist.
Dazu kommt, dass ein Aufenthaltsverbot unverhältnismäßig in das Privat- und Familienleben des BF eingreift, der seit seiner Geburt rechtmäßig in Österreich lebt, hier sozialisiert wurde und den Kontakt mit seinem XXXX Sohn nicht mittels moderner Kommunikationsmittel aufrechterhalten kann, sodass beiden (Vater und Kind) im Interesse des Kindeswohls (siehe insbesondere § 138 Z 9 ABGB) grundsätzlich das Recht auf persönlichen Verkehr zukommt (vgl. VwGH 22.08.2019, Ra 2019/21/0128).
Da ein geklärter Sachverhalt vorliegt und der BF auch in der Beschwerde kein ergänzendes klärungsbedürftiges Tatsachenvorbringen erstattete, kann eine Beschwerdeverhandlung unterbleiben, zumal iSd § 24 Abs 2 Z 1 VwGVG schon aufgrund der Aktenlage feststeht, dass der angefochtene Bescheid aufzuheben ist.
Die bei Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommene Interessenabwägung ist im Allgemeinen nicht revisibel (VwGH 25.04.2014, Ro 2014/21/0033). Das gilt sinngemäß auch für die einzelfallbezogene Erstellung einer Gefährdungsprognose (VwGH 11.05.2017, Ra 2016/21/0022; 20.10.2016, Ra 2016/21/0284). Die Revision ist nicht zuzulassen, weil es sich um eine Einzelfallentscheidung handelt, bei der sich das BVwG an bestehender höchstgerichtlicher Rechtsprechung orientieren konnte und keine darüber hinausgehende grundsätzliche Rechtsfrage iSd Art 133 Abs 4 B-VG zu lösen hatte.
Schlagworte
Aufenthaltsverbot aufschiebende Wirkung - Entfall Behebung der Entscheidung Interessenabwägung mangelnder Anknüpfungspunkt Privat- und Familienleben unverhältnismäßiger Eingriff Voraussetzungen Wegfall der GründeEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2020:G314.2230641.1.00Im RIS seit
28.07.2020Zuletzt aktualisiert am
28.07.2020