Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 10. Juli 2020 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Kirchbacher als Vorsitzenden sowie den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Mag. Lendl und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Michel-Kwapinski, Mag. Fürnkranz und Dr. Mann in der Strafsache gegen A***** A***** wegen des Verbrechens des sexuellen Missbrauchs einer wehrlosen oder psychisch beeinträchtigten Person nach § 205 Abs 1 StGB und einer weiteren strafbaren Handlung über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichts St. Pölten als Schöffengericht vom 13. Februar 2020, GZ 13 Hv 128/19i-46, nach Anhörung der Generalprokuratur gemäß § 62 Abs 1 zweiter Satz OGH-Geo 2019 den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung wegen Schuld werden zurückgewiesen.
Zur Entscheidung über die verbleibende Berufung werden die Akten dem Oberlandesgericht Wien zugeleitet.
Dem Angeklagten fallen auch die Kosten des bisherigen Rechtsmittelverfahrens zur Last.
Text
Gründe:
Mit dem angefochtenen Urteil wurde A***** A***** des Verbrechens des sexuellen Missbrauchs einer wehrlosen oder psychisch beeinträchtigten Person nach § 205 Abs 1 StGB (I./) und des Verbrechens der Aussetzung nach § 82 Abs 1 StGB (II./) schuldig erkannt.
Danach hat er
am 30. Mai 2019 zwischen ***** und *****
I./ eine wehrlose Person, die wegen einer Geisteskrankheit, wegen einer geistigen Behinderung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen einer anderen schweren, einem dieser Zustände gleichwertigen seelischen Störung unfähig war, die Bedeutung des Vorgangs einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, nämlich die infolge Alkoholisierung von „zumindest 1,68 Promille“ Blutalkoholgehalt widerstandsunfähige, zur Tatzeit 14-jährige L***** R***** unter Ausnützung dieses Zustandes dadurch missbraucht, dass er mit ihr eine dem Beischlaf gleichzusetzende Handlung vornahm, indem er sie zumindest mit seinem Penis oral penetrierte;
II./ im Anschluss an die zu Punkt I./ dargestellte Tat das Leben der L***** R***** gefährdet, indem er die Genannte dadurch, dass er sie auf einem Acker außerhalb des Ortsgebiets absetzte und alleine zurückließ, in eine hilflose Lage brachte und in dieser Lage im Stich ließ.
Dieses Urteil bekämpft der Angeklagte mit Nichtigkeitsbeschwerde. Er brachte elektronisch – jeweils am 30. März 2020 – zwei Rechtsmittelausführungen ein, von denen jene des bereits in der Hauptverhandlung eingeschrittenen Verteidigers mit 30. März 2020 datiert ist (ON 47), jene einer weiteren (gewählten) Verteidigerin mit 27. März 2020 (ON 48). Da das Gesetz nur eine einzige Ausfertigung der Nichtigkeitsbeschwerde zulässt, durch die Aktenlage aber das frühere Einlangen der Rechtsmittelschrift ON 47 dokumentiert ist (ON 1 S 36 f), war die Rechtsmittelausführung ON 47 dem Verfahren über die Nichtigkeitsbeschwerde zugrunde zu legen. Ohne dass es einer formellen Zurückweisung bedurfte, war auf die – wenn auch am selben Tag eingebrachte – spätere Rechtsmittelschrift ON 48 keine Rücksicht zu nehmen (RIS-Justiz RS0100170).
Rechtliche Beurteilung
Die auf § 281 Abs 1 Z 4, 5, 5a und 9 lit a StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde (ON 47) verfehlt ihr Ziel.
In der Hauptverhandlung begehrte der Angeklagte die Einholung eines „forensischen“ Sachverständigengutachtens zum Beweis dafür, „dass bei einer Alkoholisierung von 1,65 Promille kein derartiger Zustand, wie in der Anklageschrift behauptet, vorgelegen ist“ (ON 45 S 54). Der Verfahrensrüge (Z 4) zuwider wurden durch die Abweisung dieses Antrags Verteidigungsrechte des Angeklagten nicht verletzt. Denn er legte nicht dar, weshalb ein (medizinischer) Sachverständiger unter Berücksichtigung der im Antragszeitpunkt vorliegenden Beweisergebnisse (vgl US 9–12) bei dem (aus einer Alkoholisierung von ca 2,13 +/- 0,45 Promille um 16:15 Uhr und ca 1,38 +/- 0,2 Promille um 21:15 Uhr [US 6, 15; ON 15]) erschlossenen Alkoholisierungsgrad von ca 1,65 Promille eines vor dem Tag der Tat kaum mit Alkohol in Berührung gekommenen 14-jährigen Mädchens ausschließen können sollte, dass dieses zur Tatzeit (zwischen 19:00 Uhr und 21:00 Uhr [US 6 f, 11 f]) unfähig gewesen sei, die Bedeutung des sexuellen Vorgangs zu erkennen und sich
– durch freie verstandesmäßige Entscheidung – entsprechend zu verhalten (RIS-Justiz RS0099453). Bleibt anzumerken, dass der Tatbestand des § 205 StGB jedenfalls keinen mit der vollständigen Aufhebung der Willenstätigkeit oder Zurechnungsfähigkeit einhergehenden Zustand (etwa im Sinn einer vollen Berauschung) verlangt (vgl 12 Os 189/09z; 15 Os 92/09p; 15 Os 94/08z).
Entgegen der zu II./ erhobenen Mängelrüge (Z 5 erster Fall) sind die Feststellungen zur Tathandlung des Angeklagten ebenso wenig undeutlich geblieben wie deren Begründung. Denn unter Berücksichtigung der Gesamtheit der Entscheidungsgründe (RIS-Justiz RS0117995) ging das Erstgericht – unter Verwerfung der Darstellung des Angeklagten, das sich ansonsten normal verhaltende Mädchen habe ihm während der Fahrt plötzlich ins Lenkrad gegriffen, sei ohne sein Zutun aus dem PKW ausgestiegen und letztlich weggelaufen (US 16 f) – davon aus, dass der Angeklagte das zuvor in einem Ortsgebiet aufgegriffene, verletzte, betrunkene, stark beeinträchtigte und orientierungslose Mädchen außerhalb von Siedlungsbereichen bei einem Feld an einer Bundesstraße durch Anhaltung des PKW aus diesem aussteigen ließ („absetzte“) und in diesem Zustand bei kühlen Temperaturen allein zurückließ (US 2, 6–9, 14–16). Soweit die Beschwerde unter Berufung auf die Verantwortung des Angeklagten für ihn günstigere Feststellungen einfordert, bekämpft sie bloß die Beweiswürdigung des Schöffengerichts nach Art einer im kollegialgerichtlichen Verfahren nicht vorgesehenen Berufung wegen des Ausspruchs über die Schuld.
Mit eigenständigen beweiswürdigenden Erwägungen gegen die vom Erstgericht zu II./ konstatierte konkrete Gefährdungslage gelingt es der Tatsachenrüge (Z 5a) nicht, beim Obersten Gerichtshof erhebliche Bedenken gegen die Richtigkeit des Ausspruchs über entscheidende Tatsachen zu erwecken.
Die Rechtsrüge (Z 9 lit a) behauptet zu I./, der Angeklagte habe sich in einem (vorsatzausschließenden) Irrtum über eine Einwilligung des Opfers befunden, von dem (nach seiner Darstellung) die (selbstbestimmte) Initiative zum Oralverkehr ausgegangen sei, legt aber nicht dar, weshalb es darauf ankommen sollte (vgl RIS-Justiz RS0120166). Sie orientiert sich nicht an den Urteilskonstatierungen (vgl aber RIS-Justiz RS0099810), wonach er es zur Tatzeit ernstlich für möglich hielt und sich damit abfand, dass das Mädchen physisch und psychisch außer Stande war, die Bedeutung der Gesamtsituation einschließlich der sexuellen Handlungen zu erkennen und sich entsprechend zu verhalten, und dass er den Zustand des Mädchens bei dessen oraler Penetration mit seinem Geschlechtsteil in einer gegen dessen Interesse gerichteten Weise ausnützte (vgl dazu Philipp, WK2 StGB § 205 Rz 3, 11; Leukauf/Steininger/Tipold StGB4 § 205 Rz 7, 19). Indem das Rechtsmittel unter eigenständiger Bewertung der Beweisergebnisse auf Basis der – vom Erstgericht auch zu diesen Aspekten gewürdigten (US 8, 13–16) – Verantwortung des Angeklagten für andere, nicht am Urteilssachverhalt orientierte Feststellungen eintritt, begibt es sich abermals bloß auf die Ebene einer Schuldberufung (vgl auch RIS-Justiz RS0099707).
Dies gilt auch für die weitere Rechtsrüge (Z 9 lit a), welche die zu II./ getroffenen Feststellungen zur subjektiven Tatseite (US 8, 16 f) negiert (RIS-Justiz RS0099810). Welche Konstatierungen darüber hinaus konkret erforderlich sein sollten, sagt die Beschwerde nicht.
Schließlich behauptet die Beschwerde (Z 9 lit a), dem Angeklagten sei zu II./ mangels (aktiven) Verbringens des Opfers in eine hilflose Lage bloß strafloses Unterlassen vorzuwerfen. Weshalb unter Berücksichtigung der bereits dargestellten, vom Angeklagten bewirkten Ortsveränderung das Absetzen eines durch Alkohol erheblich beeinträchtigten 14-jährigen Mädchens in den Abendstunden an einem außerhalb von Siedlungsgebieten befindlichem Straßenstück mit einem bloßen Untätigbleiben ohne Vergrößerung der Gefahr dessen Todes (US 7, 16: durch Erbrechen, Aspiration des Erbrochenen, Unterkühlung und Atemstillstand) gleichzusetzen sein sollte (vgl RIS-Justiz RS0092317, RS0092309; Burgstaller/Fabrizy, WK2 StGB § 82 Rz 7 ff), erklärt der Beschwerdeführer allerdings nicht (RIS-Justiz RS0116569).
Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher bereits bei nichtöffentlicher Beratung sofort zurückzuweisen (§ 285d Abs 1 StPO).
Ebenso war mit der vom Angeklagten angemeldeten Berufung „wegen Schuld“ (ON 45 S 59) zu verfahren, weil eine solche – wie schon erwähnt – gegen kollegialgerichtliche Urteile nicht zusteht (RIS-Justiz RS0098904 [T23]). Daraus folgt die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts zur Entscheidung über die verbleibende Berufung (§ 285i StPO).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 390a Abs 1 StPO.
Textnummer
E128655European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2020:0150OS00052.20S.0710.000Im RIS seit
28.07.2020Zuletzt aktualisiert am
28.07.2020