TE OGH 2020/5/26 10ObS160/19f

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Veröffentlicht am 26.05.2020
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Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.-Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätin Dr. Fichtenau und den Hofrat Mag. Ziegelbauer sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Martin Lotz (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Josef Putz (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei C*, vertreten durch Mag. German Bertsch, Rechtsanwalt in Feldkirch, gegen die beklagte Partei Österreichische Gesundheitskasse, 1030 Wien, Haidingergasse 1, vertreten durch Thurnher Wittwer Pfefferkorn & Partner Rechtsanwälte GmbH in Dornbirn, wegen Kinderbetreuungsgeld, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 11. Oktober 2019, GZ 23 Rs 37/19s-33, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichts Feldkirch als Arbeits- und Sozialgericht vom 11. April 2019, GZ 35 Cgs 299/18i-27, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass das Urteil zu lauten hat:

Das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, dem Kläger das Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens in der Zeit von 16. Juli 2018 bis 15. Oktober 2018 in der Höhe von täglich 66 EUR zu zahlen, wird abgewiesen.

Die klagende Partei hat die Kosten des Revisionsverfahrens selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die Bezeichnung der ursprünglich beklagten Vorarlberger Gebietskrankenkasse war gemäß § 23 Abs 1 und § 538t Abs 1 ASVG von Amts wegen auf Österreichische Gesundheitskasse zu berichtigen.

Gegenstand des Verfahrens ist der Anspruch des Klägers auf Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens aus Anlass der Geburt seines Sohnes O* am 20. 4. 2018 für den Zeitraum von 16. 7. 2018 bis 15. 10. 2018.

Der Kläger, seine Gattin und die Kinder O* und M* sind deutsche Staatsangehörige. Die Familie hat ihren Hauptwohnsitz und Lebensmittelpunkt in Österreich.

Der Kläger ist seit 1. 4. 2017 bei einem Arbeitgeber im Fürstentum Liechtenstein beschäftigt. Der Kläger erhält aus Liechtenstein die Kinderzulage in Höhe von jeweils 280 CHF (monatlich) für beide Kinder. Für den Sohn O* erhielt der Kläger die liechtensteinische Geburtszulage in Höhe von 2.300 CHF.

Die Gattin des Klägers war bis 31. 3. 2017 bei einem Arbeitgeber in Deutschland beschäftigt und ist seit 1. 4. 2017 nicht mehr erwerbstätig. Sie erhält die Ausgleichszahlung zur Familienbeihilfe.

Mit Bescheid vom 4. 12. 2018 lehnte die Vorarlberger Gebietskrankenkasse den Antrag des Klägers auf Zuerkennung von Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens für den Zeitraum von 16. 7. 2018 bis 15. 10. 2018 ua mit der Begründung ab, dass beide Elternteile nicht in Österreich beschäftigt seien, sodass Österreich zur Gewährung von Kinderbetreuungsgeld nicht zuständig sei. Bei der Beschäftigung des Klägers in Liechtenstein handle es sich nicht um eine sozialversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit im Sinn des § 24 Abs 1 Z 2 iVm Abs 2 KBGG.

Mit seiner gegen diesen Bescheid erhobenen Klage begehrte der Kläger die Zuerkennung von Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens für den Zeitraum von 16. 7. 2018 bis 15. 10. 2018 in Höhe von täglich 66 EUR. Der Kläger erfülle alle Anspruchsvoraussetzungen, die Beschäftigung des Klägers in Liechtenstein sei einer Beschäftigung in Österreich gleichzuhalten.

Die Beklagte wandte dagegen ein wie im angefochtenen Bescheid.

Das Erstgericht sprach dem Kläger Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens für die Zeit von 16. 7. 2018 bis zum 15. 10. 2018 in Höhe von täglich 66 EUR zu. Die liechtensteinische Kinderzulage entspreche nicht dem Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens. Liechtenstein kenne keine dem Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens vergleichbare Leistung. Da dem Kläger im Beschäftigerstaat kein Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens gezahlt werde, aber im Wohnsitzmitgliedstaat Österreich ein solcher Anspruch bestehe, sei Österreich zur Gewährung dieses Anspruchs zuständig. Die vom Kläger ausgeübte Erwerbstätigkeit in Liechtenstein sei infolge der gebotenen unionsrechtskonformen Auslegung des § 24 Abs 2 KBGG einer in Österreich ausgeübten sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit gleichzuhalten.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten gegen dieses Urteil nicht Folge. Nach dem Grundsatz der Familienbetrachtungsweise sei irrelevant, welcher Elternteil in welchem Staat eine bestimmte Familienleistung beanspruche. Die liechtensteinische Beschäftigung des Klägers erfülle die Anspruchsvoraussetzungen des § 24 Abs 1 Z 2 iVm Abs 2 KBGG. Das Berufungsgericht sprach aus, dass die Revision nicht zulässig sei.

Gegen dieses Urteil richtet sich die außerordentliche Revision der Beklagten, mit der sie die Abweisung des Klagebegehrens anstrebt.

In der ihm vom Obersten Gerichtshof freigestellten Revisionsbeantwortung beantragte der Kläger die Abweisung der Revision.

Rechtliche Beurteilung

Die außerordentliche Revision ist zulässig und berechtigt.

Auch in ihrer außerordentlichen Revision hält die beklagte Österreichische Gesundheitskasse daran fest, dass sich aus der Entscheidung des EuGH C-352/06, Bosman, ergebe, dass in einem Fall wie dem vorliegenden die nationalen Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sein müssen. Dies sei hier nicht der Fall, weil der Kläger keine sozialversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit in Österreich ausgeübt habe. Österreich sei als Wohnsitzstaat zur Gewährung von Familienleistungen nicht zuständig, aus der unionsrechtlich geforderten Tatbestandsgleichstellung könne diese fehlende Zuständigkeit nicht begründet werden.

Dem kommt im Hinblick auf die zu einem vollkommen vergleichbaren Sachverhalt, aber erst nach der Entscheidung des Berufungsgerichts ergangenen Entscheidung 10 ObS 120/19y Berechtigung zu:

1. Die Verordnung (EG) Nr 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (in der Folge: VO 883/2004) findet ebenso wie die Verordnung (EG) Nr 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (in der Folge: DVO) im Wege des EWR-Abkommens seit 1. 6. 2012 auch auf das Fürstentum Liechtenstein Anwendung (Kahil-Wolff in Fuchs, Europäisches Sozialrecht7, Vor Art 1 VO 883/2004 Rn 6). Der persönliche Anwendungsbereich der VO 883/2004 ist für den Kläger, einen Grenzgänger im Sinn des Art 1 lit f VO 883/2004 eröffnet (Art 2 Abs 1 VO 883/2004). Ihr sachlicher Anwendungsbereich ist gemäß Art 3 Abs 1 lit j VO 883/2004 eröffnet, weil es sich beim Kinderbetreuungsgeld um eine Familienleistung nach dieser Bestimmung handelt (RS0122905 [T4]).

2. Personen, die in den Anwendungsbereich der Verordnung fallen, unterliegen gemäß Art 11 Abs 1 VO 883/2004 den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Grundsätzlich ist gemäß Art 11 Abs 3 lit a VO 883/2004 das Recht des Mitgliedstaats maßgebend, in dem eine Beschäftigung oder selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt wird. Für den Kläger ist demnach das Recht des Fürstentums Liechtenstein als seines Beschäftigungsstaats anwendbar.

3. Familienleistungen werden nach den Art 67–69 VO 883/2004 koordiniert. Gemäß Art 67 VO 883/2004 hat eine Person auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats. Der Kläger hat danach grundsätzlich Anspruch auf Familienleistungen nach liechtensteinischem Recht für seinen in Österreich lebenden Sohn als Familienangehörigen (Art 1 lit i VO 883/2004). Liechtenstein gewährt nach den Verfahrensergebnissen auch Familienleistungen, allerdings keine dem Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens vergleichbare Leistung.

4.1 Sind für denselben Zeitraum und für dieselben Familienangehörigen Leistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten zu gewähren, so gelangen die Prioritätsregeln des Art 68 VO 883/2004 zur Anwendung. Das ist auch hier der Fall, weil für den Sohn des Klägers Leistungen sowohl nach liechtensteinischem Recht (Kinderzulage) als auch nach österreichischem Recht (Ausgleichszahlung zur Familienbeihilfe) gewährt werden.

4.2 Ebenso wie in dem zu 10 ObS 120/19y zu beurteilenden Sachverhalt gelangt auch im vorliegenden Fall nur Art 68 Abs 1 lit a VO 883/2004 zur Anwendung, weil ein Anspruch des Klägers mangels Beschäftigung in Österreich nur aufgrund des Wohnortes des Kindes in Österreich denkbar ist. Auch die Gattin des Klägers war nicht in Österreich beschäftigt, sodass auch hier nur ein über den Wohnort ausgelöster Anspruch in Frage käme. Eine der Entscheidung des EuGH, C-32/18, Moser, vergleichbare Konstellation liegt auch im vorliegenden Fall nicht vor. Insbesondere kann auch im vorliegenden Fall der Kläger seinen Anspruch nicht aus einer Beschäftigung seiner Gattin in Österreich ableiten, wie es in der Entscheidung des EuGH zu C-32/18, Moser, der Fall war.

5.1 Bei der Anwendung österreichischen Rechts ist der Anspruch des Klägers aus dem von der Beklagten angeführten Grund des Fehlens einer sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit in Österreich (§ 24 Abs 2 KBGG) vor der Geburt des Sohnes zu verneinen. Dazu kann auf die ausführliche Begründung der Entscheidung 10 ObS 120/19y verwiesen werden (dort Pkt 4.). Daraus ist zusammengefasst hervorzuheben:

5.2 Nach dem Standpunkt des Klägers müsste im Rahmen der Koordinierung nicht nur das rein mitgliedstaatliche (österreichische) Recht angewendet werden, sondern dieses darüber hinaus unionsrechtskonform ausgelegt werden, indem generell auch Beschäftigungszeiten, die in einem anderen Mitgliedstaat (hier: Liechtenstein) zurückgelegt wurden, für die Erfüllung der Voraussetzungen des § 24 Abs 1 Z 2 iVm Abs 2 KBGG heranzuziehen wären. Damit würde allerdings der Bereich der Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit verlassen werden. Art 45 AEUV räumt einem Wanderarbeitnehmer nicht das Recht ein, sich in seinem Wohnsitzstaat (hier: Österreich) auf dieselbe soziale Absicherung zu berufen wie die, in deren Genuss er käme, wenn er in diesem Mitgliedstaat arbeitete, falls er tatsächlich in einem anderen Mitgliedstaat arbeitet (hier: Liechtenstein) und gemäß den Bestimmungen dieses (leistungszuständigen) Mitgliedstaats nicht in den Genuss einer solchen Absicherung kommt (EuGH C-95/18, C-96/18, van den Berg, Giesen und Franzen, Rn 58). Eine aus einer Beschäftigung in einem anderen Staat abgeleitete Leistungsverpflichtung des Wohnsitzstaats würde das durch den AEUV eingerichtete Gleichgewicht zerstören, weil eine solche Pflicht dazu führen könnte, dass nur das Gesetz des Mitgliedstaats, der die vorteilhaftere soziale Sicherung bietet, angewandt wird. Es bestünde die Gefahr der Beeinträchtigung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit desjenigen Mitgliedstaats, der die vorteilhafteste soziale Sicherung bietet.

6. Der Kläger hat daher keinen Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens.

Der Revision der Beklagten ist Folge zu geben und das Klagebegehren abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Gründe für einen Kostenzuspruch nach Billigkeit wurden nicht geltend gemacht und ergeben sich auch nicht aus der Aktenlage.

Textnummer

E128616

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2021:E128616

Im RIS seit

23.07.2020

Zuletzt aktualisiert am

22.04.2022
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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