TE Vfgh Erkenntnis 2020/6/9 E3835/2019

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Veröffentlicht am 09.06.2020
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4, §9 Abs, §10, §57
FremdenpolizeiG 2005 §46, §52, §55
VfGG §7 Abs2

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten betreffend einen afghanischen Staatsangehörigen mangels aktueller Länderberichte

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander gemäß ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl Nr 390/1973, verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger, Paschtune und sunnitischer Muslim, wurde am 1. Jänner 1997 in Pakistan geboren, ist dort aufgewachsen, hat vier Jahre eine Koran-Schule besucht, hat vier Jahre als Hilfsarbeiter gearbeitet, war noch nie in Afghanistan und hat dort keine Familie. Er stellte nach Einreise in das Bundesgebiet am 31. März 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Mit Bescheid vom 13. Juli 2015 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diesen Antrag auf internationalen Schutz gemäß §3 Abs1 iVm §2 Abs1 Z13 AsylG 2005 ab, erkannte dem Einschreiter aber gemäß §8 Abs1 leg.cit. den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihm gemäß §8 Abs4 leg.cit. eine befristete Aufenthaltsberechtigung.

3. Die dagegen erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 11. November 2016 als unbegründet abgewiesen.

4. Mit Anträgen vom 24. Mai 2016 und 12. Juni 2018 beantragte der Einschreiter jeweils die Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung gemäß §8 Abs4 AsylG 2005.

5. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 17. August 2018 wurde dem nunmehrigen Beschwerdeführer der mit Bescheid vom 13. Juli 2015 zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß §9 Abs1 Z1 AsylG 2005 von Amts wegen aberkannt und sein Antrag vom 12. Juni 2018 auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung gemäß §8 Abs4 leg.cit. abgewiesen. Weiters wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §57 leg.cit. nicht erteilt, gemäß §10 Abs1 Z5 leg.cit. iVm §9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß §52 Abs2 Z2 FPG erlassen und gemäß §52 Abs9 leg.cit. festgestellt, dass die Abschiebung des Einschreiters nach Afghanistan gemäß §46 leg.cit. zulässig sei. Gleichzeitig wurde gemäß §55 Abs1 bis 3 leg.cit. eine zweiwöchige Frist für die freiwillige Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung gesetzt.

6. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit dem angefochtenen Erkenntnis ab. Die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten begründete das Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen damit, dass der Beschwerdeführer ein junger, gesunder und arbeitsfähiger Mann sei, dem eine Rückkehr nach Afghanistan, konkret in die Städte Herat oder Mazar-e Sharif, zugemutet werden könne. Er sei mit der Kultur und den afghanischen Gepflogenheiten vertraut sowie spreche eine Landessprache als Muttersprache. Er sei in der Lage, sich dort ohne Hilfe eines Unterstützungsnetzwerkes eine neue Existenz aufzubauen.

7. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.

8. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift jedoch Abstand genommen und auf die Begründung in der angefochtenen Entscheidung verwiesen.

9. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hat Verwaltungsakten vorgelegt und keine Äußerung erstattet.

II. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

1.1. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unter-scheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleich-behandlung nicht unverhältnismäßig ist.

1.2. Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg.cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

1.3. Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

2. Solche Fehler sind dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

2.1. Gemäß §9 Abs1 Z1 AsylG 2005 ist einem Fremden der Status des subsidiär Schutzberechtigten von Amts wegen mit Bescheid abzuerkennen, wenn die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (§8 Abs1 leg.cit.) nicht oder nicht mehr vorliegen. Nach §8 Abs1 leg.cit. ist einem Fremden, dessen Antrag auf internationalen Schutz in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird (Z1) oder dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist (Z2), der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art2 oder 3 EMRK, oder des 6. oder 13. ZPEMRK bedeuten oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

Zur Beurteilung dessen sind vor allem hinreichend aktuelle Länderberichte heranzuziehen; dies betrifft insbesondere Staaten mit sich rasch ändernder Sicherheitslage (vgl etwa VfSlg 19.466/2011; VfGH 21.9.2012, U1032/12; 26.6.2013, U2557/2012; 11.12.2013, U1159/2012 ua; 11.3.2015, E1542/2014; 22.9.2016, E1641/2016; 23.9.2016, E1796/2016; 27.2.2018, E2124/2017). Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang etwa auf die Richtlinien des Hochkommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (United Nations High Commissioner for Refugees – UNHCR) oder auf die Berichte des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (European Asylum Support Office – EASO). Im Zusammenhang mit der Prüfung einer innerstaatlichen Fluchtalternative ordnet Art8 Abs2 der Richtlinie 2011/95/EU über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf inter-nationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Qualifikationsrichtlinie) an, dass genaue und aktuelle Informationen aus relevanten Quellen, wie etwa Informationen des UNHCR oder des EASO, eingeholt werden; diesen misst das Unionsrecht auch sonst besonderes Gewicht bei (vgl zB auch Art10 Abs3 litb der Richtlinie 2013/32/EU zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes [Verfahrensrichtlinie] und etwa EuGH 30.5.2013, Rs C-528/11, Halaf, Rz 44). Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (vgl etwa VfSlg 20.021/2015, 20.166/2017; VfGH 24.9.2018, E761/2018; VfSlg 20.296/2018) und des Verwaltungsgerichtshofes (jüngst etwa VwGH 13.12.2018, Ra 2018/18/0533; 7.6.2019, Ra 2019/14/0114) ist diesen Berichten daher besondere Beachtung zu schenken.

2.2. Die Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichtes, nach denen dem Beschwerdeführer eine Rückkehr in die Städte Herat und Mazar-e Sharif möglich sei, basieren auf den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30. August 2018 sowie auf der "Country-Guidance: Afghanistan – Guidance note and common analysis" des EASO vom Juni 2018. Diese gingen davon aus, dass alleinstehenden Männern eine innerstaatliche Fluchtalternative in den Städten Mazar-e Sharif und Herat (nach EASO: zusätzlich in Kabul) zumutbar sei, auch wenn es in dem Neuansiedlungsgebiet kein Unterstützungsnetzwerk gebe. Mit dieser Einschätzung steht das Bundesverwaltungsgericht zwar auf dem Boden der zu im Iran geborenen und aufgewachsenen, alleinstehenden, jungen und arbeitsfähigen afghanischen Männern ohne familiäres Netzwerk in Afghanistan ergangenen Judikatur des Verfassungsgerichtshofes, die allerdings auf einer älteren Berichtslage fußt (vgl VfSlg 20.228/2017).

2.3. Das Bundesverwaltungsgericht übersieht nun, dass die von ihm selbst herangezogene Country-Guidance des EASO aus Juni 2018 (die aktuellere Fassung aus Juni 2019 enthält keine hier relevanten Neuerungen) von dieser Beurteilung ausdrücklich jene Gruppe von Rückkehrern ausnimmt, die entweder außerhalb Afghanistans geboren wurden oder lange Zeit außerhalb Afghanistans gelebt haben (S 109):

"For applicants who were born and/or lived outside Afghanistan for a very long period of time, IPA may not be reasonable if they do not have a support network which would assist them in accessing means of basic subsistence. The following elements should be taken into account in this assessment:

- Support network: a support network would be of particular importance in the assessment of the reasonableness of IPA for such applicants.

- Local knowledge: particular consideration should be given to whether the applicant has local knowledge and maintained any ties with Afghanistan. Afghan nationals who resided outside of the country over a prolonged period of time may lack essential local knowledge necessary for accessing basic subsistence means and basic services. The support network could also provide the applicant with such local knowledge.

- Social and economic background: the background of the applicant, including their educational and professional experience and connections, as well as whether they were able to live on their own outside Afghanistan, could be relevant considerations."

2.4. Aus dem Bericht des EASO geht sohin hervor, dass für die genannte Personengruppe eine innerstaatliche Fluchtalternative dann nicht in Betracht komme, wenn am Zielort der aufenthaltsbeendenden Maßnahme kein Unterstützungs-netzwerk für die konkrete Person vorhanden sei, das sie bei der Befriedigung grundlegender existenzieller Bedürfnisse unterstützen könnte, und dass es einer Beurteilung im Einzelfall unter Heranziehung der folgenden Kriterien bedürfe: Unterstützungsnetzwerk, Ortskenntnis der betroffenen Person bzw Verbindungen zu Afghanistan sowie sozialer und wirtschaftlicher Hintergrund (insbesondere Bildungs- und Berufserfahrung, Selbsterhaltungsfähigkeit außerhalb Afghanistans).

2.5. Damit hat sich das Bundesverwaltungsgericht aber in Bezug auf den diesem Personenkreis angehörenden Beschwerdeführer, der nach den Feststellungen des angefochtenen Erkenntnisses in Pakistan geboren wurde, dort bis zu seiner Ausreise lebte und in Afghanistan keine Familie hat, in keiner Weise auseinandergesetzt. Es hat der Country-Guidance des EASO in seiner Entscheidung berücksichtigt, aber ohne nähere Begründung eine von deren Inhalt abweichende Schlussfolgerung gezogen. Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes ist daher unter Außerachtlassung des konkreten Sachverhaltes erfolgt (vgl VfGH 12.12.2019, E3369/2019).

2.6. Mit Blick auf die dargestellte Berichtslage und die wiedergegebene Rechtsprechung bedarf es daher im fortgesetzten Verfahren einer Begründung, auf Grund welcher außergewöhnlichen Umstände es dem Beschwerdeführer den-noch möglich sein könnte, nach Afghanistan zurückzukehren, ohne dass er in seinen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten gemäß Art2 EMRK auf Leben sowie gemäß Art3 EMRK, weder der Folter, noch erniedrigender oder unmenschlicher Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden, verletzt wird (vgl auch VwGH 17.9.2019, Ra 2019/14/0160).

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander gemäß ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, verletzt worden.

2. Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– enthalten.

Schlagworte

Asylrecht, Entscheidungsbegründung, Ermittlungsverfahren, Rückkehrentscheidung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2020:E3835.2019

Zuletzt aktualisiert am

10.07.2020
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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