Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Hon.-Prof. Dr. Höllwerth, Dr. Solé, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Ing. F***** G*****, vertreten durch Vogl Rechtsanwalt GmbH in Feldkirch, gegen die beklagte Partei M***** AG, *****, vertreten durch Dr. Edwin A. Payr, Rechtsanwalt in Graz, wegen 18.602,26 EUR sA, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht vom 16. Mai 2019, GZ 4 R 56/19w-49, mit dem das Urteil des Landesgerichts Feldkirch vom 6. Februar 2019, GZ 57 Cg 71/17d-44, teilweise abgeändert wurde, zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird Folge gegeben.
Die angefochtene Entscheidung wird dahingehend abgeändert, dass – unter Einschluss der in Rechtskraft erwachsenen Abweisung von 7.839,05 EUR und Stattgebung von 2.141,22 EUR je sA – das Urteil des Erstgerichts insgesamt wiederhergestellt wird.
Die beklagte Partei ist schuldig der klagenden Partei die mit 3.459,60 EUR (darin enthalten 338,10 EUR USt und 1.431 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Der Kläger hat mit der Beklagten mit Wirkung ab 1. 12. 2006 einen Unfallversicherungsvertrag abgeschlossen, dem die allgemeinen Bedingungen für die Unfallversicherung – AUVB 2006 (AUVB 2006) zugrunde gelegt wurden. Diese lauten auszugsweise:
„Abschnitt A: Versicherungsschutz
Artikel 1 – Was ist versichert?
Gegenstand der Versicherung
Der Versicherer bietet Versicherungsschutz, wenn dem Versicherten ein Unfall zustößt. [...]
Artikel 2 – Was gilt als Versicherungsfall?
Versicherungsfall ist der Eintritt eines Unfalles (Artikel 6).
[...]
Artikel 6 – Was ist ein Unfall?
Begriff des Unfalles
1. Unfall ist ein vom Willen des Versicherten unabhängiges Ereignis, das plötzlich von außen mechanisch oder chemisch auf seinen Körper einwirkt und eine körperliche Schädigung oder den Tod nach sich zieht.
[...]
Abschnitt B: Versicherungsleistungen
Artikel 7 – Dauernde Invalidität
1. Wann besteht ein Anspruch auf Leistung für Dauernde Invalidität?
Ergibt sich innerhalb eines Jahres vom Unfalltag an gerechnet, dass als Folge des Unfalles eine dauernde Invalidität zurückbleibt, wird – unbeschadet der Bestimmungen des Artikel 7, Punkt 5 – aus der hierfür versicherten Summe der dem Grade der Invalidität entsprechende Betrag gezahlt.
Ein Anspruch auf Leistung für dauernde Invalidität ist innerhalb von 15 Monaten vom Unfalltag an geltend zu machen und unter Vorlage eines ärztlichen Befundes zu begründen.
[...]
Abschnitt C: Begrenzungen des Versicherungsschutzes
[...]
Artikel 20 – In welchen Fällen zahlt der Versicherer nicht?
Ausschlüsse
Ausgeschlossen von der Versicherung sind Unfälle
[...]
9. durch körperliche Schädigung bei Heilmaßnahmen und Eingriffen, die der Versicherte an seinem Körper vornimmt oder vornehmen lässt, soweit nicht ein Versicherungsfall hierzu der Anlass war.
[...]“
Am 14. 10. 2012 zog sich der Kläger im Zuge eines Sturzes bei einem Rugbyspiel in Italien eine Verrenkung seiner rechten Schulter (Schulterluxation) zu, die zu einer Instabilität der rechten Schulter führte. Im Laufe der Zeit entwickelte sich durch immer wieder eintretende Teilverrenkungen eine knöcherne Substanzminderung der rechten Schulter.
Am 18. 10. 2015 kam der Kläger bei einem Eishockeyspiel zu Sturz und verspürte sofort starke Schmerzen an der rechten Schulter. Bereits vor diesem Zeitpunkt bestand der knöcherne Defekt an der Gelenkspfanne (= knöcherne Substanzminderung). Ab einem gewissen Grad des knöchernen Substanzdefekts können auch Normalbewegungen zu Teilverrenkungen führen. Ohne den Sturz vom 14. 10. 2012 wäre es beim Kläger zu keiner chronischen Schulterinstabilität, also zu keinen immer wiederkehrenden Teilverrenkungen der rechten Schulter, und somit auch nicht zu einem knöchernen Defekt an der Gelenkspfanne gekommen. Anlässlich des Sturzes vom 18. 10. 2015 kam es zu keinen erneuten bzw weiteren strukturellen Verletzungen der rechten Schulter des Klägers und zu keiner Verschlimmerung dieses Zustands.
Am 3. 3. 2016 wurde der Kläger an der rechten Schulter operiert. Ziel war ein Pfannenaufbau zur Stabilisierung des Schultergelenks. Bei der Operation wurde das Knochenstück im Bereich des Defekts an der Pfanne mit Schrauben befestigt und anschließend mit einer Fräse zurecht geformt. Intraoperativ kam es durch das Abrutschen eines von einem Famulanten gehaltenen Hakens (Weichteilhaltegerät) zu einer Verletzung der Achselarterie, welche noch während des Eingriffs mittels eines Veneninterponats aus dem rechten Oberschenkel des Klägers rekonstruiert wurde. Weiters bewirkte das intraoperative Abrutschen eine Verletzung des Speichen- und Achselnervs, was sich erst postoperativ anhand von Lähmungen zeigte. Die Nervenverletzung wurde am 5. 3. 2016 in einem operativen Eingriff genäht. Der Sturz vom 18. 10. 2015 war nicht Ursache für die Operation vom 3. 3. 2016.
Der Kläger leidet an einer dauernden Invalidität im Sinne der AUVB 2006 im Ausmaß von gesamt 20,6 % von 100 % (= 25 % von 80 % Armwert, aufgrund der Beeinträchtigungen im Bereich der rechten Schulter bzw des rechten Arms und 1 % von 60 % Beinwert, aufgrund der auf die Venenentnahme zurückzuführenden Narbe im Bereich des rechten Oberschenkels). Von dieser Gesamtinvalidität sind 8 % auf die chronische Schulterinstabilität samt knöcherner Substanzminderung und die restlichen 12,6 % auf die Komplikationen anlässlich der Operation vom 3. 3. 2016 zurückzuführen. Nicht festgestellt werden konnte, ob es beim Kläger bereits innerhalb eines Jahres nach dem Sturz vom 14. 10. 2012 oder erst zu einem späteren Zeitpunkt zu einer dauernden Invalidität aufgrund chronischer Schulterinstabilität samt knöcherner Substanzminderung kam. Die aus den Komplikationen anlässlich der Operation resultierende dauernde Invalidität ist dagegen innerhalb eines Jahres ab dem 3. 3. 2016 aufgetreten und stand innerhalb dieser Frist auch fest.
Mit Schreiben vom 20. 10. 2013 teilte die Beklagte dem Kläger unter Bezugnahme auf den Vorfall vom 14. 10. 2012 mit, dass eine Abrechnung für die Leistungsart Heilungskosten mit 147,48 EUR vorgenommen und dieser Entschädigungsbetrag angewiesen worden sei. Leistungsansprüche aus dem Titel der dauernden Invalidität seien bedingungsgemäß unter Vorlage ärztlicher Befundberichte innerhalb von 15 Monaten zu stellen. Für etwaige Forderungen seien Übersetzungen der Behandlungsunterlagen aus dem Italienischen erforderlich.
In einem E-Mail vom 9. 1. 2014 an den Makler des Klägers verwies die Beklagte auf ein Telefonat vom 28. 1. 2013, in dem einvernehmlich auf eine Schadensprüfung verzichtet worden sei. Im Schreiben vom 11. 1. 2016 bezog sich die Beklagte dem Kläger gegenüber auf diese Vereinbarung und stellte sich auf den Standpunkt, dass damit vereinbarungsgemäß der Schadensfall abschlossen worden sei.
In Bezug auf den Vorfall vom 18. 10. 2015 teilte die Beklagte dem Kläger mit Schreiben vom 22. 2. 2017 mit, dass sie das nach Abschluss der ärztlichen Untersuchung erstellte unfallchirurgische Sachverständigengutachten erhalten habe. Danach ergäbe sich keine dauernde Invalidität aus dem genannten Unfall, weshalb keine Leistung aus diesem Titel erbracht und der Schadensfall als abgeschlossen betrachtet werde.
Die Beklagte hatte zuvor ein Gutachten vom 21. 5. 2016 sowie ein weiteres vom 17. 2. 2017 eingeholt. In beiden wurde primär der Sturz vom 18. 10. 2015 beurteilt, zugleich waren aber jeweils auch der Sturz vom 14. 10. 2012 sowie die Operation vom 3. 3. 2016 Thema. Im Gutachten vom 17. 2. 2017 gelangte der Sachverständige zum Ergebnis, dass beim Kläger eine dauernde Invalidität vorliege, welche jedoch nicht auf den Sturz vom 18. 10. 2015 zurückzuführen, sondern Folge der Schulterverrenkung vom 14. 10. 2012 samt nachfolgender rezidivierender Schulterverrenkungen sowie Schulterinstabilität und der bei der Operation verursachten Gefäß- und Nervenschädigung sei.
Der Kläger begehrte zuletzt 18.602,26 EUR, und zwar 14.096,26 EUR Entschädigungsleistung für dauernde Invalidität und 4.506 EUR für Unfallkosten. Er habe sich am 18. 10. 2015 eine schwere Verletzung an der rechten Schulter zugezogen. Infolgedessen habe er am 3. 3. 2016 operiert werden müssen, wobei der nervus radialis sowie die arteria axillaris beschädigt worden seien. Sowohl der Vorfall vom 18. 10. 2015 als auch das intraoperative Geschehen vom 3. 3. 2016 erfüllten den Unfallbegriff im Sinne der Versicherungsbedingungen. Der Beklagten sei innerhalb der 15-Monate-Frist die zusätzliche Invalidität aufgrund der Operation bekannt gewesen, ihr Verjährungseinwand verstoße gegen Treu und Glauben. Der Leistungsausschluss des Art 20.9 AUVB 2006 liege nicht vor.
Der Beklagte bestritt, beantragte Klagsabweisung und brachte vor, der Kläger habe keinen Anspruch auf Versicherungsleistung, weil er keinen Unfall und keine auf einen Unfall zurückzuführende Gesundheitsschädigung im Sinne der Versicherungsbedingungen erlitten habe, und auch innerhalb eines Jahres keine dauernde Invalidität eingetreten sei. Die Gesundheitsschädigung des Klägers sei Folge einer Schulterverrenkung vom 14. 10. 2012 bzw eines bei einer nicht unfallkausalen Operation vom 3. 3. 2016 unterlaufenen Kunstfehlers bzw degenerativer Vorschäden. Allfällige Ansprüche resultierend aus dem Vorfall vom 14. 10. 2012 seien verjährt bzw nicht fristgerecht geltend gemacht worden. Gegenüber (Folge-)Ansprüchen aus dem Vorfall vom 14. 12. 2012 werde weiters die Einrede der nicht gehörigen Geltendmachung innerhalb der 15-Monate-Frist des Art 7 AUVB 2006 geltend gemacht. Es liege der Risikoausschluss des Art 20.9 AUVB vor.
Das Erstgericht gab dem Klagebegehren mit 10.763,21 EUR sA statt und wies das Mehrbegehren ab. Ein Nachweis, dass sich innerhalb eines Jahres ab dem Unfall vom 14. 10. 2012 eine dauernde Invalidität ergeben habe, sei dem beweispflichtigen Kläger in Anbetracht der getroffenen Negativfeststellungen nicht gelungen. Allerdings sei auch das intraoperative Abrutschen nach dem Wortlaut der AUVB 2006 als Unfall zu beurteilen. Der Ausschlussgrund des Artikel 20.9 AUVB 2006 sei zu verneinen, weil Behandlungsfehler dann nicht von der Versicherung ausgeschlossen seien, wenn – wie hier in Bezug auf den Sturz vom 14. 10. 2012 – ein Versicherungsfall Anlass für die schädigende Behandlung gewesen sei. Daher sei der Anspruch des Klägers auf eine Versicherungsentschädigungsleistung infolge dauernder Invalidität insofern berechtigt, als die dauernde Invalidität aus den intraoperativen Komplikationen vom 3. 3. 2016 resultiere, also in Bezug auf eine dauernde Invalidität im Ausmaß von 12,6 %. Gemäß Artikel 7.5.2. (Variante B) der Versicherungsbedingungen ergebe sich auf Basis der Versicherungssumme von 136.856,91 EUR ein Anspruch des Klägers in Höhe von 8.621,99 EUR (= 136.856,91 EUR : 2 x 12,6 %). Weiters stünden dem Kläger Behandlungs- und Medikamentenkosten in Höhe von 2.141,22 EUR zu.
Das Berufungsgericht änderte diese Entscheidung über Berufung der Beklagten teilweise dahingehend ab, dass es den Zuspruch von 2.141,22 EUR sA bestätigte und das Mehrbegehren abwies. Zum Unfall vom 3. 3. 2016 habe der Kläger keine Schadensmeldung erstattet. Zum Zeitpunkt der Klagseinbringung am 6. 7. 2017 sei die 15-Monats-Frist in Ansehung dieses Vorfalls bereits abgelaufen gewesen. Wenngleich die Zweckrichtung der Fristenregelung, den Versicherer vor Beweisschwierigkeiten infolge Zeitablaufs zu schützen und eine alsbaldige Klärung der Ansprüche herbeizuführen, hier nicht beeinträchtigt worden sei, könne doch nicht gesagt werden, dass der genannten Frist keinerlei Bedeutung zukomme, weshalb kein Anspruch des Klägers aus dem Titel der dauernden Invalidität gestützt auf den Unfall vom 3. 3. 2016 bestehe.
Das Berufungsgericht ließ die Revision nachträglich zu. Ein Ausschlusstatbestand sei richtigerweise vom Versicherer zu beweisen. Hier habe zwar nach Ansicht des Berufungsgerichts die Fristversäumung im Verfahren, in dem der Unfall vom 3. 3. 2016 bis zur letzten Streitverhandlung gar nicht Gegenstand gewesen sei, nicht neuerlich eingewendet werden müssen, eine andere rechtliche Sicht sei aber denkbar.
Dagegen richtet sich die Revision des Klägers mit dem Antrag, ihm weitere 8.621,99 EUR sA zuzusprechen. Hilfsweise stellt er einen Aufhebungsantrag.
Die Beklagte beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung bloß erkennbar die Zurückweisung der Revision, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist zulässig; sie ist auch berechtigt.
1. Im Bereich der privaten Unfallversicherung ist grundsätzlich jeder Unfall mit seinen konkreten Folgen getrennt zu beurteilen und abzurechnen. Ein neuer Unfall ist jeweils ein neuer Versicherungsfall in der Unfallversicherung und als solcher zu entschädigen (RS0121647). Bei mehreren aufeinanderfolgenden Unfällen ist für jedes Unfallereignis zu prüfen, ob und in welchem Umfang fristgerecht Invalidität gelten gemacht wurde (Grimm, Unfallversicherung5 AUB 2010 Rn 8).
2. Der Unfall vom 14. 10. 2012 führte zu einer Versicherungsleistung für Unfallkosten (Heilungskosten), einen Anspruch auf Leistung wegen dauernder Invalidität machte der Kläger damals letztlich nicht geltend.
Für den Unfall vom 18. 10. 2015 hat die Beklagte am 22. 2. 2017 die Erbringung einer Leistung für dauernde Invalidität aufgrund der von ihr eingeholten Sachverständigengutachten abgelehnt, weil aus diesem Unfall keine unfallskausale dauernde Invalidität festgestellt werden konnte, was auch den Feststellungen entspricht.
Zu prüfen ist nun, ob die durch die Operation am 3. 3. 2016 verursachten Verletzungen dem Unfallbegriff nach Art 6.1 zu unterstellen sind.
3. Entgegen dem Einwand der Beklagten liegt der Ausschlusstatbestand des Art 20 Z 9 AUVB 2006 nicht vor.
Nach dieser Bestimmung sind von der Versicherung Unfälle durch körperliche Schädigung bei Heilmaßnahmen und Eingriffen ausgeschlossen, die der Versicherte an seinem Körper vornehmen lässt, soweit nicht ein Versicherungsfall hierzu Anlass war.
Versicherungsfall ist nach Art 2 AUVB 2006 der Eintritt eines Unfalls, der seinerseits in Art 6 AUVB 2006 näher definiert wird als vom Willen des Versicherten unabhängiges Ereignis, das plötzlich von außen mechanisch oder chemisch auf seinen Körper einwirkt und eine körperliche Schädigung oder den Tod nach sich zieht.
Dauernde Invalidität ist nach der Bedingungslage nicht Teil der Definition des Versicherungsfalls „Unfall“, sondern Voraussetzung für eine von mehreren vorgesehenen Versicherungsleistungen. Für den Unfall von 2012 wurde dem Kläger auch bereits eine andere vorgesehene Versicherungsleistung, nämlich jene der Unfallkosten nach Art 12 AUVB 2006 erbracht. Es lag daher am 14. 10. 2012 ein Versicherungsfall im Sinn der Bedingungen vor, der später unstrittig Anlass für die Heilbehandlung (Operation) des Klägers war, bei der der weitere Unfall geschah. Es besteht daher für die Folgen dieses Unfalls Deckungspflicht der Beklagten.
4. Diesen Unfall hat der Kläger bereits in seinem Schriftsatz vom 18. 9. 2017, - und nicht erst in der letzten mündlichen Streitverhandlung - aber dennoch außerhalb der 15-Monate-Frist geltend gemacht. Dass er davor aus diesem Unfall Ansprüche aus dauernder Invalidität ausdrücklich geltend gemacht hätte, ergab das Verfahren nicht und er hat dies auch nicht behauptet.
5. Nach Art 7.1. zweiter Satz AUVB 2006 ist der Anspruch auf Leistung für dauernde Invalidität innerhalb von 15 Monaten vom Unfalltag an geltend zu machen. An die Geltendmachung der Invalidität sind keine hohen Anforderungen zu stellen (Dörner in Langheid/Wandt MüKo VVG², § 178 Rn 226). Sie setzt weder die Nennung eines Invaliditätsgrads noch eines bestimmten Anspruchs voraus; erforderlich ist die Behauptung, es sei Invalidität dem Grunde nach eingetreten (7 Ob 225/14k).
6. Zu dieser Frist für die Geltendmachung des Anspruchs vertritt der Fachsenat in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass es sich dabei um eine Ausschlussfrist handelt. Wird diese Ausschlussfrist versäumt, so erlischt der Entschädigungsanspruch (RS0082292). Dieser Rechtsverlust tritt grundsätzlich auch dann ein, wenn die Geltendmachung des Rechts während der Laufzeit unverschuldet unterblieben ist (zuletzt 7 Ob 47/19s; RS0034591). Auch allfällige Unkenntnis der bestehenden Vertragslage ändert an den Rechtsfolgen der Fristversäumnis nichts (7 Ob 47/19s; vgl RS0034591 [T1]).
Ob sich aus den Vorgängen eine vorherige Erhebung des Anspruchs ableiten ließe, kann dahingestellt bleiben, weil eine allfällige Fristversäumung am Ausgang des Verfahrens nichts ändert:
7. Die Beklagte hat im erstinstanzlichen Verfahren gegenüber (Folge-)Ansprüchen aus dem Vorfall vom 14. 10. 2012 die nicht gehörige Geltendmachung innerhalb der 15-Monate-Frist des Art 7 AUVB geltend gemacht.
Auch wenn man diesen Einwand auf den intraoperativen Unfall vom 3. 3. 2016 bezieht, wurde vom Obersten Gerichtshof im Einklang mit deutscher Judikatur und Lehre bereits vielfach betont, dass ein Versicherungsverhältnis im besonderen Maße von Treu und Glauben beherrscht wird (7 Ob 230/06h; 7 Ob 225/14k; RS0018055; Dörner in Langheid/Wandt MüKo VVG², § 186 Rn 13f; vgl Jacob, Treu und Glauben in der privaten Unfallversicherung, VersR 2007, 456 mit Verweisen auf dt. Judikatur). Diesen Grundsatz muss der Versicherungsnehmer ebenso gegen sich gelten lassen wie der Versicherer. Die starke Betonung von Treu und Glauben soll der Tatsache Rechnung tragen, dass jeder der beiden Vertragspartner auf die Unterstützung durch den jeweils anderen angewiesen ist, weil er dem jeweils anderen in der einen oder anderen Weise unterlegen ist: Der Versicherungsnehmer verfügt zB allein über die Kenntnis wesentlicher Umstände für den Vertragsschluss und die Schadensabwicklung; der Versicherer ist dem Versicherungsnehmer überlegen durch die Beherrschung der Versicherungstechnik, seiner Geschäftskunde, seinen umfangreichen Erfahrungen und wegen der Sachverständigen, deren er sich bedienen kann. Treu und Glauben beeinflussen daher das Versicherungsverhältnis in vielfacher Weise und können nach herrschender Meinung ergänzende Leistungs- oder Verhaltenspflichten schaffen (7 Ob 230/06h mwN).
8. So judizierte der Oberste Gerichtshof zB bereits zu Art 7.1. AUVB 2006 vergleichbaren Klauseln, dass ohne den Hinweis, dass der Versicherer in der erstatteten Schadensmeldung weder die Geltendmachung eines Anspruchs auf Leistung für dauernde Invalidität noch einen ärztlichen Befundbericht erblickt und die Geltendmachung des Anspruchs und die Vorlage eines Befundberichts innerhalb von 15 Monaten vom Unfalltag an zu erfolgen hat, die Berufung des Versicherers auf den Fristablauf gegen Treu und Glauben verstößt (7 Ob 225/14k; RS0082222).
9. Hier hat der Kläger unstrittig Ansprüche aus dem Unfall vom 18. 10. 2015 geltend gemacht. Der Beklagten war aufgrund des deswegen eingeholten Gutachtens vom 17. 2. 2017 bekannt, dass zwar der Unfall vom 18. 10. 2015 keine dauernde Invalidität nach sich gezogen hatte, wohl aber die Vorfälle während der Operation vom 3. 3. 2016 und der Zusammenhang mit dem Unfall vom 14. 10. 2012. Dennoch lehnte sie daraufhin mit Schreiben vom 22. 2. 2017 die positive Schadensabwicklung für den „oben genannten gegenständlichen Unfall“ ab, ohne auf die Notwendigkeit fristgerechter Anspruchsstellung für den ihr bekannten weiteren Versicherungsfall hinzuweisen.
Erscheint aber aufgrund des Inhalts der Schadensmeldung oder aufgrund anderer Umstände (zB vorliegender ärztlicher Unterlagen – vgl Knappmann in Prölss/Martin Versicherungsvertragsgesetz27 AUB 94 § 7 Rn 22) eine Invalidität möglich oder liegt die Annahme nicht fern, muss der Versicherer auf die notwendige Geltendmachung innerhalb der Frist hinweisen. Er handelt treuwidrig, wenn er die anspruchsbegründenden Förmlichkeiten ausnutzt, um sich einer sonst eindeutigen Leistungsverpflichtung zu entziehen (Grimm, Unfallversicherung5 AUB 2 Rn 17 mit Verweisen auf deutsche Judikatur; Maitz AUVB, 112f) bzw, wenn er erkennt, dass Invalidität eintreten wird und er den Versicherten dennoch nicht auf den Ablauf der Frist hinweist (Römer in Römer/Langheid, VVG², § 179 Rn 25). Grimm, aaO Rn 19, hält in Fällen der Kenntnis des Versicherers vom Dauerschaden die fristgerechte Geltendmachung überhaupt für entbehrlich. Es sei aber zumindest treuwidrig, wenn er den Versicherten in diesem Fall nicht ausdrücklich auf die Notwendigkeit der fristgerechten Geltendmachung hinweise.
10. Diese Sicht wird durch den Zweck der Regelung des Art 7.1. AUVB 2006 und vergleichbarer Klauseln unterstützt, der in der Herstellung von möglichst rascher Rechtssicherheit und Rechtsfrieden liegt. Es soll der später in Anspruch genommene Versicherer vor Beweisschwierigkeiten infolge Zeitablaufs geschützt und eine alsbaldige Klärung der Ansprüche herbeigeführt werden. Die durch eine Ausschlussfrist vorgenommene Risikobegrenzung soll damit im Versicherungsrecht eine Ab- und Ausgrenzung schwer aufklärbarer und unübersehbarer (Spät-)Schäden bewirken (7 Ob 250/01t; 7 Ob 225/14k; RS0082216). Die Fristenklausel dient dem Interesse des Versicherers, der rechtzeitig Kenntnis von der Invalidität und seiner Leistungspflicht haben soll (Manthey, Wann ist dem Unfallversicherer die Berufung auf die formellen Voraussetzungen des § 7 Abs 1 AUB 88 [§ 8 Abs 2 AUB 61] verwehrt?, NVersZ 2001, 55 [59] mwN).
Diese Klärung war hier durch die der Beklagten bereits vor Ablauf der 15-Monate-Frist vorliegenden Gutachten ohnehin schon erfolgt. Fordert sie daher nicht die gesonderte Geltendmachung dieser Ansprüche, ist ihr die Berufung auf die Versäumung der 15-Monatsfrist in Zusammenhang mit der dauernden Invalidität des Klägers durch die Vorfälle vom 3. 3. 2016 nach Treu und Glauben verwehrt.
11. Im Ergebnis war daher der Zuspruch des Erstgerichts für die sich aus dem Unfall anlässlich der Heilbehandlung vom 3. 3. 2016 ergebende dauernde Invalidität des Klägers wiederherzustellen.
12. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 50 Abs 1, 41 ZPO.
Textnummer
E128448European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2020:0070OB00137.19A.0424.000Im RIS seit
08.07.2020Zuletzt aktualisiert am
22.09.2020