TE Vfgh Beschluss 1996/6/10 B1197/95, B1198/95, B1199/95, B1200/95, B1201/95

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 10.06.1996
beobachten
merken

Index

41 Innere Angelegenheiten
41/02 Staatsbürgerschaft, Paß- und Melderecht, Fremdenrecht

Norm

EMRK Art8
AufenthaltsG §5 Abs1
AufenthaltsG §6 Abs2
AufenthaltsG §6 Abs3

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch Abweisung von Anträgen auf Verlängerung von Aufenthaltsbewilligungen aufgrund mangelnder Interessenabwägung; keine Berücksichtigung der Interessen einer seit Jahren in Österreich lebenden Familie bei der Beurteilung der Fragen der ortsüblichen Unterkunft, des ausreichenden Einkommens und der Folgen der verspäteten Antragstellung

Spruch

Die Beschwerdeführer sind durch die angefochtenen Bescheide in dem durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.

Die Bescheide werden aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, den Beschwerdeführern zu Handen ihres Rechtsvertreters die mit je S 18.000,-- bestimmten Prozeßkosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. Mit den angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheiden des Bundesministers für Inneres wurden die Anträge eines Staatsangehörigen des ehemaligen Jugoslawien, seiner Ehegattin und deren minderjähriger Kinder auf Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung unter Berufung auf §5 Abs1 des Aufenthaltsgesetzes, BGBl. Nr. 466/1992, idF vor der Novelle BGBl. Nr. 351/1995, abgewiesen. Die Behörde begründete die Versagung der Aufenthaltsbewilligungen im wesentlichen damit, daß Ermittlungen der Berufungsbehörde zufolge weder die zur Verfügung stehenden Unterhaltsmittel noch die zur Verfügung stehende Unterkunft dem im Gesetz geforderten Ausmaß entsprechen.

Das Vorliegen des Versagungstatbestandes des §5 Abs1 AufG wird in den angefochtenen Bescheiden weiters - übereinstimmend - mit folgenden Ausführungen begründet:

"Gerade die Notwendigkeit, in einem ohnedies sensiblen Bereich die weitere Zuwanderung sorgfältig zu steuern, macht es erforderlich, strenge Maßstäbe an die Beurteilung der gesicherten Unterhaltsmittel von Zuwanderern anzulegen. Ist der Unterhalt bzw. die ortsübliche Unterkunft für die Geltungsdauer der Bewilligung nicht gesichert, so darf gemäß §5 Abs1 des Aufenthaltsgesetzes eine Bewilligung nicht erteilt werden."

Gegen diese Bescheide richten sich die vorliegenden, auf Art144 Abs1 B-VG gestützten Beschwerden, mit denen die Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art8 EMRK) geltend gemacht und die kostenpflichtige Aufhebung der angefochtenen Bescheide begehrt wird.

Der Bundesminister für Inneres als jene Behörde, die die angefochtenen Bescheide erlassen hat, legte die Verwaltungsakten vor und erstattete jeweils eine Gegenschrift, wobei im wesentlichen folgendes ausgeführt wurde:

"Durch den Gesetzgeber ist in §5 Abs1 AufG normiert, daß eine Aufenthaltsbewilligung nur erteilt werden darf, wenn ein gesicherter Lebensunterhalt vorliegt. Dieser Diktion ist von den befaßten Behörden ein Mindestlimit für die Einkunftshöhe der Antragsteller in Form der Sozialhilferichtsätze des jeweiligen Bundeslandes zugeordnet worden. Die Wiener Landesregierung hat mit Verordnung mit Wirksamtkeit vom 1.1.1995 für das Jahr 1995 festgelegt, daß die monatliche Geldleistung zur Sicherung des Lebensunterhaltes für Alleinstehende S 4.770.- für Haushaltsvorstände S 4.652.-, für Haushaltsangehörige mit Anspruch auf Familienbeihilfe S 1.431.- und für Haushaltsangehörige ohne Anspruch auf Familienbeihilfe S 2.388.- beträgt ...

Von diesem monatlichen Mindesteinkommen wurden von der belangten Behörde das Mietaufkommen subtrahiert und die Sonderzahlungen des 13. und 14. Monatsgehalts der Familienerhalterin einbezogen. Somit wurde von der belangten Behörde ein Endbetrag von S 9.500.- für den fünfköpfigen Haushalt als zur Verfügung stehendes Monatseinkommen zur Deckung des Lebensunterhaltes im Sinne des §5 Abs1 AufG des Beschwerdeführers ermittelt.

Da dieser Endbetrag nicht als gesicherter Unterhalt im Sinne des Gesetzes anzusehen war, hätte die belangte Behörde schon auf Grund dieses Sachverhaltes das Verfahren mit der Abweisung der Berufung gemäß §5 Abs1 AufG in Verbindung mit §66 Abs4 AVG zu finalisieren gehabt...

Zusätzlich zu diesem Sachverhalt waren die Wohnverhältnisse des Beschwerdeführers im Rahmen des §5 Abs1 AufG in Hinblick auf die geforderte ortsübliche Unterkunft zu ermitteln.

Fest steht, daß die fünfköpfige Familie des Beschwerdeführers zum Zeitpunkt der Erlassung des bekämpften Bescheides auf 20 m2 Unterkunft genommen hatte...

Ohne im besonderen auf die sanitären und räumlichen Verhältnisse einer derartigen Unterkunft eingehen zu müssen, kann bei einer Durchrechnung ein zur Verfügung stehendes Raummaß von 4 m2 für eine Person keinesfalls als ortsüblich für das Bundesland Wien bestätigt werden. Eine derartige Bedeutung der Norm bzw. des Ausdrucks 'ortsüblich' erscheint einer Interpretation nicht zugänglich und vollkommen überzogen, da dadurch die Norm des §5 Abs1 AufG als inhaltsleer und dem Vollzug nicht zugänglich dargestellt wird...

Bezüglich der Vorhaltungen in bezug auf den Artikel 8 MRK und einer angeblich fehlenden Abwägung der öffentlichen und privaten Interessen ist folgendes auszuführen: ...

Im letzten Absatz des beklagten Bescheides wird auf die Notwendigkeit einer gesetzlich gesteuerten Zuwanderung, also auf die öffentlichen Interessen in der Migrationspolitik des Gesetzgebers, hingewiesen und auf die gesetzlichen Grundlagen im gegenständlichen Gesetz eingegangen.

Auch wenn durch diesen Absatz nicht wörtlich eine Interessensabwägung zwischen den öffentlichen und privaten Interessen durch die belangte Behörde vorgenommen wurde, so ist dies durch den teleologischen Gehalt ohne juristische Fachkenntnisse eindeutig erkennbar. Die öffentlichen Interessen in diesem Verwaltungsbereich liegen in einer sorgfältigen Steuerung der Migration, welche durch die angeführten gesetzlichen Grundlagen gewährleistet werden solle. Daß durch dieses Instrumentarium in das verfassungsrechtlich geschützte Recht gemäß Art8 MRK eingegriffen wird und somit private Interessen auch verletzt werden, steht in diesem Zusammenhang außer Frage.

Für die belangte Behörde wurde, wenn auch nicht als solche bezeichnet, eine dem Beschwerdeführer verständliche und ausreichende Begründung in bezug auf den Art8 MRK in der Bescheidbegründung vermittelt."

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässigen - Beschwerden erwogen:

1.a) Die angefochtenen, Aufenthaltsbewilligungen nach dem AufG versagenden Bescheide greifen in das durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens der Beschwerdeführer ein.

b) Ein Eingriff in dieses verfassungsgesetzlich gewährleistete - unter Gesetzesvorbehalt stehende - Recht ist dann verfassungswidrig, wenn der ihn verfügende Bescheid ohne jede Rechtsgrundlage erging, auf einer dem Art8 EMRK widersprechenden Rechtsgrundlage beruht oder wenn die Behörde bei Erlassung des Bescheides eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hat. Ein solcher Fall liegt nur vor, wenn die Behörde einen so schweren Fehler beging, daß dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen ist, oder wenn sie der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art8 Abs1 EMRK widersprechenden und durch Art8 Abs2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellte (vgl. VfSlg. 11638/1988).

c) Wie der Verfassungsgerichtshof im Erkenntnis VfGH 16.3.1995, B2259/94, mit näherer Begründung dargelegt hat, ist die Behörde auch bei Anwendung der im §5 Abs1 AufG besonders hervorgehobenen Versagungstatbestände der für die Dauer der Bewilligung nicht gesicherten ortsüblichen Unterkunft oder des nicht gesicherten Lebensunterhaltes in Fällen, in denen durch die Versagung der Bewilligung in das durch Art8 EMRK gewährleistete Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens eingegriffen wird, verhalten, die Notwendigkeit der Versagung der Bewilligung aus den in Art8 Abs2 EMRK umschriebenen öffentlichen Interessen zu prüfen und dabei auch auf die familiären und sonstigen privaten Interessen des Bewilligungswerbers Bedacht zu nehmen.

d) In den vorliegenden Beschwerdefällen handelt es sich um Anträge auf Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung von Fremden, die sich - dem unwidersprochen gebliebenen Beschwerdevorbringen zufolge - seit 1971 bzw. 1984 rechtmäßig in Österreich aufgehalten haben bzw. bereits hier geboren sind und sich seit der Geburt im Bundesgebiet aufgehalten haben. Die belangte Behörde hat das Vorliegen des Versagungstatbestandes des §5 Abs1 AufG - in offensichtlicher Verkennung des entscheidungsrelevanten Sachverhaltes - letztlich allein mit einem Hinweis auf die Notwendigkeit der sorgfältigen Steuerung der weiteren Zuwanderung von Fremden begründet. Sie hat damit die im Sinne des Art8 EMRK gebotene Interessenabwägung in Wahrheit nicht vorgenommen.

Die angefochtenen Bescheide waren daher schon aus diesem Grund aufzuheben.

2. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §88 VerfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer von je S 3.000,-- enthalten.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung getroffen werden.

Schlagworte

Aufenthaltsrecht, Privat- und Familienleben, Interessenabwägung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1996:B1197.1995

Dokumentnummer

JFT_10039390_95B01197_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten