Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Hon.-Prof. Dr. Höllwerth, Dr. Solé, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei A***** S*****, vertreten durch Dr. Klaus Rohringer, Rechtsanwalt in Wels, gegen die beklagte Partei U***** AG, *****, vertreten durch Pressl Endl Heinrich Bamberger Rechtsanwälte GmbH in Salzburg, wegen 53.068,74 EUR sA, über die Revision der beklagten Partei gegen das Teilurteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom 7. Februar 2020, GZ 4 R 163/19x-52, womit das Urteil des Landesgerichts Linz vom 26. September 2019, GZ 1 Cg 82/17z-48, abgeändert wurde, zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird Folge gegeben.
Das angefochtene Teilurteil wird dahin abgeändert, dass es einschließlich seines unbekämpft in Rechtskraft erwachsenen Teils lautet:
„1. Das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei 46.862,46 EUR samt 4 % Zinsen aus 37.237,68 EUR vom 1. Oktober 2017 bis 30. September 2018, aus 55.856,53 EUR vom 1. Oktober 2018 bis 13. Mai 2019 und aus 46.862,46 EUR seit 1. August 2019 zu zahlen, wird abgewiesen.
2. Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung vorbehalten.“
Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 2.920,86 EUR (darin enthalten 248,31 EUR an USt und 1.431 EUR an Barauslagen) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Zwischen den Streitteilen besteht ein Berufsunfähigkeitsversicherungsvertrag mit Gewinnbe-teiligung, dem die „Versicherungsbedingungen der Berufsunfähigkeitsversicherung idF Beilage 438, gültig ab 1. 9. 2009“ (in Folge AVB) zugrunde liegen. Diese lauten auszugsweise wie folgt:
„§ 3 Was ist Berufsunfähigkeit im Sinne dieser Bedingungen?
1. Ist die versicherte Person sechs Monate ununterbrochen infolge Krankheit, Körperverletzung oder mehr als altersentsprechenden Kräfteverfalls, die während der Prämienzahlungsdauer entstanden und ärztlich nachzuweisen sind, mindestens zu 50 % – im Vergleich mit einem körperlich und geistig Gesunden mit vergleichbaren Fähigkeiten und Kenntnissen – außerstande ihren Beruf auszuüben, so gilt die Fortdauer dieses Zustandes von Anfang an als Berufsunfähigkeit.
Berufsunfähigkeit liegt nicht vor, wenn die versicherte Person eine andere ihrer Ausbildung und Erfahrung und ihrer bisherigen Lebensstellung entsprechende Tätigkeit ausübt.
[…]“
Im Versicherungsfall wurde eine Berufsunfähigkeitspension in Höhe von 1.500 EUR monatlich vereinbart. Die Gewinnanteile betrugen für den Zeitraum Februar 2016 bis einschließlich Jänner 2018 315,36 EUR, wovon auf den Zeitraum 1. Februar 2016 bis 31. Dezember 2016 123,75 EUR entfielen.
Seit dem Jahr 2012 leidet der Kläger an HWS-Beschwerden (Cervicalsyndrom) in Form von Nackenschmerzen. Im Februar 2015 wurde ein dorsaler Bandscheibenvorfall C5/C6 linksbetont, eine Wirbelkanalstenose sowie eine Foramenstenose links diagnostiziert. Im Zeitraum von 26. Februar 2015 bis Jahresende 2016 war der Kläger aufgrund des Bandscheibenvorfalls und der daraus resultierenden Schmerzen nicht in der Lage, mindestens 50 % seiner Arbeit als LKW-Fahrer zu verrichten. Ab dem Jahresende 2016 lag keine Arbeitsunfähigkeit des Klägers mehr vor.
Der Kläger war von 10. November 2015 bis 15. Juli 2016 dennoch weiterhin als Kraftfahrer auf Vollzeitbasis tätig. Von 22. August 2016 bis 31. Jänner 2017 übte er den Beruf als Kraftfahrer im Umfang von 40 Stunden pro Monat aus.
Der Kläger begehrte zuletzt die Zahlung von 53.068,78 EUR (monatliche Rentenzahlungen für den Zeitraum November 2015 bis März 2018 und Mai 2019 bis August 2019 zuzüglich Prämienrefundierung und Gewinnanteile). Er habe aufgrund einer Aggravierung seines Leidens im Bereich der Halswirbelsäule seinen Beruf als LKW-Fahrer aufgeben müssen. Seine körperliche Leistungsfähigkeit sei zumindest 50 % im Vergleich zu einem gesunden Berufskraftfahrer eingeschränkt gewesen, insbesondere habe er kaum mehr Ladetätigkeiten verrichten können. Zudem sei Anfang des Jahres 2018 eine Herzerkrankung diagnostiziert worden, die einen Eingriff am Herzen bedingt habe. Aufgrund dieser Herzerkrankung leide er bis heute unter starken Herz-Rhythmus-Störungen, intermittierend auch an Sehstörungen am linken Auge. Aufgrund dieser Leiden sei er seit 26. Februar 2015 durchgehend berufsunfähig im Sinn der Versicherungsbedingungen.
Die Beklagte beantragte die Klagsabweisung und wandte ein, dass eine Berufsunfähigkeit des Klägers nie vorgelegen habe. Der Kläger sei auch weiterhin fähig, seinen zuletzt ausgeübten Beruf als LKW-Fahrer zu mindestens 50 % auszuüben.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Eine Berufsunfähigkeit iSd Art 3.1 AVB liege nicht vor, wenn die versicherte Person eine andere ihrer Ausbildung und Erfahrung und ihrer bisherigen Lebensstellung entsprechende Tätigkeit ausübe, dies umso weniger, wenn die versicherte Person sogar noch dieselbe Tätigkeit ausübe, wie zuvor. Der Kläger sei zwischen dem 26. Februar 2015 bis zum Jahresende 2016 nicht in der Lage gewesen, mindestens 50 % seiner Arbeit als LKW-Fahrer zu verrichten. Da er jedoch vom 10. November 2015 bis 15. Juli 2016 als Kraftfahrer auf Vollzeitbasis berufstätig gewesen sei, sei er unabhängig von seinem medizinischen Status nicht als berufsunfähig im Sinne der Versicherungsbedingungen anzusehen. Dies habe zur Folge, dass er mit dem verbleibenden Zeitraum vom 15. Juli 2016 bis 31. Dezember 2016, das seien bloß fünf Monate, nicht die für das Vorliegen einer Berufsunfähigkeit im Sinne der Versicherungsbedingungen notwendige Auslöseschwelle von sechs Monaten überschritten habe. Ab dem Jahresende 2016 sei zu keinem Zeitpunkt mehr eine Verminderung der Berufsunfähigkeit von mindestens 50 % vorgelegen, sodass das Klagebegehren abzuweisen gewesen sei.
Der gegen die Abweisung von 28.052,01 EUR sA (Leistungsansprüche für die Zeiträume November 2015 bis Dezember 2016 und Mai 2019 bis August 2019) erhobenen Berufung des Klägers gab das Berufungsgericht Folge und änderte das angefochtene Urteil – unter Berücksichtigung der in Rechtskraft erwachsenen Abweisung von 25.016,73 EUR sA – in ein Teilurteil dahin ab, dass es die Beklagte zur Zahlung von 21.845,73 EUR sA verpflichtete. Im Übrigen, sohin im Umfang von 6.206,28 EUR sA, hob es das Ersturteil auf und verwies die Rechtssache insoweit zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurück. Der Kläger sei im Zeitraum 26. Februar 2015 bis Jahresende 2016 aufgrund seines Gesundheitszustands iSd Art 3.1 Satz 1 AVB mindestens zu 50 % außer Stande gewesen, seinen Beruf auszuüben. Daran ändere auch der Umstand nichts, dass er vom 10. November 2015 bis 15. Juli 2016 dennoch einer Vollzeitbeschäftigung als Kraftfahrer nachgekommen sei. Auch ein Versicherter, der an sich aufgrund seines Gesundheitszustands seine berufliche Tätigkeit nicht mehr ausüben könne, diese aber gleichwohl unter Umständen sogar unter Aufzehrung seiner gesundheitlichen Substanz ganz oder zu mehr als 50 % fortsetze, genieße Versicherungsschutz. Dementsprechend gebühre dem Kläger im Zeitraum November 2015 bis einschließlich Dezember 2016 die Berufsunfähigkeitsrente von monatlich 1.500 EUR, der unstrittige Gewinnanteil von 123,75 EUR sowie die nicht substanziiert bestrittene Prämienrefundierung von monatlich 51,57 EUR, sohin insgesamt 21.845,73 EUR.
Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei, weil keine aktuelle höchstgerichtliche Rechtsprechung zur Frage des Versicherungsschutzes bei gegebener Berufsunfähigkeit und gleichzeitiger Beschäftigung im ursprünglich ausgeübten Beruf, sohin zur Auslegung des Art 3 der Versicherungsbedingungen zur Berufsunfähigkeitsver-sicherung vorliege.
Dagegen wendet sich die Revision der Beklagten mit einem Abänderungsantrag; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Der Kläger begehrt, die Revision zurückzuweisen; hilfsweise ihr keine Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist zulässig, sie ist auch berechtigt.
1. Allgemeine Versicherungsbedingungen sind nach ständiger Rechtsprechung nach den Grundsätzen der Vertragsauslegung (§§ 914 ff ABGB) auszulegen, und zwar orientiert am Maßstab des durchschnittlich verständigen Versicherungsnehmers und stets unter Berücksichtigung des erkennbaren Zwecks einer Bestimmung (RS0050063 [T71], RS0112256 [T10], RS0017960). Die Klauseln sind, wenn sie nicht Gegenstand und Ergebnis von Vertragsverhandlungen waren, objektiv unter Beschränkung auf den Wortlaut auszulegen; dabei ist der einem objektiven Betrachter erkennbare Zweck einer Bestimmung zu berücksichtigen (RS0008901 [insb T5, T7, T87]). Unklarheiten gehen zu Lasten der Partei, von der die diesbezüglichen Formulare stammen, das heißt im Regelfall zu Lasten des Versicherers (RS0050063 [T3]).
2. Die Berufsunfähigkeitsversicherung ist eine Summenversicherung. Die Versicherungsleistung erfolgt also unabhängig vom Nachweis eines Schadens, insbesondere einer Einkommenseinbuße. Versicherte Gefahr in der Berufsunfähigkeitsversicherung ist der vorzeitige Rückgang oder der Verlust der beruflichen Leistungsfähigkeit (RS0112258). Diese Versicherungsart soll Schutz vor dem Zustand bieten, in dem ein Versicherter aus gesundheitlichen Gründen ganz oder teilweise nicht mehr in der Lage ist, seinen bisherigen Beruf oder einen angemessenen bedingungsgemäßen Vergleichsberuf auszuüben (RS0112257). Zu in diesem Sinn vergleichbaren Versicherungsbedingungen wurde ausgeführt, dass Berufsunfähigkeit dann gegeben ist, wenn die andere Arbeitstätigkeit, auf die der Versicherte aufgrund seiner Ausbildung und Erfahrung verwiesen werden kann, seiner bisherigen Lebensstellung nicht entspricht. Für den Verlust der bisherigen Lebensstellung ist maßgeblich, ob die soziale Stellung und das soziale Ansehen des Versicherten inhaltlich erhalten bleiben und der neue Beruf bei Ausübung auch die gleichen sozialen Sicherungen verschafft (vgl RS0112260). Versichert ist nicht die berufliche Leistungsfähigkeit des Versicherten überhaupt, sondern nur in Verbindung mit bestimmten Berufen, wobei es auf die zuletzt ausgeübte Tätigkeit ankommt (vgl RS0111999). Die Tätigkeit, auf die der Versicherte verwiesen werden kann, darf weder hinsichtlich ihrer Vergütung noch in ihrer Wertschätzung „spürbar unter das Niveau des bislang ausgeübten Berufs“ absinken, insbesondere keine deutlich geringeren Kenntnisse und Fähigkeiten erfordern. Es ist auf die soziale Stellung des Versicherten, das Ansehen, das ihm in den Augen der Öffentlichkeit sein Beruf vermittelt, abzustellen. Das hängt nicht allein von der Höhe des Einkommens, sondern zunächst davon ab, welche Kenntnisse und Fähigkeiten die Berufsausübung erfordert (7 Ob 163/14t; vgl auch RS0112003).
3.1 Die allgemeine Umschreibung des versicherten Risikos erfolgt durch die primäre Risikobegrenzung. Durch sie wird in grundsätzlicher Weise festgelegt, welche Interessen gegen welche Gefahren und für welchen Bedarf versichert sind.
3.2 Nach Art 3.1 AVB gilt, sofern die versicherte Person sechs Monate ununterbrochen infolge Krankheit, Körperverletzung oder mehr als altersentsprechenden Kräfteverfalls, die während der Prämienzahlungsdauer entstanden und ärztlich nachzuweisen sind, mindestens zu 50 % – im Vergleich mit einem körperlich und geistig Gesunden mit vergleichbaren Fähigkeiten und Kenntnissen – außer Stande ist, ihren Beruf auszuüben, die Fortdauer dieses Zustands von Anfang an als Berufsunfähigkeit. Berufsunfähigkeit liegt nicht vor, wenn die versicherte Person eine andere ihrer Ausbildung oder Erfahrung oder bisherigen Lebensstellung entsprechende Tätigkeit ausübt.
3.3 Berufsunfähigkeit nach dieser Bestimmung liegt demnach vor, wenn der Versicherte infolge der angeführten Gesundheitsbeeinträchtigungen – mindestens zu 50 % – außer Stande ist, seinem Beruf nachzugehen und er auch keine andere seiner Ausbildung und Erfahrung und seiner bisherigen Lebensstellung entsprechende Tätigkeit ausübt. Die Bestimmung verlangt – nach dem insoweit – klaren Wortlaut, dass bei Vorliegen der geforderten Gesundheitsbeeinträchtigung der Versicherte keine andere dem bisherigen Beruf entsprechende Tätigkeit tatsächlich ausübt. Darauf, ob der Versicherte die vergleichbare Tätigkeit ausüben kann oder könnte, kommt es dabei nicht an. Aus der Gesamtheit der Regelung des Art 3.1 AVB kann für den verständigen Versicherungsnehmer jedenfalls kein Zweifel darüber bestehen, dass er keinen Anspruch auf Leistung hat, wenn er einen Vergleichsberuf tatsächlich ausübt.
3.4 Der durchschnittlich verständige Versicherungsnehmer wird diese Bestimmung, wonach die Berufsunfähigkeit an die tatsächliche Nichtausübung einer vergleichbaren Tätigkeit anknüpft, aber auch dahin verstehen, dass dies umso mehr gilt, wenn er ohnedies seine bisherige Berufstätigkeit fortführt. In keinem anderen Fall, als bei Fortsetzung der bisherigen Berufstätigkeit, bleibt die bisherige Lebensstellung, sohin die soziale Stellung, das soziale Ansehen und die sozialen Sicherheiten in einem größeren Ausmaß erhalten.
3.5 Die Entscheidung 7 Ob 127/99y (RS0112259) erging zu einer nicht vergleichbaren Bedingungslage. Dort wurde der Begriff der Berufsunfähigkeit dahin definiert, dass der Versicherte aufgrund der genannten Gesundheitsbeeinträchtigungen außerstande ist, seinen Beruf oder eine ähnliche Tätigkeit auszuüben. Die Bestimmung stellt damit – anders als hier – allein auf das Unvermögen des Versicherten, seinen Beruf oder eine vergleichbare Tätigkeit auszuüben, ab.
3.6 Im vorliegenden Fall führte der Kläger im Zeitraum 10. November 2015 bis 15. Juli 2016 seinen bisherigen Beruf auf Vollzeitbasis weiter aus, womit keine Berufsunfähigkeit iSd Art 3.1 AVB vorlag.
3.7 Dahingestellt bleiben kann, ob die im Zeitraum 16. Juli 2016 bis 31. Dezember 2016 bloß teilweise weiterhin ausgeübte bisherige berufliche Tätigkeit Berufsunfähigkeit iSd Art 3.1 AVB begründen könnte. Ausgehend davon, dass bis 15. Juli 2016 keine Berufsunfähigkeit nach der Bedingungslage gegeben war, fehlt es bis zum 31. Dezember 2016 bereits am Erfordernis eines während sechs Monate ununterbrochen andauernden Unvermögens der Berufsausübung.
4. Der Revision ist daher Folge zu geben. Die Kostenentscheidung gründet auf die §§ 41, 50 ZPO (RS0035972).
Textnummer
E128438European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2020:0070OB00068.20F.0424.000Im RIS seit
07.07.2020Zuletzt aktualisiert am
22.09.2020