Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Hon.-Prof. Dr. Höllwerth, Dr. Solé, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei S***** S*****, vertreten durch Mag. Robert Haupt, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei G***** AG, *****, vertreten durch Schönherr Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen 10.580,77 EUR sA und 12.544,10 EUR sA, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Handelsgerichts Wien vom 11. April 2019, GZ 1 R 399/18z-13, womit das Urteil des Bezirksgerichts für Handelssachen vom 19. Juli 2018, GZ 22 C 65/18x-9, bestätigt wurde, zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass die Entscheidung nunmehr – unter Einschluss der in Rechtskraft erwachsenen Abweisung von 1.002,23 EUR sA und des Zinsenmehrbegehrens – insgesamt lautet:
„Das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig,
1. der klagenden Partei den Betrag von 10.580,77 EUR samt 4 % Zinsen seit Klagsausdehnung zuzüglich 4 % Zinsen aus 10.180,97 EUR pA seit Klagseinbringung bis zur Klagsausdehnung sowie den Betrag von 2.673,93 EUR an kapitalisierten Zinsen bis zur Klagseinbringung zu bezahlen, und
2. den Betrag von 12.544,10 EUR samt 4 % Zinsen seit Klagsausdehnung zuzüglich 4 % Zinsen aus 12.082,30 EUR pA seit Klagseinbringung bis zur Klagsausdehnung sowie den Betrag von 2.581,43 EUR an kapitalisierten Zinsen bis zur Klagseinbringung zu bezahlen, wird abgewiesen.
Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 3.314,64 EUR (darin enthalten 552,44 EUR ab USt) bestimmten Kosten des Verfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.“
Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 6.132,18 EUR (darin enthalten 593,03 EUR ab USt und 2.574 EUR an Barauslagen) bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Der Kläger schloss mit der Beklagten zwei Verträge über jeweils eine fondsgebundene Lebensversicherung ab, einen mit der Bezeichnung C***** und einen mit der Bezeichnung fondsgebundene Lebensversicherung M***** mit dem Garantiefondskonzept D*****Pension, jeweils mit dem Versicherungsbeginn 1. 10. 2006 und für eine Dauer von 30 Jahren.
In den von der Beklagten für die Versicherungsanträge verwendeten Formulare war unmittelbar oberhalb der vom Kläger jeweils am 7. 7. 2006 geleisteten Unterschriften abgedruckt: „Der Vorschlag, die Antragsdurchschrift, das Formular „Persönliches Anlageprofil“ (unterschriebenes Original liegt bei) sowie die Erläuterungen mit (im Fall einer M*****) der Verbraucherinformation zum Garantiefondskonzept D*****Pension wurden übernommen.“
In den „Erläuterungen zur C***** der [Beklagten] (Stand Dezember 2005)“ sowie in den „Erläuterungen zur fondsgebundenen Lebensversicherung der [Beklagten] (Stand Juni 2006)“ finden sich folgende Hinweise:
„Möglichkeiten zum Rücktritt des Versicherungsnehmers vom Versicherungsvertrag sind in folgenden Gesetzen geregelt:
[…]
Es besteht ein Rücktrittsrecht von 30 Tagen ab Zustandekommen des Vertrages.
[…]
[…]
§ 8 FernFinG
[…]
Bitte beachten Sie, dass alle Rücktrittsrechte der Schriftform bedürfen und e-mails nicht als schriftliche Kündigung gelten.“
Im Versicherungsantrag betreffend die Versicherung M***** findet sich weiters ein Verweis auf die Vertragsgrundlagen zur fondsgebundenen Lebensversicherung (Stand 7/2005). Dort heißt es im Anschluss an das Inhaltsverzeichnis und vor Ausführung der Versicherungsbedingungen ua:
„Rücktrittsrecht ist das Recht des Versicherungsnehmers binnen 31 Tagen ab Erhalt dieses Hinweises dann vom Vertrag zurückzutreten, wenn bei Antragstellung entweder die Versicherungsbedingungen oder eine Antragsdurchschrift nicht übergeben wurden. Der Rücktritt bedarf der Schriftform. Die Erklärung muss innerhalb der Frist abgesendet werden.“
Im Zusammenhang mit der Versicherung C***** zahlte der Kläger an Versicherungsprämien insgesamt 13.136,24 EUR. Die Versicherungssteuer betrug 493,42 EUR und die Risikokosten 16,80 EUR. Der Kläger erhielt am 8. 11. 2011 eine Teilauszahlung in Höhe von 2.555,47 EUR. Auf die Lebensversicherung M***** leistete der Kläger Versicherungsprämien im Umfang von 12.544,10 EUR. Die Versicherungssteuer betrug 467,78 EUR und die Risikokosten 24,47 EUR.
Der Kläger erklärte mit Schreiben vom 18. 12. 2017 seinen Rücktritt von beiden Versicherungsverträgen unter Berufung auf sein Rücktrittsrecht.
Der Kläger begehrt betreffend die Lebensversicherung C***** die Zahlung von 10.580,77 EUR sA und 2.673,93 EUR an kapitalisierten Zinsen und hinsichtlich der Lebensversicherung M***** die Zahlung von 12.544,10 EUR sA und 2.581,43 EUR an kapitalisierten Zinsen. Er sei vor Abschluss der Lebensversicherungsverträge nicht bzw nur unzureichend und unvollständig über die ihm zustehenden Rücktrittsrechte belehrt worden, weil entgegen dem Gesetz die Schriftform gefordert worden sei. Die Belehrungen seien auch irreführend.
Die Beklagte beantragt die Abweisung des Klagebegehrens. Der Kläger sei gesetzeskonform nach dem zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses geltenden § 165a VersVG aufgeklärt worden. Die Schriftform habe vereinbart werden dürfen, das Schriftformerfordernis diene der Erleichterung des Identitätsnachweises und der Rechtssicherheit und sei nicht zum Nachteil des Versicherungsnehmers.
Das Erstgericht verpflichtete die Beklagte insgesamt zur Zahlung von 22.122,40 EUR (10.070,55 EUR hinsichtlich der Lebensversicherung C***** und 12.051,85 EUR hinsichtlich der Lebensversicherung M*****) sA sowie gestaffelter Zinsen für den Zeitraum 2. 4. 2015 bis 6. 6. 2018. Im Umfang der Versicherungssteuer (493,92 EUR bzw 467,78 EUR und der Risikokosten (16,80 EUR bzw 24,47 EUR) wies das Erstgericht das Klagebegehren ab. Die Belehrungen der Beklagten über das Recht auf Rücktritt von den Versicherungsverträgen (§ 165a Abs 1 VersVG) seien fehlerhaft erfolgt, weil Schriftlichkeit der Rücktrittserklärungen verlangt werde. Eine unrichtige Rechtsbelehrung über das Rücktrittsrecht sei einer fehlenden gleichzuhalten, sodass dem Kläger ein unbefristetes Rücktrittsrecht zustehe. Er habe daher Anspruch auf Rückzahlung der von ihm bereits geleisteten Prämienzahlungen. Die abgeführte Versicherungssteuer und die Risikokosten seien davon in Abzug zu bringen. Vergütungszinsen seien aufgrund der Erhebung der Verjährungseinrede der Beklagten nur für die letzten drei Jahre vor Klagserhebung zuzusprechen.
Das Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil. Der Kläger habe die Belehrungen und Erklärungen der Beklagten nur dahin verstehen können, dass sie für alle Rücktrittsrechte die Schriftform ausbedungen habe. Die dem Kläger erteilte Belehrung zum Rücktrittsrecht sei in diesem Punkt unrichtig gewesen, sodass die Frist von 30 Tagen für die Ausübung des Rücktrittsrechts nicht zu laufen begonnen habe. Der wirksame Rücktritt des Klägers führe damit zu einer rückwirkenden Beseitigung des Vertrags, an die eine bereicherungsrechtliche Rückabwicklung anzuschließen habe. Der Kläger habe daher Anspruch auf Rückzahlung der geleisteten Prämien. Die Versicherungssteuer, die Risikokosten und die verjährten Vergütungszinsen seien bereits vom Erstgericht als von der bereicherungsrechtlichen Rückabwicklung nicht umfasst angesehen worden.
Das Berufungsgericht ließ über Antrag der Beklagten die ordentliche Revision nachträglich zu, weil der Rechtsfrage der konkreten Rechtsfolgen eines Rücktritts nach § 165a VersVG erhebliche Bedeutung zukommt.
Gegen dieses Urteil wendet sich die Revision der Beklagten mit einem Abänderungsantrag; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Der Kläger begehrt, die Revision zurückzuweisen; hilfsweise ihr keine Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist zulässig, sie ist auch berechtigt.
1. Zur Zeit des Vertragsabschlusses sah § 9a Abs 1 Z 6 VAG idF BGBl 1996/447 vor, dass der Versicherungsnehmer vor Abgabe seiner Vertragserklärung unter anderem über die Umstände, unter denen der Versicherungsnehmer den Abschluss des Versicherungsvertrags widerrufen oder von diesem zurücktreten kann, zu informieren war. Nach § 165a Abs 1 VersVG idF BGBl I 2004/62 war der Versicherungsnehmer berechtigt, binnen 30 Tagen nach dem Zustandekommen des Vertrags von diesem zurückzutreten.
2.1 Allgemeine Versicherungsbedingungen (AVB) sind nach den Grundsätzen der Vertragsauslegung (§§ 914, 915 ABGB) auszulegen, und zwar orientiert am Maßstab des durchschnittlich verständigen Versicherungsnehmers und stets unter Berücksichtigung des erkennbaren Zwecks einer Bestimmung (RS0050063 [T71]; RS0112256 [T10]; RS0017960). Die Klauseln sind, wenn sie nicht Gegenstand und Ergebnis von Vertragsverhandlungen waren, objektiv unter Beschränkung auf den Wortlaut auszulegen; dabei ist der einem objektiven Betrachter erkennbare Zweck einer Bestimmung zu berücksichtigen (RS0008901 [insbesondere T5, T7, T87]). Unklarheiten gehen zu Lasten der Partei, von der die Formulare stammen, dass heißt im Regelfall zu Lasten des Versicherers (RS0050063 [T3]).
2.2 In den Erläuterungen zu den Versicherungen C***** und M***** der Beklagten wird der Versicherungsnehmer über die Rücktrittsmöglichkeiten nach § 5b VersVG, § 3a KSchG, § 3 KSchG, § 8 FernFinG und § 165a VersVG informiert. Das Kapitel über die Möglichkeiten zum Rücktritt des Versicherungsnehmers vom Versicherungsvertrag endet mit der Formulierung, dass alle Rücktrittsrechte der Schriftform bedürfen und E-Mails nicht als schriftliche Kündigung gelten. Zutreffend verweist der Kläger darauf, dass diese Formulierung das Schriftformerfordernis ohne jeden Zweifel auch auf das Rücktrittsrecht nach § 165a VersVG bezieht, dies obwohl der Gesetzgeber keine näheren Anforderungen an die Form der Rücktrittserklärung stellte.
2.3 Mit Bezug auf die Beantwortung der Vorlagefrage 1 durch das Urteil des EuGH vom 19. 12. 2019 C-355/18 bis C-357/18 und C-479/18 hat der Fachsenat zu 7 Ob 3/12x, 7 Ob 4/20v und 7 Ob 16/20h ausgeführt, dass aus einer Belehrung, es sei für die Ausübung des Rücktrittsrechts nach § 165a Abs 1 VersVG (auch idF BGBl I Nr 2004/62) die Schriftform erforderlich, keine relevante Erschwernis dieses Rücktrittsrechts folgt. Auf die Einhaltung der Schriftform könnte sich die Beklagte zufolge § 178 VersVG in allen bis zum Zeitpunkt des Rücktritts geltenden Fassungen nicht berufen, sodass ein allfälliger Rücktritt des Klägers in jeder beliebigen Form wirksam gewesen wäre. Die Schriftform steht im gegebenen Kontext nicht mit europarechtlichen Vorgaben in Widerspruch, ist eine auch für Private (Verbraucher) ohne praktische Hürden wahrnehmbare und faktisch regelmäßig praktizierte Mitteilungsform und dient im vorliegenden Zusammenhang dem Schutz des Versicherungsnehmers bei der Wahrnehmung des Nachweises einen erhobenen Rücktritts.
2.4 Der Wortlaut „Bitte beachten Sie, dass alle Rücktrittsrechte der Schriftform bedürfen und e-mails nicht als schriftliche Kündigung gelten“ sieht – wie ausgeführt – unzweideutig die Schriftform für alle an der angeführten Stelle genannten Rücktrittsrechte vor. Die weitere Formulierung, dass E-Mails nicht als schriftliche Kündigung gelten, ist auch vor dem vom Kläger gebrachten Argument, dass „Rücktrittsrechte“ und „Kündigung“ synonym verwendet würden, was aber nicht den daran geknüpften Rechtsfolgen (bereicherungsrechtliche Rückabwicklung vs § 176 VersVG) entspreche, nicht irreführend. Dem durchschnittlich verständigen Versicherungsnehmer ist aus der Gesamtbetrachtung klar erkennbar, dass sich die Formulierung zum einen nur auf Rücktrittsrechte bezieht, immerhin beendet sie jeweils das Kapitel „Möglichkeiten zum Rücktritts des Versicherungsnehmers vom Versicherungsvertrag […], wohingegen die Kündigungsrechte an anderer Stelle der Erläuterungen genannt werden. Zum anderen folgt aus dem Zusammenhang, wonach im ersten Teil der Wortfolge die Schriftlichkeit gefordert wird, im zweiten Teil lediglich eine Verdeutlichung, dass bei E-Mails diese Schriftlichkeit nicht gegeben ist.
2.5 Durch die unrichtige Belehrung, dass alle Rücktrittsrechte der Schriftform bedürfen und E-Mails nicht als schriftliche Kündigung gelten, wurde aber, wie dargelegt, keine relevante Erschwernis des Rücktrittsrechts nach § 165a VersVG bewirkt, die dessen unbefristete Ausübung erlauben würde.
2.6 Die Belehrung in den Vertragsgrundlagen bezieht sich bereits nach dem klaren Wortlaut auf ein spezielles Rücktrittsrecht für den Fall, dass bei der Antragstellung entweder die Versicherungsbedingungen oder eine Antragsdurchschrift nicht übergeben wurden. Der Kläger geht selbst davon aus, dass sie das Rücktrittsrecht nach § 5b VersVG abbildet, wurden ihm doch bei Antragstellung die verschiedenen gesetzlichen Rücktrittsrechte detailliert aufgezählt und erläutert, sodass ihm eine Zuordnung zu § 56 VersVG und nicht zu § 165a VersVG möglich war, keine Unklarheiten sowie kein Eindruck einer Beschränkung der Rücktrittsrechte enstanden. Im Zusammenhang mit dem hier allein interessierenden Rücktrittsrecht des Versicherungsnehmers nach § 165a VersVG begründet sie keine Missverständlichkeit.
2.7 Die Rücktrittsfrist nach § 165a Abs 1 VersVG (idF BGBl I 2004/62) hat daher im vorliegenden Fall mit dem Zeitpunkt zu laufen begonnen, zu dem der Kläger davon in Kenntnis gesetzt wurde, dass die Verträge geschlossen sind, also mit Zugang der Polizzen samt Begleitschreiben vom 12. 9. 2006. Die im Jahr 2017 erklärten Vertragsrücktritte sind daher längst verfristet.
3. Soweit das Berufungsgericht eine Fehlerhaftigkeit der Rücktrittsbelehrung auch darin zu erkennen vermeint, dass entgegen der gesetzlichen Vorgabe des § 165a VersVG die 30-tägige Rücktrittsfrist mit dem Zustandekommen des Vertrags und nicht mit der Verständigung vom Zustandekommen des Vertrags zu laufen beginnt, übersieht es, das § 165a VersVG in der hier anzuwendenden Fassung (BGBl I 2004/62) auf das Zustandekommen des Vertrags abstellt (vgl dazu 7 Ob 6/20p).
4. Ausgehend von den Feststellungen wurden die Versicherungsverträge weder gekündigt, noch sind sie abgelaufen, sodass – entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts – der Frage, ob dieser Umstand einem infolge fehlerhafter Information des Versicherers gegebenenfalls zustehenden unbefristeten Rücktrittsrecht entgegenstünde, keine Relevanz zukommt (vgl dazu 7 Ob 4/20v).
5. Der Revision war daher Folge zu geben und das Klagebegehren abzuweisen.
6. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 41, 50 ZPO. Der Kläger hat in seinen Einwendungen gegen das Kostenverzeichnis der Beklagten zutreffend darauf verwiesen, dass die Zinsenforderungen als Nebenforderungen bei der Streitwertberechnung nicht maßgebend sind (§ 54 Abs 2 JN; vgl RS0046466).
Textnummer
E128437European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2020:0070OB00043.20D.0424.000Im RIS seit
07.07.2020Zuletzt aktualisiert am
19.07.2021