Entscheidungsdatum
14.05.2019Norm
AsylG 2005 §10Spruch
L504 2120698-1/42E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. R. ENGEL als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , XXXX geb., StA. Irak, vertreten durch RAe Amann Jehle Juen, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 18.01.2016, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 05.02.2019 zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird gemäß §§ 3, 8, 57 AsylG idgF als unbegründet abgewiesen.
Der Beschwerde gegen § 10 AsylG idgF, §§ 52, 46, 55 FPG idgF wird stattgegeben und festgestellt, dass gem. § 9 Abs 3 BFA-VG idgF eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist.
Gemäß § 55 Abs 1 AsylG idgF wird ein Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" erteilt.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrenshergang
Die beschwerdeführende Partei [bP] stellte am 20.06.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.
Es handelt sich dabei um einen Mann, welcher seinen Angaben nach Staatsangehöriger des Irak mit sunnitischem Glaubensbekenntnis ist, der Volksgruppe der Araber angehört und aus Bagdad stammt.
Zu ihrer Ausreisemotivation gab die bP im Wesentlichen an, dass ihr Vater von Angestellten des XXXX " 2007 am " XXXX " versehentlich getötet worden sei. Es habe Gerüchte gegeben, dass ihre Familie Schadenersatz bekommen hätte. Ende November 2007 seien ca. 10 Fahrzeuge der "Asaib" gekommen, hätten das Haus gestürmt und die damals minderjährige bP entführt. Nach 1 Woche sei die bP gegen Bezahlung von 20000 USD freigelassen worden.
Im März 2015 habe ein XXXX Gericht die Mörder des Vaters zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Danach habe die Asaib wieder versucht die bP zu entführen. Sie sei auf einer vierspurigen Straße in Bagdad bei viel Verkehr von mehreren Fahrzeugen verfolgt worden. Sie habe ihr Auto auf der Straße stehen lassen und es sei ihr die Flucht zu Fuß in die Wohnung eines Freundes gelungen. Nach diesem Vorfall habe sie den Ausreiseentschluss gefasst. Im Falle einer Rückkehr habe die bP Angst von der Asaib getötet zu werden.
Der Antrag auf internationalen Schutz wurde folglich vom Bundesamt gemäß § 3 Abs 1 AsylG 2005 abgewiesen und der Status eines Asylberechtigten nicht zuerkannt.
Gem. § 8 Abs 1 AsylG wurde der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak nicht zugesprochen.
Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 und § 55 AsylG wurde nicht erteilt.
Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen die bP gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG eine Rückkehrentscheidung erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung in den Irak gemäß § 46 FPG zulässig sei.
Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.
Das Bundesamt gelangte im Wesentlichen zur Erkenntnis, dass hinsichtlich der Gründe für die Zuerkennung des Status eines asyl- oder subsidiär Schutzberechtigten eine aktuelle und entscheidungsrelevante Bedrohungssituation nicht glaubhaft gemacht worden sei. Das als ausreisekausal geschilderte Verfolgungsszenario auf der Straße, welches auch unbescheinigt geblieben wäre, sei im Wesentlichen nicht plausibel. Ebenso ergebe sich aus allgemeinen Lage im Herkunftsstaat bzw. konkret in Bagdad keine mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohende bzw. reale Gefährdung der bP. Abschiebungshindernisse lägen demnach nicht vor. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen seien nicht gegeben. Ein die öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung übersteigendes Privat- und Familienleben würde nicht vorliegen und wurde daher eine Rückkehrentscheidung verfügt.
Gegen diesen Bescheid wurde innerhalb offener Frist Beschwerde erhoben. Im Wesentlichen wiederholte die bP ihr Vorbringen. Neu brachte sie vor, dass der Dolmetscher nicht alles übersetzt habe was die bP gesagt hätte. "Beispielsweise" sei falsch übersetzt worden, dass ihre Familie, seit sie ihr Land verlassen hat, keine Probleme mehr gehabt habe. Richtig wäre, dass der Bruder bereits einen Monat nach der Ausreise der bP entführt und seither unbekannten Aufenthaltes sei.
Bescheinigungsmittel zur Glaubhaftmachung der Fluchtgeschichte wurden mit dem Beschwerdeschriftsatz nicht vorgelegt, lediglich solche die ihr Integrationsengagement darlegen würden.
Am 05.02.2019 fand eine Beschwerdeverhandlung in Anwesenheit der bP und ihrer Rechtsfreundin statt. Zur Integration wurde die beantragte Zeugin S.G. einvernommen. Das Bundesamt verzichtete an einer Teilnahme an der Verhandlung.
Mit Zustellung der Ladung wurde die bP in einem Beiblatt ausdrücklich zur Mitwirkung im Beschwerdeverfahren aufgefordert und demonstrativ aufgezählt, welche Bescheinigungsmittel zur Glaubhaftmachung ihrer Bedrohungslage grds. geeignet sein könnten.
Die bP legte folglich Bescheinigungsmittel zu ihrer Integration sowie Medienberichte zum Vorfall von 2007 und Gerichtsprozess mit dem XXXX vor.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
Das BVwG hat durch den Inhalt des übermittelten Verwaltungsaktes der belangten Behörde, einschließlich der Beschwerde sowie durch die Ergebnisse des ergänzenden Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben.
1. Feststellungen (Sachverhalt)
1.1. Identität und Herkunftsstaat:
Name und Geburtsdatum (wie im Einleitungssatz des Spruches angeführt) stehen lt. Bundesamt fest. Da dem BVwG selbst keine irakischen, mit Lichtbild versehenen Identitätsdokumente im Original vorgelegt wurden, kann mangels Überprüfbarkeit und unter Berücksichtigung der notorisch allg. hohen Fälschungsrate von derartigen Identitätsdokumenten aus dem Irak, seitens des BVwG dazu keine eigene Feststellung getroffen werden.
Die bP bezeichnet sich der Volksgruppe der Araber und dem sunnitischen Glauben zugehörig.
Ihre Staatsangehörigkeit und der hier der Prüfung zugrundeliegende Herkunftsstaat ist Irak.
1.2. Regionale Herkunft und persönliche Lebensverhältnisse vor der Ausreise:
Die bP ist in Bagdad geboren und wohnte dort bis zur Ausreise.
Von 1998 bis 2010 absolvierte sie die Grundschule und das Gymnasium. Von 2010 bis 30.09.2014 studierte sie in Bagdad XXXX .
Sie lebte in Bagdad mit ihrer Mutter und dem Bruder im gemeinsamen Haushalt in einer Mietwohnung. Zumindest zum Zeitpunkt der Ausreise bzw. auch noch bei der Einvernahme am 25.11.2015 lebten auch zwei verheiratete Schwestern in Bagdad.
Ihren Lebensunterhalt bestritt die bP zuletzt durch Arbeit bei einer Baufirma in Bagdad.
1.3. Familiäres/verwandtschaftliches bzw. soziales Netzwerk im Herkunftsstaat
Unbescheinigt geblieben behauptet die bP, dass in Bagdad keine Familienangehörigen mehr leben. Die Mutter lebt ihren Angaben nach in XXXX bei ihrer Tochter, fliegt aber regelmäßig zum Empfang ihrer staatlichen Pension nach Bagdad.
Die bP machte in der Verhandlung auf konkrete Fragestellung nur widerwillig und sehr eingeschränkt Angaben zur Existenz von Verwandten im Irak. Die bP verfügt im Irak noch über Verwandte, behauptet jedoch nicht zu wissen wo diese wohnen. Sie hat eigenen Angaben zur Folge zu diesen keinen Kontakt, da es familiären Streit um ein Erbe gibt.
Die bP, welche im Irak aufgewachsen ist und dort sozialisiert wurde, verfügt im Irak zumindest über einen engeren Freund aus Studienzeiten, bei dem sie zuletzt vor der Ausreise eigenen Angaben zu Folge auch wohnte und zu dem sie auch noch in Kontakt steht.
1.4. Ausreisemodalitäten
Sie reiste eigenen, unbescheinigt gebliebenen Angaben nach unter Verwendung ihres eigenen irakischen Reisepasses am 07.06.2015 vom Flughafen in Bagdad legal nach Istanbul.
Zum Verbleib ihres eigenen irakischen Reisepasses hat die bP im Zuge des Verfahrens unterschiedliche Angaben gemacht. Das BVwG geht auf Grund dieser widersprüchlichen, Angaben davon aus, dass sie nach wie vor im Besitz ihres irakischen Reisepasses ist, sie diesen aber aus verfahrenstaktischen Gründen nicht vorgelegt hat. Sie verletzte dadurch ihre gesetzliche Mitwirkungsverpflichtung im Verfahren.
Trotz gegebener Möglichkeit suchte sie in der Türkei bei staatlichen Behörden keinen Schutz und hat auch bei UNHCR keinen Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Sie begründete das Unterlassen damit, dass die Türkei "anders" ist und es "schwer ist in der Türkei zu leben". Sie war lange nicht in der Türkei und wollte deshalb nach Österreich.
1.5. Gesundheitszustand
Die bP hat im Verfahren keine aktuell behandlungsbedürftige Erkrankung dargelegt.
1.6. Privatleben / Familienleben in Österreich
Art, Dauer, Rechtmäßigkeit des bisherigen Aufenthaltes:
Die bP hat keine familiären Anknüpfungspunkte in Österreich. Von relevanten privaten Bindungen in Österreich wird ausgegangen.
Die bP begab sich ohne Vorhandensein eines rechtmäßigen Einreise- bzw. Aufenthaltstitels in das Bundesgebiet.
Mit der erfolgten Stellung des Antrages auf internationalen Schutz erlangte die bP eine vorläufige Aufenthaltsberechtigung gem. AsylG, die nach Antragsabweisung durch die Beschwerdeerhebung verlängert wurde.
Schutzwürdigkeit des Privatlebens / Die Frage, ob das Privatleben / Familienleben zu einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstaates bewusst waren / Grad der Integration:
Die bP hat während ihres Aufenthaltes in Österreich sehr gute Deutschkenntnisse erlangt. Die Verhandlung wurde im Wesentlichen in deutscher Sprache geführt. Nachgewiesen wurde die positive Ablegung der Deutschprüfung gem. dem GER für Sprachen auf Niveau B1.
Sie besitzt einen österreichischen Führerschein.
Vom Bundesministerium für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft wurde anerkannt, dass ihr im Irak absolviertes Studium in Österreich einem Bachelorstudium des Bauingenieurwesens entspricht und sie zur privaten Führung des akademischen Titels "Bac." berechtigt.
Die bP absolviert seit März 2017 bei einem österreichischen Unternehmen eine dreijährige Lehre als Maurer. Dem Jahreszeugnis der Berufsschule vom Februar 2019 nach schloss sie mit einem Notendurchschnitt von 2,1 ab. Das dritte Berufsschuljahr schloss sie im April 2019 nachgewiesenermaßen mit einem Notendurchschnitt von 1,4 ab.
Empfehlungsschreiben seitens der Gemeinde, Privatpersonen, Berufsschule und Arbeitgeber liegen vor. Diesen ist überwiegend zu entnehmen, dass die bP sich erfolgreich in die Gesellschaft integriert hat und rege am gesellschaftlichen Leben teilnimmt.
Seit März 2018 bezieht die bP mangels Hilfsbedürftigkeit keine Leistungen mehr aus der staatlichen Grundversorgung. Sie erhält sich seither wirtschaftlich selbst. Nachgewiesen wurde ein Erwerbseinkommen von ca. 2100 Euro brutto monatlich.
Die bP hat diese privaten Anknüpfungspunkte während einer Zeit erlangt, in der der Aufenthaltsstatus im Bundesgebiet stets prekär war.
Bindungen zum Herkunftsstaat:
Die beschwerdeführende Partei ist im Herkunftsstaat geboren, absolvierte dort ihre Schulzeit und Berufsausbildung, kann sich im Herkunftsstaat problemlos verständigen und hat bei weitem ihr überwiegendes Leben in diesem Staat verbracht. Sie kennt die dortigen Regeln des Zusammenlebens und verfügt jedenfalls über freundschaftliche Anknüpfungen. Auf Grund der gegebenen fachlichen Qualifikation kann auch vertretbar davon ausgegangen werden, dass ihr auch aus wirtschaftlicher Sicht eine Wiedereingliederung real möglich wäre.
Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die beschwerdeführende Partei als von ihrem Herkunftsstaat entwurzelt zu betrachten ist.
Strafrechtliche/verwaltungsstrafrechtliche Vormerkungen:
Die bP scheint im österreichischen Strafregister mit keinen Verurteilungen auf. Ebenso wurden dem BVwG auf Anfrage bei den Behörden keine verwaltungsstrafrechtlichen Bestrafungen mitgeteilt.
Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts:
Da der bP weder der Status einer Asylberechtigten noch der einer subsidiär schutzberechtigten Person zukommt, stellt ihre rechtswidrige Einreise gegenständlich grds. eine Verwaltungsübertretung dar (vgl. § 120 Abs 1 u. Abs 7 FPG).
Die beschwerdeführende Partei verletzte durch mangelnde Mitwirkung bzw. durch zum Teil nichtwahrheitsgemäße Angaben ihre gesetzliche Mitwirkungsverpflichtung im Asylverfahren (§ 15 AsylG).
Verfahrensdauer:
Ein behördliches Verschulden, welche die zeitliche Komponente dermaßen in den Vordergrund treten lassen würde, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung schon alleine deshalb unzulässig ist, kann aus der Aktenlage nicht entnommen werden und wurde von der bP auch nicht konkret vorgebracht.
1.7. Zu den behaupteten ausreisekausalen Geschehnissen / Erlebnissen im Zusammenhang mit staatlichen bzw. nichtstaatlichen Akteuren und der zu erwartenden Rückkehrsituation:
Es ist glaubhaft, dass der Vater 2007 durch XXXX , welche einen XXXX sollten und die im Konvoi auf dem XXXX in Bagdad von ihren Begleitfahrzeugen aus mit Sturmgewehren, Maschinengewehren und Granatwerfern auf Grund eines angenommenen Angriffes willkürlich in eine Menschenmenge gefeuert haben, als einer von mehreren zivilen Opfern dabei ums Leben kam. Weiters wird es für glaubhaft erachtet, dass die bP Ende 2007 durch eine schiitische Miliz als Minderjähriger entführt und anschließend gegen Zahlung von Lösegeld wieder freigelassen wurde. Danach gab es, bis zu dem behauptetem Geschehnis, bis zur Ausreise keine sicherheitsrelevanten, die bP betreffenden Vorfälle mehr.
Nicht glaubhaft ist, dass die bP Ende März 2015 auf offener, belebter Straße im dichten Straßenverkehr wieder entführt werden sollte und dieses Ereignis für die bP ausreisekausal war bzw. sie deshalb im Falle einer Rückkehr nach wie vor mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer asylrelevanten Verfolgungsgefahr oder sonstigen realen Gefährdung von Leib und/oder Leben ausgesetzt wäre.
Die bP hat den Irak nicht wegen Probleme im Zusammenhang mit ihrer Volksgruppen- oder Religionszugehörigkeit verlassen. Sie hatte vor der Ausreise keine Probleme mit der Polizei oder Behörden bzw. Gerichten. Sie war nie in Haft und nicht politisch aktiv. Sie hat sich wegen der behaupteten Geschehnisse nicht an staatliche Behörden gewandt.
Aus den Angaben der bP ergibt sich im Herkunftsstaat, insbesondere in der Herkunftsregion der bP, unter Berücksichtigung ihrer persönlichen Verhältnisse, keine Situation, wonach im Falle der Rückkehr eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts bestünde. Dies ergibt sich auch nicht aus der amtswegigen Einschätzung der Lage im Herkunftsstaat
Die bP war im Hinblick auf Unterkunft und Versorgung mit Lebensmitteln bislang in der Lage im Herkunftsstaat ihre Existenz zu sichern. Es wurde von ihr weder beim Bundesamt noch im Beschwerdeverfahren konkret dargelegt, dass sie im Falle der Rückkehr nicht mehr ihre Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz decken könnte.
1.8. Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat:
Quellen:
* Baghdad's 'Green Zone' reopens _ Iraq News _ Al Jazeera.pdf, 11.01.2019
* Interview in der Sendung TANDEM des deutschen Radiosender SWR 2 vom 04.10.2018 mit der Journalistin Birgit SVENSSON
* Anfragebeantwortung der Staatendokumentation: Chronologische Auflistung sicherheitsrelevanter Vorfälle von Oktober 2018 bis Jänner 2019 mit Sunniten als Opfer
* Internet-Vorfallsrecherche des BVwG zu Bagdad Jänner/Februar 2019, Abfrage v. 04.02.2019 via google news, Schlagwort "Baghdad", Suche auf Englisch
* irak-lib-2018-11-20.pdf
* BVwG, vorläufige allg. Lageeinschätzung
Auf Basis der verfahrensgegenständlichen und zu Gehör gebrachten Berichtslage ergibt sich für das BVwG zusammengefasst aktuell folgende Lageeinschätzung zum Irak:
Politik / Zusammensetzung der Bevölkerung
Die politische Landschaft des Irak hat sich seit dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 enorm verändert. Gemäß der Verfassung ist der Irak ein demokratischer, föderaler und parlamentarisch-republikanischer Staat, der aus 18 Provinzen besteht. Die Autonome Region Kurdistan ist Teil der Bundesrepublik Irak und besteht aus den drei nördlichen Provinzen Dohuk, Erbil und Sulaymaniya. Sie wird von einer Regionalverwaltung, der kurdischen Regionalregierung, verwaltet und verfügt über eigene Streitkräfte.
Die konfessionell/ethnische Verteilung der politischen Spitzenposten ist nicht in der irakischen Verfassung festgeschrieben, aber seit 2005 üblich. So ist der Parlamentspräsident gewöhnlich ein Sunnit, der Premierminister ist ein Schiit und der Präsident der Republik ein Kurde. Die meisten religiös-ethnischen Gruppen sind im Parlament vertreten.
Der Irak hat ca. 38 Millionen Einwohner. Etwa 75-80 % der heute im Irak lebenden Bevölkerung sind Araber, 15-20 % sind Kurden und 5 % sind Turkomanen, rund 600.000 Assyrer/Aramäer, etwa 10.000 Armenier oder Angehörige anderer ethnischer Gruppen. Weiterhin sollen im Südosten 20.000 bis 50.000 Marsch-Araber leben. Von turkomanischen Quellen wird der Anteil der eigenen ethnischen Gruppe auf etwa 10 % geschätzt.
Etwa 97 % der Bevölkerung sind muslimisch. Über 60 % sind Schiiten und zwischen 32 und 37 % Sunniten; die große Mehrheit der muslimischen Kurden ist sunnitisch. Ca. 17-22 %, also ca. 6,5 bis 8,4 Millionen der Gesamtbevölkerung sind arabische Sunniten (vorwiegend im Zentral- und Westirak), ca. 15-20 % der Gesamtbevölkerung sind kurdische Sunniten. So wie Schiiten sind auch (arabische) Sunniten in hohen politischen (zB Parlamentspräsident) und öffentlichen Ämtern vertreten. Ebenso als Beschäftigte bei Polizei, Militär und Gerichten. Sunniten nehmen ebenso am sonstigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben teil. Christen, Jesiden und andere Religionen bilden mit ca. 3 % eine Minderheit. Die Christen zählen überwiegend zu den orientalisch-christlichen Gemeinschaften: Chaldäisch-katholische Kirche, Assyrische Kirche des Ostens, Alte Kirche des Ostens, Armenische Apostolische Kirche, Römisch-katholische Kirche, Syrisch-katholische Kirche, Syrisch-Orthodoxe Kirche von Antiochien, Assyrisch-evangelische Kirche und andere.
Sicherheitskräfte - Milizen - Rechtschutz
Die irakischen Sicherheitskräfte ISF:
Im ganzen Land sind zahlreiche innerstaatliche Sicherheitskräfte tätig. Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF, Iraqi Security Forces) bestehen aus Sicherheitskräften, die vom Innenministerium verwaltet werden, Sicherheitskräften, die vom Verteidigungsministerien verwaltet werden, den Volksmobilisierungseinheiten (PMF, Popular Mobilization Forces), und dem Counter-Terrorism Service (CTS). Das Innenministerium ist für die innerstaatliche Strafverfolgung und die Aufrechterhaltung der Ordnung zuständig; es beaufsichtigt die Bundespolizei, die Provinzpolizei, den Dienst für den Objektschutz, den Zivilschutz und das Ministerium für den Grenzschutz. Die Energiepolizei, die dem Ölministerium unterstellt ist, ist für den Schutz von kritischer Infrastruktur in diesem Bereich verantwortlich. Konventionelle Streitkräfte, die dem Verteidigungsministerium unterstehen, sind für die Verteidigung des Landes zuständig, führen aber in Zusammenarbeit mit Einheiten des Innenministeriums auch Einsätze zur Terrorismusbekämpfung sowie interne Sicherheitseinsätze durch. Der Counter-Terrorism Service (CTS) ist direkt dem Premierminister unterstellt und überwacht das Counter-Terrorism Command (CTC), eine Organisation, zu der drei Brigaden von Spezialeinsatzkräften gehören. Die irakischen Streit- und Sicherheitskräfte dürften mittlerweile wieder ca. 100.000 Armee-Angehörige (ohne PMF und Peshmerga) und über 100.000 Polizisten umfassen.
Volksmobilsierungseinheiten (PMF):
Der Name bezeichnet eine Dachorganisation für etwa vierzig bis siebzig Milizen und demzufolge ein loses Bündnis paramilitärischer Formationen. Die PMF werden vom Staat unterstützt und sind landesweit tätig. Die Mehrheit der PMF-Einheiten ist schiitisch, was die Demografie des Landes widerspiegelt. Sunnitische, jesidische, christliche und andere "Minderheiten-Einheiten" der PMF sind in ihren Heimatregionen tätig. Es gibt große, gut ausgerüstete Milizen, quasi militärische Verbände, wie die Badr-Organisation, mit eigenen Vertretern im Parlament, aber auch kleine improvisierte Einheiten mit wenigen Hundert Mitgliedern, wie die Miliz der Schabak. Viele Milizen werden von Nachbarstaaten wie dem Iran oder Saudi-Arabien unterstützt. Die Türkei unterhält in Baschika nördlich von Mosul ein eigenes Ausbildungslager für sunnitische Milizen. Die Milizen haben eine ambivalente Rolle. Einerseits wäre die irakische Armee ohne sie nicht in der Lage gewesen, den IS zu besiegen und Großveranstaltungen wie die Pilgerfahrten nach Kerbala mit jährlich bis zu 20 Millionen Pilgern zu schützen. Andererseits stellen die Milizen einen enormen Machtfaktor mit Eigeninteressen dar, was sich in der gesamten Gesellschaft, der Verwaltung und in der Politik widerspiegelt und zu einem allgemeinen Klima der Korruption und des Nepotismus beiträgt. Die PMF unterstehen seit 2017 formal dem Oberbefehl des irakischen Ministerpräsidenten. Alle PMF-Einheiten sind offiziell dem Nationalen Sicherheitsberater unterstellt. Die Bemühungen der Regierung, die PMF als staatliche Sicherheitsbehörde zu formalisieren, werden fortgesetzt, aber Teile der PMF bleiben "iranisch" ausgerichtet. Das Handeln dieser unterschiedlichen Einheiten stellt zeitweise eine zusätzliche Herausforderungen in Bezug auf die Sicherheitslage dar, insbesondere - aber nicht nur - in ethnisch und religiös gemischten Gebieten des Landes.
Rechtschutz
Das reguläre Strafjustizsystem besteht aus Ermittlungsgerichten, Gerichten der ersten Instanz, Berufungsgerichten, dem Kassationsgerichtshof und der Staatsanwaltschaft. Das Oberste Bundesgericht erfüllt die Funktion eines Verfassungsgerichts. Die Verfassung garantiert die Unabhängigkeit der Justiz. Jedoch schränken bestimmte gesetzliche Bestimmungen und Einflussnahmen die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz ein. Personal- und Kompetenzmangel wird zuweilen beklagt.
Die Verfassung gibt allen Bürgern das Recht auf einen fairen und öffentlichen Prozess. Dennoch verabsäumen es Beamte vereinzelt, Angeklagte unverzüglich oder detailliert über die gegen sie erhobenen Vorwürfe zu informieren. Beobachter berichteten, dass Verfahren nicht den internationalen Standards entsprechen. Obwohl Ermittlungs-, Prozess- und Berufungsrichter im Allgemeinen versuchen, das Recht auf ein faires Verfahren durchzusetzen, gibt es diesbezüglich Mängel im Verfahren. Urteile ergehen vereinzelt mit überschießend hohen Strafen.
Aufgrund von Misstrauen gegenüber Gerichten oder fehlendem Zugang wenden sich Iraker vereinzelt auch an Stammesinstitutionen, um Streitigkeiten beizulegen, selbst wenn es sich um schwere Verbrechen handelt.
Die Rechtsprechung ist in der Praxis von einem Mangel an kompetenten Richtern, Staatsanwälten sowie Justizbeamten gekennzeichnet. Eine Reihe von Urteilen lassen auf politische Einflussnahme schließen. Hohe Richter werden oftmals auch unter politischen Gesichtspunkten ausgewählt.
Sicherheitslage
Im Dezember 2017 erklärte die irakische Regierung den militärischen Sieg über den Islamischen Staat. Die Sicherheitslage hat sich, seitdem die territoriale Kontrolle des IS gebrochen wurde, verbessert. Vereinzelte, untergetauchte IS-Kämpfer sind jedoch weiterhin in manchen Gebieten für Verbrechen verantwortlich.
Ebenso werden Straftaten seitens schiitischer Milizen, zB Asyib Ahl al-Haq verzeichnet. Die allgemeine Kriminalitätsrate ist hoch. Eine systematische Diskriminierung oder Verfolgung religiöser oder ethnischer Minderheiten durch staatliche Behörden findet grds. nicht statt. In der Autonomen Region Kurdistan sind Minderheiten weitgehend vor Gewalt und Verfolgung geschützt.
Wenngleich es zum Teil erhebliche Mängel im Sicherheits- und Rechtschutzsystem gibt, kann nicht davon gesprochen werden, dass für die Bevölkerung generell keine wirksamen Schutzmechanismen vorhanden wären oder, dass dazu kein Zugang möglich wäre. Ansätze zur Abhilfe und zur Professionalisierung entstehen durch internationale Unterstützung: Die Sicherheitssektorreform wird aktiv und umfassend von der internationalen Gemeinschaft unterstützt.
Es ergibt sich auf Grund der aktuellen Berichtslage nicht, dass in Bagdad derzeit eine Lage herrschen würde, die für eine Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit (infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes) mit sich bringen würde.
Es kann auf Grund der aktuellen Berichtslage nicht festgestellt werden, dass derzeit quasi jede Person mit dem Persönlichkeitsprofil der beschwerdeführenden Partei (insbes. ethnische, konfessionelle Zugehörigkeit) im Irak bzw. in Bagdad einer mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohenden Verfolgung aus asylrelevanten Motiven unterliegen würde.
Es kann ebenso nicht festgestellt werden, dass für diese Personen im Irak bzw. in der Herkunftsregion eine allgemeine Sicherheitslage herrschen würde, wonach sie per se einer realen Gefahr einer Gefährdung der persönlichen Unversehrtheit ausgesetzt wären
Sunniten
Ca. 17-22 %, also ca. 6,5 bis 8,4 Millionen der Gesamtbevölkerung sind arabische Sunniten (vorwiegend im Zentral- und Westirak), ca. 15-20 % der Gesamtbevölkerung sind kurdische Sunniten. So wie Schiiten sind auch arabische Sunniten in hohen politischen (zB Parlamentspräsident) und öffentlichen Ämtern vertreten. Ebenso als Beschäftigte bei Polizei, Militär und Gerichten. Sunniten nehmen ebenso am sonstigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben teil. Es gibt Berichte über vereinzelte Menschenrechtsverletzungen an Sunniten, va. durch schiitische Milizen oder unbekannte Täter. Vor allem Personen die Angehörige der terroristischen Gruppierung IS sind oder im Verdacht stehen solche zu sein oder diese unterstützen, können derart gefährdet sein. Auf Grund der Berichtslage lässt sich nicht schließen, dass dies Teil eines systematischen, quasi jeden Sunniten gleichermaßen treffenden Risikos ist. Sunniten, die in schiitisch dominierten Regionen leben, können gesellschaftliche Diskriminierung in einem moderaten Level erfahren, vor allem in den südlichen Gouvernements. Es handelt sich vorwiegend um Diskriminierung am Arbeitsmarkt bzw. um gesellschaftliche Diskriminierung aufgrund von Nepotismus. Schiitische Arbeitgeber würden eher Schiiten einstellen. Generell ist die Zahl von registrierten, sicherheitsrelevanten Vorfällen jedoch seit dem Zeitpunkt als der IS als "vertrieben" gilt, insbesondere in Bagdad stark rückläufig.
Aktuelle Versorgungslage
Auf Grund klimatischer Verhältnisse (Wasserknappheit) und zum Teil veralteter Infrastruktur kann die Versorgung im Süden des Landes mit sauberem Wasser nicht überall gleich gut gewährleistet sein. Berichte, dass das Mindestmaß an lebensnotwendiger Versorgung mit Trinkwasser (zB auch durch Kauf von Trinkwasserflaschen in Geschäften) im Irak nicht möglich oder zugänglich wäre, liegen nicht vor.
Schätzungen des Welternährungsprogramms zufolge benötigen ca. 700.000 Iraker Nahrungsmittelhilfe. Das Sozialsystem wird vom sog. "Public Distribution System" (PDS) dominiert, einem Programm, bei dem die Regierung importierte Lebensmittel kauft, um sie an die Öffentlichkeit zu verteilen. Das PDS ist das wichtigste Sozialhilfeprogramm im Irak, in Bezug auf Flächendeckung und Armutsbekämpfung. Es ist das wichtigste Sicherheitsnetz für Arme. Es sind alle Bürger berechtigt, Lebensmittel im Rahmen von PDS zu erhalten. An der Umsetzung kann es zu Mängeln kommen.
Es kann auf Grund der Berichtslage nicht festgestellt werden, dass aktuell im Irak bzw. in der Herkunftsregion eine derart schlechte Versorgungslage herrschen würde, dass nicht das zur Existenz unbedingt Notwendige erlangbar wäre.
Medizinische Versorgung
Das Gesundheitswesen besteht aus einem privaten und einem öffentlichen Sektor. Ein staatliches Krankenversicherungssystem existiert nicht. Alle irakischen Staatsbürger, die sich als solche ausweisen können, haben Zugang zum Gesundheitssystem. Fast alle Iraker leben etwa eine Stunde vom nächstliegenden Krankenhaus bzw. Gesundheitszentrum entfernt. Die Ärzte und das Krankenhauspersonal gelten generell als qualifiziert.
Bewegungsfreiheit
Die irakische Verfassung und andere nationale Rechtsinstrumente erkennen das Recht aller Bürger auf Freizügigkeit, Reise- und Aufenthaltsfreiheit im ganzen Land an. Die Bewegungsfreiheit verbesserte sich, nachdem die vom IS kontrollierten Gebiete wieder unter staatliche Kontrolle gebracht wurden.
In einigen Fällen beschränken die Behörden die Bewegungsfreiheit von Vertriebenen und verbieten Bewohnern von IDP-Lagern, ohne eine Genehmigung das Lager zu verlassen. Das Gesetz erlaubt es den Sicherheitskräften aus Sicherheitsgründen die Bewegungsfreiheit im Land einzuschränken, Ausgangssperren zu verhängen, Gebiete abzuriegeln und zu durchsuchen. Es gab Berichte, dass Sicherheitskräfte (ISF, Peshmerga, PMF) Bestimmungen, die Aufenthaltsgenehmigungen vorschreiben, um die Einreise von Personen in befreite Gebiete unter ihrer Kontrolle zu beschränken, in der Vergangenheit selektiv umgesetzt haben.
Eine Kontrolle der eigenen Staatsangehörigen findet bei der Ausreise statt. Iraker mit gültigem Reisepass genießen Reisefreiheit und können die Landesgrenzen problemlos passieren.
Die kurdische Autonomieregierung schränkt die Bewegungsfreiheit in den von ihr verwalteten Gebieten ein. Innerirakische Migration aus dem Zentralirak in die Autonome Region Kurdistan ist grundsätzlich möglich. Durch ein Registrierungsverfahren wird der Zuzug jedoch kontrolliert. Wer dauerhaft bleiben möchte, muss sich bei der Asayish-Behörde des jeweiligen Bezirks anmelden. Informationen über die Anzahl der Anträge und Ablehnungen werden nicht veröffentlicht. Die Behörden verlangen von Nicht-Ortsansässigen, Genehmigungen einzuholen, die einen befristeten Aufenthalt in der Autonomieregion erlauben. Diese Genehmigungen waren in der Regel erneuerbar. Bürger, die eine Aufenthaltserlaubnis für die Autonome Region Kurdistan bzw. die von ihr kontrollierten Gebiete einholen wollen, benötigen idR einen in der Region ansässigen Bürgen. Bürger, die aus dem Zentral- oder Südirak in die Autonome Region Kurdistan einreisen (egal welcher ethno-religiösen Gruppe sie angehörten, auch Kurden) müssen aus Sicherheitsgründen Checkpoints passieren und Personen- und Fahrzeugkontrollen werden idR durchgeführt. Die Behörden der Autonomen Region Kurdistan wenden Beschränkungen zuweilen unterschiedlich streng an. Die Wiedereinreise von IDPs und Flüchtlingen wird - je nach ethno-religiösem Hintergrund und Rückkehrgebiet - mehr oder weniger restriktiv gehandhabt. Beamte hindern Personen, die ihrer Meinung nach ein Sicherheitsrisiko darstellen könnten, an der Einreise in die Region. Die Einreise kann für Männer oft schwieriger, insbesondere für arabische Männer, die ohne Familie reisen.
IDPs und Flüchtlinge
Die Zahl der Vertriebenen sinkt stetig; die Zahl der Rückkehrer ist mittlerweile auf 4 Millionen gestiegen. Die Regierung und internationale Organisationen, einschließlich UN-Einrichtungen und NGOs, versuchen, IDPs Schutz und andere Hilfe zu gewähren.
Rückkehr
Die freiwillige Rückkehrbewegung irakischer Flüchtlinge aus anderen Staaten, befindet sich im Vergleich zum Umfang der Rückkehr der Binnenflüchtlinge auf einem deutlich niedrigeren, im Vergleich zu anderen Herkunftsstaaten aber auf einem relativ hohen Niveau. Bei jenen Irakern, welche in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz stellten, Verfolgung behaupteten und während des Beschwerdeverfahrens freiwillig wieder zurückkehrten, handelt es sich überwiegend um arabische Sunniten und Schiiten. Neben Österreich führen auch andere Staaten der EU abgelehnte irakische Staatsangehörige in den Irak zurück.
Dokumente
Identitätsbescheinigende Dokumente die im Irak ausgestellt wurden sind wenig zuverlässig, zumal sie häufig auch auf Grund mangelnder Dokumentation ausgestellt werden.
Jedes irakische Dokument, ob als Totalfälschung oder als echte Urkunde mit unrichtigem Inhalt, ist im Irak gegen Bezahlung zu beschaffen
2. Beweiswürdigung
Die Feststellungen zu den Punkten 1.1. - 1.6. ergeben sich diesbezüglich im Wesentlichen unstreitig aus den persönlichen Angaben der bP vor dem Bundesamt und dem BVwG, die zum Teil durch Bescheinigungsmittel nachgewiesen bzw. untermauert wurden sowie amtlichen Ermittlungsergebnissen.
Ad 1.7. Einleitend ist anzuführen, dass die im Verfahren aufgenommenen Niederschriften mit den Aussagen der bP vollen Beweis iSd § 15 AVG über den Verlauf und Gegenstand der Amtshandlung bilden und mit diesem Inhalt als zentrales Beweismittel der Beweiswürdigung unterzogen werden können.
Die bP weist erstmals im Beschwerdeschriftsatz darauf hin, dass der Dolmetscher bei der Einvernahme beim Bundesamt "nicht alles übersetzt hat" was sie ihm gesagt habe. So sei "falsch übersetzt" worden, dass ihre Familie seit ihrer Ausreise keine Probleme hatte. Tatsächlich sei schon 1 Monat nach der Ausreise ihr Bruder entführt worden und sein Schicksal unbekannt. Demnach wäre sie, so die bP, im Juli 2015 entführt worden.
Aus der Niederschrift vom 25.11.2015 ergibt sich in Bezug auf die gegenständliche Fragestellung zur Familie Folgendes:
"Was berichtet Ihre Familie wenn Sie telefonieren?
Es geht ihnen nicht so gut. Ich möchte versuchen sie aus dem Irak zu holen.
Wieso geht es ihnen nicht gut?
Mein Bruder ist krank. Finanziell geht es ihnen auch nicht so gut, aber Geld ist nicht alles.
Was hat Ihr Bruder?
Er stand unter Schock.
Seit 2007?
Ja
Sie sagten er sei krank. Was hat er?
Der Arzt sagt, er steht noch unter Schock."
Vor der Rückübersetzung dieser Niederschrift wurde die bP belehrt, dass sie im Anschluss Korrekturen, Ergänzungen und Nachfragen stellen könne und dass sie mit ihrer Unterschrift bestätige, dass ihre Angaben inhaltlich richtig und vollständig seien. Die bP bestätigte im Anschluss, dass es bei der Einvernahme keine Probleme gab. Abschließend führte sie noch an, dass sie hoffe in Österreich weiter studieren und etwas Gutes tun könne. Nach der Rückübersetzung bestätigte sie ausdrücklich, dass vom Dolmetscher alles korrekt rückübersetzt und ihre Aussagen richtig protokolliert wurden. Sie wolle nichts berichtigen oder ergänzen. Ihr wurde eine Kopie der Niederschrift ausgefolgt. Die bP unterfertigte so wie der Referent und die Dolmetscherin die Niederschrift.
Aus der Niederschrift geht nicht hervor, dass die bP dort schon angab, dass ihr Bruder schon einen Monat nach ihrer Ausreise entführt worden wäre. Die Niederschrift ist nach Ansicht des BVwG mängelfrei und stellt vollen Beweis iSd § 15 AVG dar.
Die Behauptung in der Beschwerde stellt nach Ansicht des Gerichtes bloß einen Versuch dar ihre Situation im Herkunftsstaat aus asyltaktischen Gründen schlechter darzustellen als sie ist. Ob dies auf Grund von eigener Überzeugung oder durch Suggestion Dritter geschah, kann hier dahingestellt bleiben. In jedem Fall stellt dies eine Verletzung ihrer persönlichen Mitwirkungsverpflichtung dar und ist gem. § 18 Abs 3 AsylG bei der Beurteilung der Glaubhaftmachung ihres ausreisekausalen Vorbringens zu berücksichtigen.
Ein weiterer, deutlicher Hinweis dafür, dass sie in Bezug auf die fragliche Niederschrift hier durch falsche Angaben versucht den Beweiswert zu entkräften, ergibt sich auch aus ihrer schriftlichen Stellungnahme vom 29.01.2019. Darin führt sie ua. aus, dass sie erst im Jänner 2016 in einem Telefonat mit der Mutter erfahren habe, dass ihr Bruder bereits im Juli 2015 entführt worden wäre. Die Mutter habe die bP nicht belasten wollen und dies deshalb ihr gegenüber zuvor verschwiegen.
Dies widerspricht jedoch ihren Angaben im Beschwerdeschriftsatz, wonach sie schon bei der Einvernahme am 25.11.2015 gewusst und angegeben habe, dass der Bruder im Juli 2015 entführt worden wäre und führte die bP diese Nichtprotokollierung in der Niederschrift noch auf eine Fehlleistungen des Dolmetschers - dieser habe "nicht alles übersetzt" bzw. "falsch übersetzt" - zurück.
Gerade beim Antrag auf internationalen Schutz kommt der persönlichen Aussage zur eigenen Gefährdungssituation im Herkunftsstaat als Beweismittel und zentralem Punkt in diesem Verfahren besondere Bedeutung zu, handelt es sich doch behauptetermaßen um persönliche Erlebnisse bzw. eigene sinnliche Wahrnehmungen des Antragstellers / der Antragstellerin über die berichtet wird. Diese entziehen sich zumeist - insbesondere auf Grund der faktischen und rechtlichen Ermittlungsschranken der Asylinstanzen - weitgehend einer Überprüfbarkeit und liegen diese idR alleine in der persönlichen Sphäre der bP.
Im Wesentlichen geht es für die Entscheider darum, zu beurteilen, ob es im konkreten Fall glaubhaft ist, dass die diesbezüglichen Aussagen der bP auf einem tatsächlichen persönlichen Erleben beruhen oder ob sich die Partei dabei der Lüge bedient bzw. die Aussagen nicht erlebnisbegründet sind.
Im Allgemeinen erfolgt eine (vorsätzliche) Falschaussage nicht ohne Motiv (vgl. Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, 4. Auflage, Rz 246ff). Im Verfahren über einen Antrag auf internationalen Schutz kann eine derartige Motivationslage, die den Wahrheitswillen eines Antragstellers/einer Antragstellerin zu beeinflussen geeignet ist, darin liegen, dass sie ihrer Überzeugung nach - uU auch durch Suggestion Dritter beeinflusst - dadurch gesteigerte Erfolgsaussichten erwarten, um den beantragten Status als Asylberechtigter oder als subsidiär Schutzberechtigter und damit einen Aufenthaltstitel samt Zugang zum Arbeitsmarkt und/oder staatlicher Versorgung zu erlangen (sog. "Folgenberücksichtigung", siehe oben zitierte Quelle).
Als Beurteilungskritierien für die Glaubhaftmachung nennt der Verwaltungsgerichtshof beispielsweise:
Bloßes Leugnen oder eine allgemeine Behauptung reicht für eine Glaubhaftmachung nicht aus (VwGH 24.2.1993, 92/03/0011; 1.10.1997, 96/09/0007). Aus dem Wesen der Glaubhaftmachung ergibt sich auch, dass die Ermittlungspflicht der Behörde durch die vorgebrachten Tatsachen und angebotenen Beweise eingeschränkt ist (VwGH 29.3.1990, 89/17/0136; 25.4.1990, 90/08/0067). Ohne entsprechendes Vorbringen des Asylwerbers oder ohne sich aus den Angaben konkret ergebende Anhaltspunkte ist die Behörde / das Bundesverwaltungsgericht nicht verpflichtet jegliche nur denkbaren Lebenssachverhalte ergründen zu müssen (vgl. VwGH 10.8.2018, Ra 2018/20/0314, mwN).
Es ist Aufgabe des Asylwerbers, durch ein in sich stimmiges und widerspruchsfreies Vorbringen, allenfalls durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauert, einen asylrelevanten Sachverhalt glaubhaft zu machen. (VwGH 30. 11. 2000, 2000/01/0356).
Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kann die Behörde einen Sachverhalt grundsätzlich nur dann als glaubhaft anerkennen, wenn der Asylwerber während des Verfahrens im Wesentlichen gleichbleibende Angaben macht, wenn diese Angaben wahrscheinlich und damit einleuchtend erscheinen und wenn erst sehr spät gemachte Angaben nicht den Schluss aufdrängten, dass sie nur der Asylerlangung um jeden Preis dienen sollten, der Wirklichkeit aber nicht entsprechen. Als glaubhaft könnten Fluchtgründe im Allgemeinen nicht angesehen werden, wenn der Asylwerber die nach seiner Meinung einen Asyltatbestand begründenden Tatsachen im Laufe des Verfahrens unterschiedlich oder sogar widersprüchlich darstellt, wenn seine Angaben mit den der Erfahrung entsprechenden Geschehnisabläufen nicht vereinbar und daher unwahrscheinlich erscheinen oder wenn er maßgebliche Tatsachen erst sehr spät im Laufe des Asylverfahrens vorbringt (vgl. zB. VwGH 6.3.1996, 95/20/0650).
Auch auf die Mitwirkung des Asylwerbers im Verfahren ist bei der Beurteilung der Glaubhaftmachung Bedacht zu nehmen. Wenn es sich um einen der persönlichen Sphäre der Partei zugehörigen Umstand handelt (zB ihre familiäre [VwGH 14.2.2002, 99/18/0199 ua], gesundheitliche [VwSlg 9721 A/1978; VwGH 17.10.2002, 2001/20/0601; 14.6.2005, 2005/02/0043], oder finanzielle [vgl VwGH 15.11.1994, 94/07/0099] Situation), von dem sich die Behörde nicht amtswegig Kenntnis verschaffen kann (vgl auch VwGH 24.10.1980, 1230/78), besteht eine erhöhte Mitwirkungspflicht und Darlegungslast des Asylwerbers (VwGH 18.12.2002, 2002/18/0279).
Wenn Sachverhaltselemente im Ausland ihre Wurzeln haben, ist die Mitwirkungspflicht und Offenlegungspflicht der Partei in dem Maße höher, als die Pflicht der Behörde zur amtswegigen Erforschung des Sachverhaltes wegen des Fehlens der ihr sonst zu Gebote stehenden Ermittlungsmöglichkeiten geringer wird. Tritt in solchen Fällen die Mitwirkungspflicht der Partei in den Vordergrund, so liegt es vornehmlich an ihr, Beweise für die Aufhellung auslandsbezogener Sachverhalte beizuschaffen (VwGH 12.07.1990, Zahl 89/16/0069).
Dass es der bP nicht vordringlich um die Erlangung von Schutz vor Verfolgung geht, sondern im Wesentlichen um einen gesetzlich legitimierten Verbleib in Österreich, maW um die Erlangung eines Aufenthaltstitels über das Asylwesen geht, ergibt sich schon aus ihrem Vorbringen, weshalb sie nicht etwa schon in der Türkei bei türkischen Behörden um Schutz ansuchte oder in der Türkei bei UNHCR einen Antrag auf internationalen Schutz stellte. Die Türkei "sei anders", "es sei schwer in der Türkei zu leben" und "deshalb wollte sie nach Österreich kommen", war ihre Begründung für das Unterlassen der Schutzsuche in diesem Land.
Das BVwG geht auf Grund des Ermittlungsverfahrens davon aus, dass die bP in zentralen Bereichen, vor allem wo es um die Ausreise bzw. ausreisekausale Probleme und Rückkehrbefürchtungen geht, keine bzw. geringe Bereitschaft zeigte, wahrheitsgemäße Angaben zu machen. Offensichtlich hielt sie es selbst für einen positiven Ausgang des beantragten internationalen Schutzes für abträglich hier den Tatsachen entsprechende Angaben zu machen.
Die Aussage der bP, dass ihr Vater 2007 bei besagtem Ereignis Opfer wurde, erscheint auf Grund des Todeszeitpunktes, belegt durch den Totenschein des Vaters, und dem durch mediale Berichte nachgewiesenen Ereignis als glaubhaft. Dass die bP 2007 als Minderjähriger Opfer einer Entführung wurde und gegen Lösegeldzahlung wieder frei kam, kann auf Grund der damaligen Lage als nicht unwahrscheinlich erachtet werden. Faktum ist jedoch, dass dieses Ereignis für die bP nicht ausreisekausal war und die Familie weiter unbehelligt blieb.
Nicht glaubhaft als persönlich erlebtes Realereignis erscheint jedoch das behauptete Entführungsszenario im Jahr 2015.
Die bP gab im Verfahren an, dass sie sich seit der Flucht aus ihrem Auto bis zu dem Zeitpunkt, wo sie zum Flughafen gefahren wurde, immer bei ihrem Freund versteckt habe. Beim Bundesamt gab sie an, dass sie für die "Verbringung nach Österreich" 14.000 USD bezahlen musste. Sie habe das Geld dafür aus dem Autoverkauf erlangt und sie habe auch etwas gespart. In der Verhandlung wurde versucht zu erhellen wie sie letztlich die Ausreise organisiert hat, zumal sie ja angab sich immer versteckt zu haben und sie behauptete, legal mit türkischem Visum ausgereist zu sein. Ihr Mitwirkungswille an der Beantwortung diesbezüglicher Fragen war sehr eingeschränkt und schließt das BVwG daraus letztlich, dass sie sich nicht im besagten Zeitraum versteckt hat, sondern vielmehr auch selbst Ausreisevorbereitungen traf, die nicht mit einem "Verstecken" vereinbar sind. Auszug aus der Verhandlungsschrift:
"Erzählen sie was Sie tun mussten um zu dem Visum zu gelangen?
Das ist über ein Reisebüro, eine Reisegesellschaft geschehen, diese erledigen das Ticketvisum, die Formalitäten hierzu.
RI wiederholt die Frage und fordert um Konkretisierung hinsichtlich seiner eigenen Tätigkeit dabei auf.
Mein Freund hat meinen Reisepass zu einem Reisebüro gebracht, er hat das Ticket und Visum bekommen."
In Anbetracht dessen, dass eine Visumantragstellung ein doch administratives Geschehen und persönliche Mitwirkung des Antragstellers, zB das Besorgen und Ausfüllen von Formularen, Unterschriftleistungen, Besorgung und Vorlage von Bescheinigungsmitteln mitumfasst, liegt angesichts der gezeigten mangelnden Auskunftsfreude ein Versuch der Verschleierung von nicht unerheblichen Fakten auf der Hand, die die Glaubhaftmachung beeinträchtigt.
Dies ergibt sich etwa auch aus der Befragung im Zusammenhang mit der Finanzierung der Ausreise bzw. Besorgung der finanziellen Mittel, zumal sie ja angab sich im Haus ständig versteckt zu haben. Auszug aus der Verhandlungsschrift:
"Sie haben angegeben, dass Sie vor der Ausreise Ihr Auto verkauften? Erzählen Sie mir genau wie der Verkauf abgelaufen ist.
Das hat mein Freund von mir organisiert, den Autoverkauf, es ist der gleiche Freund. Er ist wie ein Bruder, wir haben den Studiumabschluss zur gleichen Zeit gemacht".
Selbst wenn tatsächlich dieser Freund den Verkauf "organisiert" hat, wäre doch zu erwarten gewesen, dass die bP dazu nähere Angaben über den Ablauf machen kann. Aus dieser ausweichenden Beantwortung schließt das Gericht, dass die bP sehr wohl selbst den Verkauf des Autos durchführte, ihr jedoch bewusst war, dass eine diesbezüglich wahrheitsgemäße Antwort für ihre Behauptung, sich ständig im Haus versteckt zu halten, zuwiderlaufend wäre.
Das von der bP geschilderte Szenario der versuchten Entführung auf offener, vierspuriger Fahrbahn bei hohem Verkehrsaufkommen erscheint aus asyltaktischen Gründen konstruiert zu sein und ist es - so wie auch schon für das Bundesamt - letztlich nicht glaubhaft, dass es sich hier um ein persönliches Realereignis handelte.
Die bP behauptete, dass es im März 2015 auf einer vierspurigen Fahrbahn in Bagdad bei viel Verkehr gewesen sei. Es sei "ein ähnliches Auto" wie beim ersten Mal gewesen", womit sie offenbar die Entführung im Jahr 2007 meint. Ihren vorherigen Angaben bei der Erstbefragung nach sprach sie davon, dass bei der Entführung im Jahr 2007 jedoch "10 Autos" involviert gewesen seien. Auch bei ihren folgenden Angaben beim Bundesamt sprach sie dann davon, dass es mehrere Autos der Verfolger gegeben habe. Nicht nur, dass die bP 2007 noch minderjährig war und bis 2015 doch ein erheblich langer Zeitraum verstrichen ist, erscheint es nicht plausibel zu sein, dass die bP hier quasi ihre damaligen Entführer nunmehr wieder im Rückblickspiegel am Auto erkannt haben soll.
Es erscheint auch im Hinblick auf die allgemeine Lebenserfahrung und auch unter Berücksichtigung der Lage im Irak nicht plausibel zu sein, dass die von ihr beschuldigte Miliz in Bagdad auf offener Straße - eine vierspurige Fahrbahn bei viel Verkehr - unter unzähligen Zeugen in der geschilderten Art eine Entführung vornehmen sollten.
Die bP wurde beim Bundesamt auch aufgefordert bezüglich dem ausreisekausalen Ereignis neben Zeiten und Orte konkret zu schildern, was sich genau ereignet hat und wurde ihr dies nachweislich erörtert was gemeint sei. Ihre diesbezüglich Antwort zum Ablauf ist oberflächlich und zeichnet sich insbesondere durch ein Fehlen wesentlicher Realkennzeichnung hinsichtlich der Aussage von persönlichen Erlebnissen dieser Intensität nach aus:
"[...] Etwa im März 2015 kam ich von der Arbeit zurück, es war ein ähnliches Auto wie das erste Mal, es war viel Verkehr. Sie stiegen aus den Autos aus. Ich habe meine Autotür aufgemacht, bin ausgestiegen, ich bin weggelaufen zu dem Haus eines Freundes. Dort habe ich mich dann versteckt. Dann habe ich das Land verlassen."
Dies war auch bereits das Ende ihrer freien Rede zum ausreisekausalen Erlebnis. Realerlebnis-begründete Aussagen zeichnen sich jedoch idR dadurch aus, dass in der freien Erzählung viele und detaillierte Aussagen in etwas sprunghafter und ungeordneter Reihenfolge vom Zeugen hervorgebracht werden. Dieses wichtige Merkmal und Realkennzeichen fehlt in aller Regel in Aussagen, die durch fremde Einflüsse und nicht wirklich erlebnisbegründet fundiert sind. Wirkliche Erlebnisse können also im Prinzip detailreich berichtet werden.
(vgl. zB. Internet Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie, Aussagepsychologie, http://www.sgipt.org/forpsy/aussage0.htm#Was%20sind%20Aussagen).
Es kamen im Verfahren auch keine Hemmungsfaktoren hervor, wodurch die bP etwa nicht in der Lage gewesen sein könnte ihre vorgeblichen persönlichen und als ausreisekausal bezeichneten Erlebnisse in den Einvernahmen dergestalt darzulegen. Schon dadurch vermag die bP dieses Ereignis nicht glaubhaft zu machen.
Auch die nachfolgend, durch umfangreiche Nachfrage des Bundesamtes versuchte Aufhellung des Ereignisses überzeugt nicht davon, dass es sich hier um ein von der bP selbst erlebtes Geschehnis handelt.
"Können Sie die Situation etwas genauer schildern?
Ich war an der zweiten Adresse die ich angegeben habe. Ich bin ausgestiegen und weggelaufen, ich kenne die Umgebung.
In welchem Moment haben Sie das Auto bemerkt?
So wie ich sagte, es war viel Verkehr.
Es sind also viele Autos an Ihnen vorbeigefahren?
Ja, es war einfach viel Verkehr.
In welchem Moment haben Sie beschlossen zu Laufen zu beginnen?
Es ging ja um mein Leben.
[...]
Wie kamen Sie zu dem Schluss, dass diese Personen ausgerechnet hinter Ihnen her sind?
Als sie ausstiegen, bin ich auch sofort ausgestiegen.
[...]
Als Sie noch im Auto saßen, woher wussten Sie, dass diese Personen hinter Ihnen her sein werden?
Wenn ich sitzen geblieben wäre, dann wäre ich jetzt tot.
Anm.: Frage wird noch einmal wiederholt.
Sie sind ja in meine Richtung gegangen. Sie waren ganz normal angezogen. Als ich meine Autotür öffnete, haben sie gerufen "Stehen bleiben"."
Auch hinsichtlich der Identität der "Verfolger" bzw. deren Zuordenbarkeit waren die Aussagen der bP nicht konkret bzw. widersprüchlich. Behauptete sie zuerst, dass sie "ganz normal angezogen waren", so änderte sie die Aussage dann dahingehend, dass sie wie Milizangehörige mit schwarzer Oberbekleidung und Hosen "wie von der Armee" angezogen waren.
Die bP vermochte auch hinsichtlich Plausibilität der Aussagen zur Verbringung ihres Pkw vom Fluchtort nicht zu überzeugen. Sie behauptete, dass sie das Fahrzeug auf der vierspurigen, stark befahrenen Fahrbahn fluchtartig und unter Zurücklassung des Zündschlüssels im dichten Verkehrsgeschehen stehen ließ. Da sie behauptete, dass der Freund im Anschluss für sie das Fahrzeug veräußerte, war natürlich vom Interesse wie das Fahrzeug von dort wieder wegkam und wurde versucht dies durch Befragung in der Verhandlung zu erhellen, wobei die bP auch hier wieder sehr oberflächlich blieb und einen Teil der Frage auch unbeantwortet ließ:
"Sie gaben an, dass Sie Ihren Pkw auf der stark befahrenen 4-spurigen Fahrbahn einfach stehen ließen und davongelaufen wären. Erzählen Sie mir, wie der Pkw von dort wieder weg kam und wo wurde er geparkt.
Der Freund von mir hat das alles organisiert, er hat das Auto ca. eine Stunde später geholt und später den Verkauf organisiert."
Die Vorstellung, dass in einer Großstadt auf einer stark befahren vierspurigen Fahrbahn ein Pkw mit angesteckten Zündschlüssel rd. 1 Stunde unbehelligt und ohne weitere behördliche Maßnahmen als Verkehrshindernis parkt, vermag der allgemeinen Lebenserfahrung nach nicht zu überzeugen. Vielmehr wäre naheliegend, dass dieses Verkehrshindernis ehestmöglich von der Polizei von dort verbracht wird, was angesichts des behauptetermaßen angesteckten Zündschlüssels auch leicht möglich gewesen wäre.
Hätte es tatsächlich Verfolger gegeben bzw. Personen, die an der Auffindung der bP Interesse gehabt hätten, so wäre auch naheliegend gewesen das Fahrzeug zu observieren und im Zuge der Wegbringung eine Spur zur bP zu er