TE Bvwg Erkenntnis 2020/3/30 W111 1401355-4

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Veröffentlicht am 30.03.2020
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Entscheidungsdatum

30.03.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z5
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §9 Abs1 Z1
AsylG 2005 §9 Abs4
BFA-VG §9
B-VG Art. 133 Abs4
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3
VwGVG §28 Abs3 Satz 2

Spruch

W111 1401355-4/7E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Dr. DAJANI, LL.M., als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch den XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 10.10.2019, Zl. 780237106-171210574,

A) I. zu Recht erkannt:

Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. bis III. wird gemäß den §§ 9 Abs. 1 Z 1 und Abs. 4, 57 AsylG 2005 idgF als unbegründet abgewiesen.

II. beschlossen:

In Erledigung der Beschwerde hinsichtlich der Spruchpunkte IV. bis VI. wird der angefochtene Bescheid gemäß § 28 Abs. 3, 2. Satz VwGVG idgF zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation und Angehöriger der tschetschenischen Volksgruppe, reiste zusammen mit seiner (damaligen) Lebensgefährtin und den gemeinsamen minderjährigen Kindern illegal in das Bundesgebiet ein und stellte am 10.03.2008 einen Antrag auf internationalen Schutz, welcher mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 25.11.2008 abgewiesen und der Beschwerdeführer aus dem Bundesgebiet ausgewiesen wurde.

2. Mit rechtskräftigem Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 06.05.2009, Zl. D13 401355-2/2008/5E, wurde die Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen, dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation zuerkannt und dem Beschwerdeführer eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt, welche zuletzt mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 08.05.2018 bis zum 05.05.2020 verlängert wurde.

Der Asylgerichtshof führte in der Entscheidung vom 06.05.2009 begründend im Wesentlichen aus, es könne nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in seiner Heimat aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten bedroht wäre. Der Beschwerdeführer habe sich bei Darstellung seiner Fluchtgründe in näher angeführte Widersprüche verstrickt, weshalb dieser einen asylrelevanten Sachverhalt nicht habe glaubhaft machen können und sein Antrag insofern abzuweisen gewesen wäre. Es werde jedoch festgestellt, dass der Beschwerdeführer an einer ausgeprägten Posttraumatischen Belastungsstörung leide und bei Nicht-Behandlung derselben mit einer Chronifizierung im Sinne einer bleibenden Persönlichkeitsveränderung zu rechnen sei, weswegen in den folgenden Jahren absehbar sei, dass sich der Beschwerdeführer einer ständigen Psychotherapie unterziehen werden müsse, die in seiner Heimat nicht ausreichend durchführbar sei. Nach dem im Verfahren vorgelegten klinisch-psychologischen Befund, weise der Beschwerdeführer ein Krankheitsbild von gewisser Schwere auf, weswegen dieser in Österreich dringend eine Therapie durchlaufen müsse, ansonsten eine deutliche Verschlechterung seines Gesundheitszustandes zu erwarten und mit einem hohen Suizidrisiko zu rechnen wäre. Anhand der Länderberichte stehe fest, dass eine ausreichende medizinisch-psychologische Behandlung der im Verfahren hervorgekommenen Erkrankung des Beschwerdeführers unter Berücksichtigung der dafür notwendigen finanziellen Aufwendungen in Zusammenschau mit der sehr wahrscheinlichen Retraumatisierung im Falle einer Rückschiebung nach Tschetschenien und einer damit einhergehenden massiven Verschlechterung des Gesundheitszustandes nicht gewährleistet wäre. Es könne daher nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausgeschlossen werden, dass dem Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation aus diesem Grund eine Gefahr im Sinne des Art. 3 EMRK drohe.

Die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl über die in der Folge regelmäßig erfolgte Verlängerung des Status des subsidiär Schutzberechtigten verweisen auf das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung, enthalten jedoch darüberhinausgehend keine inhaltliche Begründung.

Am 04.01.2018 stellte der Beschwerdeführer einen Antrag auf unterstützte freiwillige Rückkehr in den Herkunftsstaat zusammen mit vier seiner minderjährigen Kinder. Nach erfolgter Bewilligung der Kostenübernahme für die Rückreise sowie die Teilnahme an einem Rückkehrprojekt teilte der Beschwerdeführer am 17.04.2018 mit, seine Meinung geändert und sich gegen eine freiwillige Rückkehr entschieden zu haben.

2. Infolge einer strafgerichtlichen Verurteilung des Beschwerdeführers (vgl. dazu die Feststellungen) sowie des Verdachtes der Begehung weiterer Straftaten leitete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 14.08.2019 ein Verfahren zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten ein, in welchem am 08.10.2019 eine niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers im Rahmen des Parteiengehörs stattgefunden hat. Der Beschwerdeführer gab zu Protokoll, er beherrsche Tschetschenisch, Russisch und ein wenig Deutsch. Er sei gesund, nehme keine Medikamente ein und könnte jederzeit arbeiten gehen. Aktuell stehe er nicht in ärztlicher Behandlung. Der Beschwerdeführer sei in Tschetschenien respektive der Russischen Föderation aufgewachsen und habe noch viele Verwandte in Tschetschenien. Es würden dort insbesondere noch seine Mutter, ein Bruder, eine Schwester, ein Onkel sowie Cousins leben. Zu seinen aktuellen Befürchtungen für den Fall einer Rückkehr in sein Heimatland erklärte der Beschwerdeführer, er würde sich außer vor Gott vor gar nichts fürchten. Auf ihn würde weder etwas Gutes, noch etwas Schlechtes, warten. Er sei schon so viele Jahre weg. Er wolle nicht zurück, er wolle, dass seine Kinder hier eine Ausbildung bekommen. Ob er in Tschetschenien oder in Russland leben könnte, wisse er nicht. In Österreich habe er gearbeitet, er habe hier eine Frau und sieben Kinder sowie Tanten, einen Onkel und Cousins. Seine Frau und seine Kinder seien ebenso subsidiär Schutzberechtigte.

Dem Beschwerdeführer wurde sodann vorgehalten, dass aufgrund der im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation (letzte Kurzinformation vom 28.02.2019) beschriebenen allgemeinen Lage im Herkunftsstaat, ebenso wie aus den persönlichen Merkmalen des Beschwerdeführers, nichts abzuleiten wäre, das auf eine Verfolgung oder Furcht vor einer solchen schließen ließe. Der Beschwerdeführer würde im Herkunftsstaat eine zumutbare Lebenssituation vorfinden. In Anbetracht seiner Vorstrafen und fehlender (enger) familiärer oder privater Bindungen in Österreich sei nicht ersichtlich, dass eine Rückkehrentscheidung einen ungerechtfertigten Eingriff in sein Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens darstellen würde. Der Beschwerdeführer fragte, ob man ihn ohne seine Frau und seine Familie zurückschicken wolle und erklärte, das er diesfalls lieber selbst mit seiner Familie zurückfahren wolle. Er befinde sich seit dem Jahr 2008 in Österreich und sei diesem Land sehr dankbar.

3. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 10.10.2019 wurde der dem Beschwerdeführer mit Erkenntnis vom 06.05.2009 zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 von Amts wegen aberkannt (Spruchpunkt I.), die mit Bescheid vom 08.05.2018 erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 9 Abs. 4 AsylG 2005 entzogen (Spruchpunkt II.), ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gemäß § 10 Abs. 1 Z 5 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass dessen Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde eine zweiwöchige Frist für die freiwillige Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt VI.)

Die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten wurde im Wesentlichen damit begründet, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat keine Gefährdungs- oder Bedrohungslage zu befürchten hätte und eine aktuelle individuelle Furcht vor Verfolgung nicht habe glaubhaft machen können. Dieser habe im nunmehrigen Verfahren keine Gefährdung im Falle einer Rückkehr in das Heimatland ins Treffen geführt. Der Beschwerdeführer könnte seinen Lebensunterhalt in der Russischen Föderation bestreiten und würde ebendort Arbeitsmöglichkeiten vorfinden. Dieser habe nach wie vor familiäre Anknüpfungspunkte im Heimatland, habe dort die Schule besucht sowie Arbeitserfahrung gesammelt und leide aktuell an keinen schwerwiegenden Erkrankungen. Dem Beschwerdeführer sei der Status des subsidiär Schutzberechtigten aufgrund des damaligen Vorliegens einer Erkrankung von gewisser Schwere zuerkannt worden; wie dem Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 14.05.2019 zu entnehmen wäre, sei bei Vorliegen von Straffälligkeit die damalige Schutzgewährung einer individuellen Neubewertung auf Grundlage der Sach- und Rechtslage zum Entscheidungszeitpunkt zu unterziehen. Es bestünden keine Zweifel daran, dass der Beschwerdeführer als arbeitsfähiger gesunder Mann im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation den Lebensunterhalt bestreiten könne, zumal er die dort gebräuchliche Sprache beherrsche und mit den Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates vertraut wäre. Es hätten keine derart exzeptionellen Umstände im Hinblick auf die Russische Föderation festgestellt werden können, die einer in Art. 2 oder 3 EMRK genannten Gefährdung gleichzuhalten wären.

Die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 würden nicht vorliegen. Der Beschwerdeführer habe Verwandte in Österreich, ginge hier keiner Arbeit nach und spreche ein wenig Deutsch. Überdies sei der Beschwerdeführer am XXXX und am XXXX wegen Diebstahls rechtskräftig verurteilt worden, sodass sein Verhalten eine erhebliche Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit darstelle. Hinzu komme, dass er sich nunmehr wegen des Verdachts des Raubes und des schweren Raubes in Untersuchungshaft befände. Im Verfahren seien keine Anhaltspunkte für das Vorliegen einer besonderen Integration des Beschwerdeführers in Österreich hervorgetreten.

4. Mit am 08.11.2019 beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl eingelangtem Schriftsatz wurde durch die nunmehr bevollmächtigte Rechtsberatungsorganisation fristgerecht die verfahrensgegenständliche Beschwerde eingebracht. Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Behörde habe es verabsäumt, gebührend auf das individuelle Vorbringen des Beschwerdeführers einzugehen und die Gesamtbeurteilung anhand aller verfügbarer herkunftsstaatspezifischer Informationen vorzunehmen. Beim Beschwerdeführer handle es sich um einen 41-jährigen Mann, welcher sich seit mehr als elf Jahren im Bundesgebiet befinden würde, wo er mit seiner Frau und seinen sieben minderjährigen Kindern leben würde. Während seiner Einvernahme vor dem Bundesamt habe er seine Dankbarkeit und Wertschätzung für seinen Aufenthalt im Bundesgebiet zum Ausdruck gebracht. Für das gegenständliche Verfahren erscheine es jedenfalls unabdingbar, den Ausgang des derzeit laufenden Strafverfahrens abzuwarten. Die für die Aberkennung notwendige Gemeingefährlichkeit sei anhand einer Zukunftsprognose zu eruieren. Es stehe im vorliegenden Fall zudem außer Zweifel, dass die erlassene Rückkehrentscheidung massiv in das Privat- und Familienleben des Beschwerdeführers eingreife, weshalb es fallgegenständlich einer einhergehenden Prüfung des Privat- und Familienlebens bedürfe.

5. Die Beschwerdevorlage des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl langte am 14.11.2019 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Der volljährige Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation, welcher der tschetschenischen Volksgruppe angehört und sich zum moslemischen Glauben bekennt. Der Beschwerdeführer reiste im März 2008 zusammen mit seiner Lebensgefährtin und den gemeinsamen Kindern illegal in das Bundesgebiet ein und stellte einen Antrag auf internationalen Schutz, welcher mit rechtskräftigem Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 06.05.2009, Zahl D13 401355-2/2008/5E, im Umfang der Gewährung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wurde, gleichzeitig wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und ihm gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt, welche zuletzt mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 08.05.2018 für den Zeitraum bis zum 05.05.2020 verlängert wurde. Die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten wurde im Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 06.05.2009 mit dem damaligen Vorliegen einer schweren behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankung des Beschwerdeführers begründet, welche in seiner Heimat Tschetschenien keiner ausreichenden Behandlung zugänglich gewesen wäre.

Der Beschwerdeführer erklärte zuletzt ausdrücklich, er sei gesund, nehme gegenwärtig keine ärztliche Behandlung in Anspruch und benötige keine Medikamente.

1.2. Nicht festgestellt werden kann, dass der Beschwerdeführer in Tschetschenien respektive der Russischen Föderation aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten bedroht wäre. Im Entscheidungszeitpunkt konnte keine aktuelle Gefährdung des Beschwerdeführers in der Russischen Föderation festgestellt werden.

Ebenfalls nicht festgestellt werden kann, dass der Beschwerdeführer im Fall seiner Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Tschetschenien respektive in die Russische Föderation in seinem Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht wäre. Der Beschwerdeführer liefe dort nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Der Beschwerdeführer spricht Tschetschenisch auf muttersprachlichem Niveau, zudem spricht er grundlegend Russisch und verfügt über zahlreiche Angehörige im Herkunftsstaat. Der Beschwerdeführer, welcher sein Heimatland im Erwachsenenalter verlassen hat, nachdem er dort die Schule absolviert und Berufserfahrung gesammelt hat, leidet an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Erkrankungen. In Tschetschenien halten sich die Mutter, zwei volljährige Geschwister, ein Onkel und Cousins des Beschwerdeführers auf.

1.3. Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichts für XXXX vom XXXX , Zl. XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen § 127, § 229 Abs. 1 StGB, § 241e Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt, welche ihm unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde.

Mit rechtskräftigem Urteil des Bezirksgerichts XXXX vom XXXX , Zl. XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen § 15 StGB, § 127 StGB zu einer Geldstrafe von 100 Tagsätzen zu je EUR 4,00, im Nichteinbringungsfall 50 Tage Ersatzfreiheitsstrafe, verurteilt.

Seit dem 20.07.2019 befindet sich der Beschwerdeführer wegen des Verdachts der Begehung von § 12 2. Fall StGB; § 142 Abs. 1 StGB; § 143 Abs. 1 2. Fall StGB in Untersuchungshaft.

1.4. Umfang und Intensität der familiären und privaten Bindungen des Beschwerdeführers im Bundesgebiet stehen nicht fest. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hat diesbezüglich lediglich ansatzweise ermittelt und versucht, die hierzu erforderlichen zentralen Ermittlungsschritte an das Bundesverwaltungsgericht zu delegieren.

1.5. Insbesondere zur allgemeinen Situation und Sicherheitslage, zur allgemeinen Menschenrechtslage, zu Grundversorgung und Wirtschaft sowie zur Lage von Rückkehrern wird unter Heranziehung der erstinstanzlichen Länderfeststellungen Folgendes festgestellt:

...

1. Sicherheitslage

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen. Todesopfer forderte zuletzt ein Terroranschlag in der Metro von St. Petersburg im April 2017. Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 3.9.2019a, vgl. BMeiA 3.9.2019, GIZ 8.2019d). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 3.9.2019).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Die gewaltsamen Zwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sog. IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

Quellen:

-

AA - Auswärtiges Amt (3.9.2019a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise,

https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 3.9.2019

-

BmeiA (3.9.2019): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 3.9.2019

-

Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden,

https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 29.8.2018

-

EDA - Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (3.9.2019): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 3.9.2019

-

GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (8.2019d): Russland, Alltag,

https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 3.9.2019

-

SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 3.9.2019

1.1. Tschetschenien

Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat - etwa in der Ostukraine sowohl auf Seiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, sowie in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der "Tschetschenisierung" wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).

Im Jahr 2018 wurden in Tschetschenien mindestens 35 Menschen Opfer des bewaffneten Konflikts, von denen mindestens 26 getötet und neun weitere verletzt wurden. Unter den Opfern befanden sich drei Zivilisten (zwei getötet, einer verletzt), elf Exekutivkräfte (drei getötet, acht verletzt) und 21 Aufständische (alle getötet). Im Vergleich zu 2017, als es 75 Opfer gab, sank die Gesamtopferzahl 2018 um 53,3%. In der ersten Hälfte des Jahres 2019 wurden in Tschetschenien zwei Personen getötet und vier verletzt (Caucasian Knot 30.8.2019). Seit Jahren ist im Nordkaukasus nicht mehr Tschetschenien Hauptkonfliktzone, sondern Dagestan (ÖB Moskau 12.2018).

Quellen:

-

Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by 38%, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/reduction_number_victims_2018/, Zugriff 3.9.2019

-

ÖB Moskau (12.2018): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2001768/RUSS_%C3%96B_Bericht_2018_12.pdf, Zugriff 3.9.2019

-

SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan:

Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 3.9.2019

-

SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 3.9.2019

2. Rechtsschutz / Justizwesen

Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte bezüglich Verfassungs-, Zivil-, Administrativ- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR, EuR) als auch nationale Organisationen (Ombudsmann, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 12.2018). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive, und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kremls gebunden (FH 4.2.2019).

In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Laut einer Umfrage des Levada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen Ende 2018 rangieren die Gerichte, die Staatsanwaltschaft und die Polizei eher im unteren Bereich. 33% der Befragten zweifeln daran, dass man den Gerichten vertrauen kann, 25% sind überzeugt, dass die Gerichte das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdienen und nur 28% geben an, ihnen zu vertrauen (ÖB Moskau 12.2018). Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen (ÖB Moskau 12.2018, vgl. AA 13.2.2019). So wurde in einem aufsehenerregenden Fall der amtierende russische Wirtschaftsminister Alexei Ulyukayev im November 2016 verhaftet und im Dezember 2017 wegen Korruptionsvorwürfen seitens des mächtigen Leiters des Rohstoffunternehmens Rosneft zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt (ÖB Moskau 12.2018).

2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), dass Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, so dass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das die Souveränität Russlands untergraben möchte (ÖB Moskau 12.2018). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt, welches dem VfGH das Recht einräumt, Urteile internationaler Menschenrechtsinstitutionen nicht umzusetzen, wenn diese nicht mit der russischen Verfassung in Einklang stehen (ÖB Moskau 12.2018, vgl. AA 13.2.2019, US DOS 13.3.2019). Der russische Verfassungsgerichtshof zeigt sich allerdings um grundsätzlichen Einklang zwischen internationalen gerichtlichen Entscheidungen und der russischen Verfassung bemüht (ÖB Moskau 12.2018).

Am 10.2.2017 fällte das Verfassungsgericht eine Entscheidung zu

Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs, der wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsrecht als Straftat definiert. Die Richter entschieden, die Abhaltung einer "nichtgenehmigten" friedlichen Versammlung allein stelle noch keine Straftat dar. Am 22.2.2017 überprüfte das Oberste Gericht das Urteil gegen den Aktivisten Ildar Dadin, der wegen seiner friedlichen Proteste eine Freiheitsstrafe auf Grundlage von Artikel 212.1. erhalten hatte, und ordnete seine Freilassung an. Im Juli 2017 trat eine neue Bestimmung in Kraft, wonach die Behörden Personen die russische Staatsbürgerschaft aberkennen können, wenn sie diese mit der "Absicht" angenommen haben, die "Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes anzugreifen". NGOs kritisierten den Wortlaut des Gesetzes, der nach ihrer Ansicht Spielraum für willkürliche Auslegungen bietet (AI 22.2.2018).

Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Es gibt jedoch Hinweise auf selektive Strafverfolgung, die auch sachfremd, etwa aus politischen Gründen oder wirtschaftlichen Interessen, motiviert sein kann (AA 13.2.2019).

Repressionen Dritter, die sich gezielt gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe richten, äußern sich hauptsächlich in homophoben, fremdenfeindlichen oder antisemitischen Straftaten, die von Seiten des Staates nur in einer Minderheit der Fälle zufriedenstellend verfolgt und aufgeklärt werden (AA 13.2.2019).

Quellen:

-

AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 6.8.2019

-

AI - Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 6.8.2019

-

EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 6.8.2019

-

FH - Freedom House (4.2.2019): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2018 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002603.html, Zugriff 6.8.2019

-

ÖB Moskau (12.2018): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2001768/RUSS_%C3%96B_Bericht_2018_12.pdf, Zugriff 6.8.2019

-

US DOS - United States Department of State (13.3.2019):

Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2018 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004290.html, Zugriff 6.8.2019

2.1. Tschetschenien und Dagestan

Das russische föderale Recht gilt für die gesamte Russische Föderation, einschließlich Tschetscheniens und Dagestans. Neben dem russischen föderalen Recht spielen sowohl Adat als auch Scharia eine wichtige Rolle in Tschetschenien. Republiksoberhaupt Ramzan Kadyrow unterstreicht die Bedeutung, die der Einhaltung des russischen Rechts zukommt, verweist zugleich aber auch auf den Stellenwert des Islams und der tschetschenischen Tradition.

Das Adat ist eine Art Gewohnheitsrecht, das soziale Normen und Regeln festschreibt. Dem Adat-Recht kommt in Zusammenhang mit der tschetschenischen Lebensweise eine maßgebliche Rolle zu. Allgemein gilt, dass das Adat für alle Tschetschenen gilt, unabhängig von ihrer Clanzugehörigkeit. Das Adat deckt nahezu alle gesellschaftlichen Verhältnisse in Tschetschenien ab und regelt die Beziehungen zwischen den Menschen. Im Laufe der Jahrhunderte wurden diese Alltagsregeln von einer Generation an die nächste weitergegeben. Das Adat ist in Tschetschenien in Ermangelung einer Zentralregierung bzw. einer funktionierenden Gesetzgebung erstarkt. Daher dient das Adat als Rahmen für die gesellschaftlichen Beziehungen. In der tschetschenischen Gesellschaft ist jedoch auch die Scharia von Bedeutung. Die meisten Tschetschenen sind sunnitische Muslime und gehören der sufistischen Glaubensrichtung des sunnitischen Islams an [Anm. d. Staatendokumentation: für Informationen bezüglich Sufismus vgl.: ÖIF Monographien (2013):

Glaubensrichtungen im Islam]. Der Sufismus enthält u. a. auch Elemente der Mystik. Eine sehr kleine Minderheit der Tschetschenen sind Salafisten (EASO 9.2014). Scharia-Gerichtsbarkeit bildet am Südrand der Russischen Föderation eine Art "alternativer Justiz". Sie steht zwar in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands, wird aber, mit Einverständnis der involvierten Parteien, für Rechtsprechung auf lokaler Ebene eingesetzt (SWP 4.2015). Somit herrscht in Tschetschenien ein Rechtspluralismus aus russischem Recht, traditionellen Gewohnheitsrecht (adat) einschließlich der Tradition der Blutrache und Scharia-Recht. Hinzu kommt ein Geflecht an Loyalitäten, das den Einzelnen bindet. Nach Ansicht von Kadyrow stehen Scharia und traditionelle Werte über den russischen Gesetzen (AA 13.2.2019). Somit bewegt sich die Republik Tschetschenien in Wirklichkeit außerhalb der Gerichtsbarkeit des russischen Rechtssystems, auch wenn sie theoretisch darunter fällt. Dies legt den Schluss nahe, dass sowohl Scharia als auch Adat zur Anwendung kommen, und es unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Frage gibt, welches der beiden Rechte einen stärkeren Einfluss auf die Gesellschaft ausübt. Formal gesehen hat das russische föderale Recht Vorrang vor Adat und Scharia (EASO 9.2014).

Die Sitte, Blutrache durch einen Blutpreis zu ersetzen, hat sich im letzten Jahrhundert in Tschetschenien weniger stark durchgesetzt als in den anderen Teilrepubliken. Republiksoberhaupt Kadyrow fährt eine widersprüchliche Politik: Einerseits spricht er sich öffentlich gegen die Tradition der Blutrache aus und leitete 2010 den Einsatz von Versöhnungskommissionen ein, die zum Teil mit Druck auf die Konfliktparteien einwirken, von Blutrache abzusehen. Andererseits ist er selbst in mehrere Blutrachefehden verwickelt. Nach wie vor gibt es Clans, welche eine Aussöhnung verweigern (AA 13.2.2019).

In Einklang mit den Prinzipien des Föderalismus ist das tschetschenische Parlament autorisiert, Gesetze innerhalb der Zuständigkeit eines Föderationssubjektes zu erlassen. Laut Artikel 6 der tschetschenischen Verfassung überwiegt das föderale Gesetz gegenüber dem tschetschenischen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Föderalen Regierung, wie beispielsweise Gerichtswesen und auswärtige Angelegenheiten, aber auch bei geteilten Zuständigkeiten wie Minderheitenrechten und Familiengesetzgebung. Bei Themen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Republik überwiegt das tschetschenische Gesetz. Die tschetschenische Gesetzgebung besteht aus einem Höchstgericht und 15 Distrikt- oder Stadtgerichten, sowie Friedensgerichten, einem Militärgericht und einem Schiedsgericht. Die formale Qualität der Arbeit der Judikative ist vergleichbar mit anderen Teilen der Russischen Föderation, jedoch wird ihre Unabhängigkeit stärker angegriffen als anderswo, da Kadyrow und andere lokale Beamte Druck auf Richter ausüben (EASO 3.2017). So musste zum Beispiel im Mai 2016 der Vorsitzende des Obersten Gerichts Tschetscheniens nach Kritik von Kadyrow zurücktreten, obwohl die Ernennung/Entlassung der Richter grundsätzlich zu den föderalen Kompetenzen fällt (ÖB Moskau 12.2018).

Die Bekämpfung von Extremisten geht laut glaubwürdigen Aussagen von lokalen NGOs mit rechtswidrigen Festnahmen, Sippenhaft, Kollektivstrafen, spurlosem Verschwinden, Folter zur Erlangung von Geständnissen, fingierten Straftaten, außergerichtlichen Tötungen und Geheimgefängnissen, in denen gefoltert wird, einher. Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend (AA 13.2.2019, vgl. ÖB Moskau 12.2018, AI 22.2.2018, HRW 17.1.2019). Es gibt ein Gesetz, das die Verwandten von Terroristen zur Zahlung für erfolgte Schäden bei Angriffen verpflichtet. Menschenrechtsanwälte kritisieren dieses Gesetz als kollektive Bestrafung. Angehörige von Terroristen können auch aus Tschetschenien vertrieben werden (USDOS 13.3.2019). Recherchen oder Befragungen von Opfern vor Ort durch NGOs sind nicht möglich; Regimeopfer müssten mitsamt ihren Familien Tschetschenien verlassen. Bestimmte Gruppen genießen keinen effektiven Rechtsschutz (AA 13.2.2019), hierzu gehören neben Journalisten und Menschenrechtsaktivisten (ÖB Moskau 12.2018) auch Oppositionelle, Regimekritiker und Frauen, welche mit den Wertvorstellungen ihrer Familie in Konflikt geraten, Angehörige der LGBTI-Gemeinde und diejenigen, die sich mit Republiksoberhaupt Kadyrow bzw. seinem Clan angelegt haben. Auch Künstler können Beeinträchtigungen ausgesetzt sein, wenn ihre Arbeit nicht im Einklang mit Linie oder Geschmack des Republiksoberhaupts steht. Regimekritikern und Menschenrechtsaktivisten droht unter Umständen Strafverfolgung aufgrund fingierter Straftaten und physischen Übergriffen bis hin zum Mord. Auch in diesen Fällen kann es zu Sippenhaft von Familienangehörigen kommen. Im Fall des Menschenrechtsaktivisten und Leiter des Memorial-Büros in Tschetschenien Ojub Titijew, gegen den strafrechtliche Ermittlungen wegen (wahrscheinlich fingierten) Drogenbesitzes laufen, wurde seitens Memorial bekannt, dass Familienangehörige Tschetschenien verlassen mussten (AA 13.2.2019). Titijew wurde nach fast anderthalb Jahren Gefängnis auf Bewährung freigelassen (AI 10.6.2019).

In Bezug auf Vorladungen von der Polizei in Tschetschenien ist zu sagen, dass solche nicht an Personen verschickt werden, die man verdächtigt, Kontakt mit dem islamistischen Widerstand zu haben. Solche Verdächtige würden ohne Vorwarnung von der Polizei mitgenommen, ansonsten wären sie gewarnt und hätten Zeit zu verschwinden (DIS 1.2015).

Auch in Dagestan hat sich der Rechtspluralismus - das Nebeneinander von russischem Recht, Gewohnheitsrecht (Adat) und Scharia-Recht - bis heute erhalten. Mit der Ausbreitung des Salafismus im traditionell sufistisch geprägten Dagestan in den 90er Jahren nahm auch die Einrichtung von Scharia-Gerichten zu. Grund für die zunehmende und inzwischen weit verbreitete Akzeptanz des Scharia-Rechts war bzw. ist u.a. das dysfunktionale und korrupte staatliche Justizwesen, das in hohem Maße durch Ämterkauf und Bestechung geprägt ist. Die verschiedenen Rechtssphären durchdringen sich durchaus: Staatliche Rechtsschutzorgane und Scharia-Gerichte agieren nicht losgelöst voneinander, sondern nehmen aufeinander Bezug. Auch die Blutrache wird im von traditionellen Clan-Strukturen geprägten Dagestan angewendet. Zwar geht die Regionalregierung dagegen vor, doch sind nicht alle Clans bereit, auf die Institution der Blutrache zu verzichten (AA 13.2.2019).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 7.8.2019

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AI - Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 7.8.2019

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AI Amnesty International (10.6.2019): Oyub Titiev kommt auf Bewährung frei!,

https://www.amnesty.de/informieren/aktuell/russische-foederation-oyub-titiev-kommt-auf-bewaehrung-frei, Zugriff 23.9.2019

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DIS - Danish Immigration Service (1.2015): Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation - residence registration, racism and false accusations; Report from the Danish Immigration Service's fact finding mission to Moscow, Grozny and Volgograd, the Russian Federation; From 23 April to 13 May 2014 and Paris, France 3 June 2014, http://www.ecoi.net/file_upload/90_1423480989_2015-01-dis-chechnya-fact-finding-mission-report.pdf, Zugriff 7.8.2019

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EASO - European Asylum Support Office (9.2014): Bericht zu Frauen, Ehe, Scheidung und Sorgerecht in Tschetschenien (Islamisierung; häusliche Gewalt; Vergewaltigung; Brautentführung; Waisenhäuser), http://www.ecoi.net/file_upload/1830_1421055069_bz0414843den-pdf-web.pdf,

S. 9, Zugriff 7.8.2019

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EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 7.8.2019

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HRW - Human Rights Watch (17.1.2019): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2018 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002220.html, Zugriff 7.8.2019

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ÖIF Monographien (2013): Glaubensrichtungen im Islam [vergriffen; liegt in der Staatendokumentation auf]

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SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan:

Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 7.8.2019

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US DOS - United States Department of State (13.3.2019):

Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2018 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004290.html, Zugriff 7.8.2019

3. Sicherheitsbehörden

Das Innenministerium (MVD), der Föderale Sicherheitsdienst (FSB), das Untersuchungskomitee und die Generalstaatsanwaltschaft sind auf allen Regierungsebenen für den Gesetzesvollzug zuständig. Der FSB ist mit Fragen der Sicherheit, Gegenspionage und der Terrorismusbekämpfung betraut, aber auch mit Verbrechens- und Korruptionsbekämpfung. Die nationale Polizei untersteht dem Innenministerium und ist in föderale, regionale und lokale Einheiten geteilt. 2016 wurde die Föderale Nationalgarde gegründet. Diese neue Exekutivbehörde steht unter der Kontrolle des Präsidenten, der ihr Oberbefehlshaber ist. Ihre Aufgaben sind die Sicherung der Grenzen gemeinsam mit der Grenzwache und dem FSB, die Administrierung von Waffenbesitz, der Kampf gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität, der Schutz der öffentlichen Sicherheit und der Schutz von wichtigen staatlichen Einrichtungen. Weiters nimmt die Nationalgarde an der bewaffneten Verteidigung des Landes gemeinsam mit dem Verteidigungsministerium teil. Zivile Behörden halten eine wirksame Kontrolle über die Sicherheitskräfte aufrecht. Obwohl es Mechanismen zur Untersuchung von Misshandlungen gibt, werden Misshandlungsvorwürfe gegen Polizeibeamte nur selten untersucht und bestraft. Straffreiheit ist weit verbreitet (US DOS 13.3.2018), ebenso wie die Anwendung übermäßiger Gewalt durch die Polizei (FH 4.2.2019).

Nach dem Gesetz können Personen bis zu 48 Stunden ohne gerichtliche Zustimmung inhaftiert werden, wenn sie am Schauplatz eines Verbrechens verhaftet werden, vorausgesetzt, es gibt Beweise oder Zeugen. Ansonsten ist ein Haftbefehl notwendig. Verhaftete müssen von der Polizei über ihre Rechte aufgeklärt werden, und die Polizei muss die Gründe für die Festnahme dokumentieren. Der Verhaftete muss innerhalb von 24 Stunden einvernommen werden, davor hat er das Recht, für zwei Stunden einen Anwalt zu treffen. Im Allgemeinen werden die rechtlichen Einschränkungen betreffend Inhaftierungen eingehalten, mit Ausnahme des Nordkaukasus (US DOS 13.3.2019).

Nach überzeugenden Angaben von Menschenrechtsorganisationen werden insbesondere sozial Schwache und Obdachlose, Betrunkene, Ausländer und Personen "fremdländischen" Aussehens Opfer von Misshandlungen durch die Polizei und Untersuchungsbehörden. Nur ein geringer Teil der Täter wird disziplinarisch oder strafrechtlich verfolgt. Die im Februar 2011 in Kraft getretene Polizeireform hat bislang nicht zu spürbaren Verbesserungen in diesem Bereich geführt (AA 13.2.2019).

Die zivilen Behörden auf nationaler Ebene haben bestenfalls eine begrenzte Kontrolle über die Sicherheitskräfte in der Republik Tschetschenien, die nur dem Chef der Republik, Kadyrow, unterstellt sind (US DOS 13.3.2019). Kadyrows Macht wiederum gründet sich hauptsächlich auf die ihm loyalen Kadyrowzy. Diese wurden von Kadyrows Familie in der Kriegszeit gegründet; ihre Mitglieder bestehen hauptsächlich aus früheren Kämpfern der Rebellen (EASO 3.2017). Vor allem tschetschenische Sicherheitsbehörden können Menschenrechtsverletzungen straffrei begehen (HRW 7.2018, vgl. AI 22.2.2018). Die Angaben zur zahlenmäßigen Stärke tschetschenischer Sicherheitskräfte fallen unterschiedlich aus. Auf Seiten des tschetschenischen Innenministeriums sollen in der Tschetschenischen Republik rund 17.000 Mitarbeiter tätig sein. Diese Zahl dürfte jedoch nach der Einrichtung der Nationalgarde der Föderation im Oktober 2016 auf 11.000 gesunken sein. Die Polizei hatte angeblich 9.000 Angehörige. Die überwiegende Mehrheit von ihnen sind ethnische Tschetschenen. Nach Angaben des Carnegie Moscow Center wurden die Reihen von Polizei und anderen Sicherheitskräften mit ehemaligen tschetschenischen Separatisten aufgefüllt, die nach der Machtübernahme von Ramzan Kadyrow und dem Ende des Krieges in die Sicherheitskräfte integriert wurden. Bei der tschetschenischen Polizei grassieren Korruption und Missbrauch, weshalb die Menschen bei ihr nicht um Schutz ansuchen. Die Mitarbeiter des Untersuchungskomitees (SK) sind auch überwiegend Tschetschenen und stammen aus einem Pool von Bewerbern, die höher gebildet sind als die der Polizei. Einige Angehörige des Untersuchungskomitees versuchen, Beschwerden über tschetschenische Strafverfolgungsbeamte zu untersuchen, sind jedoch "ohnmächtig, wenn sie es mit der tschetschenischen OMON [Spezialeinheit der Polizei] oder anderen, Kadyrow nahestehenden "unantastbaren Polizeieinheiten" zu tun haben" (EASO 3.2017).

Die regionalen Strafverfolgungsbehörden können Menschen auf der Grundlage von in ihrer Heimatregion erlassenen Rechtsakten auch in anderen Gebieten der Russischen Föderation in Gewahrsam nehmen und in ihre Heimatregion verbringen. Kritiker, die Tschetschenien aus Sorge um ihre Sicherheit verlassen mussten, fühlen sich häufig auch in russischen Großstädten vor Ramzan Kadyrow nicht sicher. Sicherheitskräfte, die Kadyrow zuzurechnen sind, sind auch in Moskau präsent (AA 13.2.2019).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (13.2.201

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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