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E000 EU- Recht allgemeinNorm
AsylG 2005 §11Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zens sowie die Hofräte Dr. Pürgy und Mag. Stickler, die Hofrätin Dr.in Lachmayer und den Hofrat Dr. Faber als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 18. März 2019, W240 2186087-1/17E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (mitbeteiligte Partei: K B B in S), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Begründung
1 Der Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger Somalias, stellte am 3. April 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz. Zu seinen Fluchtgründen gab er an, er gehöre dem Clan der Madhibaan an und habe in der Stadt Hargeysa Medizin studiert und in einem Krankenhaus gearbeitet. Dort habe er eine Beziehung mit einer Frau, die einem anderen Clan angehört habe, begonnen. Nachdem diese Frau schwanger geworden sei, sei er bedroht worden und habe zurück zu seiner Familie in die Stadt Qoryoley flüchten müssen. In Qoryoley habe er in einer Apotheke gearbeitet. Dort sei er von Mitgliedern der Al Shabaab gezwungen worden, einen Mann zu behandeln, der in der Folge verstorben sei. Da er von der Al Shabaab für den Tod dieses Mannes verantwortlich gemacht worden sei, habe ihm Verfolgung gedroht, weshalb er geflüchtet sei.
2 Mit Bescheid vom 8. Jänner 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des Mitbeteiligten zur Gänze ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Somalia zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.
3 Begründend führte das BFA aus, das Fluchtvorbringen des Mitbeteiligten sei nicht glaubhaft. Dem Mitbeteiligten, der ein Medizinstudium absolviert habe, stehe unter Berücksichtigung der näher festgestellten Sicherheits- und Versorgungslage eine Rückkehr in die Stadt Hargeysa ohne Verletzung seiner Rechte nach Art. 3 EMRK offen.
4 Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) der dagegen erhobenen Beschwerde des Mitbeteiligten nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung Folge, erkannte dem Mitbeteiligten den Status des Asylberechtigten zu und stellte fest, dass ihm kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme. Die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG erklärte das BVwG für nicht zulässig.
5 Das BVwG stellte fest, der Mitbeteiligte sei im Jahr 1993 in der Stadt Qoryoley geboren worden. Im Alter von drei Jahren sei er von seiner Familie zu seiner Großmutter in die Stadt Hargeysa gebracht worden. Dort habe er zunächst bei seiner Großmutter und in der Folge in einer eigenen Mietwohnung gelebt. In den Jahren von 2009 bis 2015 habe er in Hargeysa Medizin studiert und daneben in einem Krankenhaus gearbeitet. Im Oktober 2015 habe er Hargeysa verlassen und sei nach Qoryoley übersiedelt.
6 In Qoryoley habe er in einer Apotheke zu arbeiten begonnen. Dort habe er ein Mitglied der Al Shabaab behandelt, das in der Folge verstorben sei. Die Al Shabaab habe den Mitbeteiligten für den Tod ihres Mitgliedes verantwortlich gemacht, weshalb der Mitbeteiligte im Dezember 2015 geflüchtet sei. Aufgrund dieses Vorfalls drohe ihm mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit, bei einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat durch die Al Shabaab misshandelt oder getötet zu werden. Die somalischen Sicherheitskräfte könnten ihm gegen diese Bedrohung keinen Schutz verschaffen.
7 Der Vater des Mitbeteiligten sei verstorben. Seine Mutter und mehrere Geschwister lebten als Flüchtlinge in Äthiopien. Zwei seiner Schwestern seien von der Al Shabaab verschleppt worden. Er habe keinen Kontakt zu Familienangehörigen in Somalia.
8 Zur Versorgungslage und den allgemeinen Lebensumständen der Bevölkerung in Somalia traf das BVwG keine Feststellungen. Zur Sicherheitslage stellte es auf der Grundlage von Länderberichten auszugsweise fest:
„Seit 2011 wurden die militärischen Kapazitäten der al Shabaab durch AMISOM und somalische Kräfte sowie durch innere Streitigkeiten beachtlich dezimiert. Die al Shabaab stellt aber weiterhin eine potente Bedrohung dar. (...) Die Regionalhauptstadt Buale (Middle Juba) sowie die Bezirkshauptstädte Saakow, Jilib (Middle Juba), Jamaame (Lower Juba), Sablaale, Kurtunwaarey (Lower Shabelle), Diinsoor (Bay), Tayeeglow (Bakool), Ceel Buur, Ceel Dheere (Galgaduud) befinden sich unter Kontrolle der al Shabaab. Alle anderen Regional- und Bezirkshauptstädte werden von Anti-al-Shabaab-Truppen gehalten. (...) In ihrem Gebiet hält al Shabaab vor allem in Städten und größeren Dörfern eine permanente Präsenz aufrecht. Abseits davon operiert al Shabaab in kleinen, mobilen Gruppen. Die Gruppe verfügt nicht nur über Kämpfer und Agenten, sie kann auch auf Sympathisanten zurückgreifen. Nominell ist die Reichweite der al Shabaab in Süd-/Zentralsomalia damit unbegrenzt. Sie ist in den meisten Landesteilen offen oder verdeckt präsent. Die Gruppe ist in der Lage, überall zuschlagen zu können. (...)
Generell stellen in erster Linie AMISOM und nationale sowie regionale Behördenvertreter Ziele für Angriffe der al Shabaab dar. Neben AMISOM und Sicherheitskräften wird al Shabaab auch weiterhin Zivilisten gezielt angreifen, darunter: die somalische Regierung, Parlamentarier und Offizielle; Regierungsbedienstete, mit der Regierung in Verbindung gebrachte Zivilisten; Angestellte von NGOs und internationalen Organisationen; Wirtschaftstreibende; Älteste und deren Angehörige; diplomatische Missionen; prominente Friedensaktivisten und Gemeindeführer; Journalisten; mutmaßliche Kollaborateure und Spione; Deserteure sowie Personen, die am letzten Wahlprozess mitgewirkt haben; Personen all dieser Kategorien werden insbesondere dann zum Ziel, wenn sie keine Steuern an al Shabaab abführen. (...)
Auch wenn al Shabaab einige Menschen in Somalia als ‚legitime Ziele‘ erachtet, so gilt dies für die meisten Zivilisten nicht. Dass normale Zivilisten in von der Regierung und AMISOM kontrollierten Gebieten zum Ziel der al Shabaab werden, ist unwahrscheinlich. Auch ‚low level‘-Ziele (z.B. lokale Mitarbeiter von internationalen oder nationalen NGOs) sind keine Priorität der al Shabaab, sie werden nicht generell angegriffen. Andererseits können high profile Personen, die etwa die Regierung oder die internationale Gemeinschaft repräsentieren, einem hohen Risiko ausgesetzt sein. Zivilisten, die nicht in eine der weiter oben genannten Kategorien fallen, stellen für al Shabaab kein legitimes Ziel dar. Dies gilt auch für Rückkehrer aus der Diaspora. Es gibt keine Berichte, wonach al Shabaab normale Zivilisten - oder auch Rückkehrer aus dem Westen - systematisch angreifen würde. (...)
Aufgrund der überregionalen Aktivitäten und der Vernetzung des Amniyad sind - vor allem prominente - Zielpersonen auch bei einer innerstaatlichen Flucht gefährdet. (...) Innerstaatliche Fluchtalternativen bestehen für einen Teil der somalischen Bevölkerung mit Sicherheit. Üblicherweise genießen Somalis den Schutz ihres eigenen Clans, weshalb man davon ausgehen kann, dass sie in Gebieten, in denen ihr Clan Einfluss genießt, grundsätzlich in Sicherheit sind. (...) Jene Personen, die nicht höherrangig (high profile) sind, und in ländlichen Gegenden unter dem Einfluss der al Shabaab leben, können in Städten, wo al Shabaab keinen Einfluss hat, eine interne Relokation wahrnehmen. (...)“
9 Im Zuge der Beweiswürdigung führte das Bundesverwaltungsgericht aus, der Mitbeteiligte habe eine Bedrohung durch die Al Shabaab glaubwürdig geschildert. Auch seien - vor dem Hintergrund vorgelegter Unterlagen - die Angaben des Mitbeteiligten glaubwürdig, dass er an der Universität Hargeysa bis zum Jahr 2015 Medizin studiert habe. Da jedoch eine Anfrage der Staatendokumentation ergeben habe, dass es keine Absolventen an dieser Universität gegeben habe, die dem Clan der Madhibaan angehörten, und es für Mitglieder des Clans der Madhibaan nach den tatsächlichen Verhältnissen auch unmöglich sei, im dortigen Krankenhaus zu arbeiten, könne es nicht als glaubwürdig angesehen werden, dass der Mitbeteiligte - wie von ihm angegeben - ein Madhibaan wäre, er in Hargeysa aufgrund einer Beziehung mit einer Angehörigen eines anderen Clans Probleme gehabt hätte bzw. er aus Hargeysa hätte flüchten müssen.
10 In seiner rechtlichen Beurteilung führte das BVwG aus, der Verfolgung durch die Al Shabaab komme Asylrelevanz zu, weil dem Mitbeteiligten durch diese Organisation eine politische Gesinnung zumindest unterstellt worden sei. Es handle sich um eine Verfolgung durch eine private Organisation, vor der der somalische Staat keinen Schutz gewähren könne. Der Mitbeteiligte habe in Somalia keine „familiären und sozialen Anknüpfungspunkte“ mehr, die die „Annahme einer zumutbaren Existenzgrundlage“ rechtfertigen könnten. Eine „Inanspruchnahme finanzieller Unterstützung durch Familienangehörige“ sei ihm in „anderen Landesteilen“ nach seinen glaubwürdigen Angaben nämlich nicht möglich. Es könne daher nicht angenommen werden, dass der Mitbeteiligte sich in seinem Herkunftsstaat „in einer anderen Region“ niederlassen könnte.
11 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen dieses Erkenntnis erhobene Amtsrevision nach Einleitung des Vorverfahrens, in dem der Mitbeteiligte eine Revisionsbeantwortung erstattet hat, erwogen:
12 Die Amtsrevision macht zur Zulässigkeit und Begründung im Wesentlichen geltend, das BVwG hätte sich damit auseinandersetzen müssen, wo sich die Heimatregion des Mitbeteiligten befinde. Unter Beachtung, dass er den größten Teil seines Lebens in Hargeysa verbracht habe, sei es naheliegend, dass diese Stadt seine Heimatregion sei. Davon ausgehend wäre zu prüfen gewesen, ob dem Mitbeteiligten auch in Hargeysa eine Verfolgung drohe, wovon jedoch nach den Feststellungen nicht auszugehen sei. Unabhängig davon, welche Stadt Heimatregion des Mitbeteiligten sei, habe das BVwG eine ausreichende Auseinandersetzung mit dem Bestehen einer innerstaatlichen Fluchtalternative unterlassen und sei insoweit von (näher genannter) Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen.
13 Die Revision ist zulässig und berechtigt.
Allgemeine Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten
14 Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 AsylG 2005 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.
15 Kann Asylwerbern in einem Teil ihres Herkunftsstaates vom Staat oder sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet werden, und kann ihnen der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden, so ist gemäß § 11 Abs. 1 AsylG 2005 der Antrag auf internationalen Schutz abzuweisen (Innerstaatliche Fluchtalternative). Schutz ist nach dieser Bestimmung gewährleistet, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates keine wohlbegründete Furcht nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention vorliegen kann und die Voraussetzungen zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates nicht gegeben sind. Nach § 11 Abs. 2 AsylG 2005 ist bei der Prüfung, ob eine innerstaatliche Fluchtalternative gegeben ist, auf die allgemeinen Gegebenheiten des Herkunftsstaates und auf die persönlichen Umstände der Asylwerber zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag abzustellen.
16 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist zentraler Aspekt der in Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention definierten Verfolgung im Herkunftsstaat die wohlbegründete Furcht davor. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. etwa VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0413, mwN; vgl. zum hinsichtlich der Glaubhaftmachung einer Verfolgungsgefahr anzulegenden Prüfungsmaßstab näher jüngst VwGH 12.3.2020, Ra 2019/01/0472). Für die Asylgewährung kommt es auf die Flüchtlingseigenschaft im Sinn der Genfer Flüchtlingskonvention zum Zeitpunkt der Entscheidung an (vgl. etwa VwGH 27.6.2019, Ra 2018/14/0274, mwN).
17 Mit § 11 AsylG 2005 hat der österreichische Gesetzgeber von der in Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU (Statusrichtlinie) eröffneten Möglichkeit Gebrauch gemacht, dem Asylwerber keinen internationalen Schutz zu gewähren, sofern er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung hat oder keine tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, besteht (lit. a) oder er Zugang zu Schutz vor Verfolgung oder ernsthaftem Schaden gemäß Art. 7 Statusrichtlinie hat (lit. b), und er sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
18 Nach dem klaren Wortlaut legt § 11 AsylG 2005 zwei getrennte und selbständig zu prüfende Voraussetzungen der innerstaatlichen Fluchtalternative fest. Zum einen ist zu klären, ob in dem als innerstaatliche Fluchtalternative ins Auge gefassten Gebiet Schutz vor asylrechtlich relevanter Verfolgung und vor Bedingungen, die nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 die Gewährung von subsidiärem Schutz rechtfertigen würden, gegeben ist. Demgemäß verbietet sich die Annahme, der Schutz eines Asylwerbers sei innerstaatlich zumindest in einem Teilgebiet gewährleistet, jedenfalls dann, wenn in dieser Region Verhältnisse herrschen, die Art. 3 EMRK widersprechen. Zum anderen setzt die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative voraus, dass dem Asylwerber der Aufenthalt in diesem Gebiet zugemutet werden kann (vgl. zum Ganzen VwGH 23.1.2018, Ra 2018/18/0001, mit näheren Ausführungen zu den Grundlagen der innerstaatlichen Fluchtalternative).
19 Das Bestehen einer innerstaatlichen Fluchtalternative nach § 11 Abs. 1 AsylG 2005 ist immer dann zu prüfen, wenn glaubhaft ist, dass einem Asylwerber in der Heimatregion seines Herkunftsstaats Verfolgung im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht (§ 3 Abs. 1 AsylG 2005) bzw. die Voraussetzungen für die Gewährung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 vorliegen (vgl. VwGH 6.11.2018, Ra 2018/01/0106). Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits festgehalten, dass auch bei Asylwerbern, die keine Heimatprovinz haben, eine Prüfung vorzunehmen ist, ob ihnen im Herkunftsstaat eine innerstaatlichen Fluchtalternative offensteht (vgl. VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0221). Liegen dagegen bereits hinsichtlich der Heimatregion eines Asylwerbers weder die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten nach § 3 Abs. 1 AsylG 2005 noch des Status eines subsidiär Schutzberechtigten nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 vor, ist der Antrag auf internationalen Schutz schon deshalb abzuweisen und kommt es auf das Vorliegen einer innerstaatliche Fluchtalternative nach § 11 Abs. 1 AsylG 2005 nicht mehr an (vgl. idS etwa VwGH 5.11.2019, Ra 2018/01/0188, mwN).
20 Die Revision zeigt zutreffend auf, dass im vorliegenden Fall eine Auseinandersetzung damit erforderlich gewesen wäre, wo sich die Heimatregion des Mitbeteiligten befindet, um auf dieser Grundlage prüfen zu können, ob dem Mitbeteiligten dort mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung durch die Al Shabaab droht. Im Weiteren wird auch die Auseinandersetzung des BVwG mit dem Vorliegen einer innerstaatlichen Fluchtalternative den in der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes dargestellten Anforderungen nicht gerecht.
Verfolgung in der Heimatregion
21 Nach den Ausführungen des BVwG - denen auch die Revision nicht entgegentritt - droht dem Mitbeteiligten aufgrund der näher geschilderten Vorfälle, die sich in der Stadt Qoryoley ereignet haben, eine asylrelevante Verfolgung durch die Al Shabaab. Das BVwG ging damit erkennbar davon aus, dass diese Stadt die Heimatregion des Mitbeteiligten ist. Hinsichtlich der Sicherheitslage hat das BVwG festgestellt, dass Personen durch einen Wechsel des Wohnortes in nicht von der Al Shabaab kontrollierte Gebiete, Schutz vor einer Bedrohung durch diese Organisation finden können, soweit sie nicht aufgrund ihrer Prominenz bzw. ihrer Eigenschaft als „höherrangige (high profile)“ Ziele oder aufgrund näher genannter persönlicher Risikoprofile gefährdet sind. Dass der Mitbeteiligte derartige persönliche Eigenschaften, die eine Bedrohung im gesamten Land begründen könnten, aufweisen würde, ergibt sich aus dem angefochtenen Erkenntnis nicht. Damit in Übereinstimmung hat das Bundesverwaltungsgericht - mag eine ausdrückliche Auseinandersetzung mit der Bedrohung des Mitbeteiligten durch die al Shabaab außerhalb der Stadt Qoryoley auch unterblieben sein - eine Niederlassung in einer „anderen Region“ nicht aufgrund einer drohenden Verfolgung, sondern lediglich aufgrund einer dort fehlenden „zumutbaren Existenzgrundlage“ nicht als möglich erachtet.
22 Dem Konzept der innerstaatlichen Fluchtalternative liegt der subsidiäre Charakter des internationalen Schutzes zugrunde, wonach ein Asylwerber dann nicht als schutzbedürftig anzusehen ist, wenn für ihn die Möglichkeit besteht, in einem Teil seines Herkunftsstaates Schutz zu finden. Es beruht auf einer Unterscheidung zwischen der Heimatregion eines Asylwerbers und einem anderen Teil des Herkunftslandes und spiegelt den Umstand wieder, dass ein Asylwerber, der nicht in seine Heimatregion zurückkehren kann, in der Regel in einem Gebiet einer vorgeschlagenen innerstaatlichen Fluchtalternative nicht über dieselben finanziellen und infrastrukturellen Ressourcen sowie lokale Kenntnisse und soziale Netzwerke verfügen wird, wie an seinem Heimatort und somit eine zusätzliche Prüfung stattzufinden hat, ob die Ansiedelung in dem vorgeschlagenen Gebiet auch zumutbar ist (vgl. nochmals VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0221).
23 Zur Bestimmung der Heimatregion kommt in diesem Sinn der Frage maßgebliche Bedeutung zu, wie stark die Bindungen des Asylwerbers an ein bestimmtes Gebiet sind. Hat er vor seiner Ausreise aus dem Herkunftsland nicht mehr in dem Gebiet gelebt, in dem er geboren wurde und aufgewachsen ist, ist der neue Aufenthaltsort als Heimatregion anzusehen, soweit der Asylwerber zu diesem Gebiet enge Bindungen entwickelt hat (vgl. EASO, Richterliche Analyse, Voraussetzungen für die Zuerkennung internationalen Schutzes [2018], 83; vgl. idS auch VwGH 27.6.2016, Ra 2016/18/0055).
24 In seiner Rechtsprechung zur Rechtslage nach dem AsylG 1997 hat der Verwaltungsgerichtshof in Fällen, in denen Asylwerber nicht aufgrund eines eigenen Entschlusses, sondern unter Zwang aufgrund einer Vertreibung ihren dauernden Aufenthaltsort innerhalb des Herkunftsstaates gewechselt hatten und an dem neuen Aufenthaltsort nicht Fuß fassen konnten (Zustand innerer Vertreibung), den ursprünglichen Aufenthaltsort als Heimatregion angesehen (vgl. VwGH 28.6.2005, 2002/01/0414; 26.1.2006, 2005/01/0057; 13.10.2006, 2006/01/0125). Eine nähere Auseinandersetzung mit diesen Konstellationen kann im vorliegenden Fall unterbleiben, weil nach den disloziert im Rahmen der Beweiswürdigung getroffenen Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts der Wechsel des Wohnortes des Mitbeteiligten von Hargeysa nach Qoryoley freiwillig erfolgt ist.
25 Zur Beantwortung der Frage, wo sich die Heimatregion des Mitbeteiligten befindet, hätte es somit einer Auseinandersetzung damit bedurft, welche Bindungen der Mitbeteiligte zu den Städten Hargeysa und Qoryoley - etwa in Hinblick auf familiäre und sonstige soziale Kontakte und örtliche Kenntnisse - aufweist. Die getroffenen Feststellungen sind vor dem Hintergrund, dass der Mitbeteiligte bzw. seine Familie einerseits zwar ursprünglich aus Qoryoley stammen und der Mitbeteiligte dort zuletzt für etwa zwei Monate gewohnt und gearbeitet hat, andererseits der Mitbeteiligte aber den ganz überwiegenden Teil seines Lebens in Hargeysa verbracht hat, für die Beurteilung nicht ausreichend. Sollte Hargeysa - und nicht wie vom BVwG erkennbar angenommen Qoryoley - Heimatregion des Mitbeteiligten sein, wäre eine Auseinandersetzung damit erforderlich gewesen, ob der Mitbeteiligte aufgrund der Vorfälle, die sich in Qoryoley ereignet haben, zum Entscheidungszeitpunkt mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit auch in Hargeysa einer Verfolgung durch die Al Shabaab ausgesetzt wäre.
Bestehen einer innerstaatlichen Fluchtalternative
26 Hinsichtlich der bei Bejahung einer Verfolgung in der Heimatregion anzustellenden Prüfung einer innerstaatlichen Fluchtalternative hat zunächst die Frage der Sicherheit des Asylwerbers in dem als innerstaatliche Fluchtalternative geprüften Gebiet des Herkunftsstaates wesentliche Bedeutung (vgl. VwGH 25.6.2019, Ra 2018/19/0546, mwN). Es muss mit ausreichender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden können, dass der Asylwerber in diesem Gebiet Schutz vor asylrechtlich relevanter Verfolgung und vor Bedingungen, die nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 die Gewährung von subsidiärem Schutz rechtfertigen würden, findet (vgl. VwGH 13.2.2020, Ra 2019/01/0005, mwN).
27 Im Sinn des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ist von einem realen Risiko einer Verletzung der durch Art. 2 oder 3 EMRK garantierten Rechte oder von einer ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Person infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts auszugehen, wenn stichhaltige Gründe für eine derartige Gefährdung sprechen. Herrscht im Herkunftsstaat eines Asylwerbers eine prekäre allgemeine Sicherheitslage, in der die Bevölkerung durch Akte willkürlicher Gewalt betroffen ist, so liegen stichhaltige Gründe für die Annahme eines realen Risikos bzw. für die ernsthafte Bedrohung von Leben oder Unversehrtheit eines Asylwerbers bei Rückführung in diesen Staat dann vor, wenn diese Gewalt ein solches Ausmaß erreicht hat, dass es nicht bloß möglich, sondern geradezu wahrscheinlich erscheint, dass auch der betreffende Asylwerber tatsächlich Opfer eines solchen Gewaltaktes sein wird. Davon kann in einer Situation allgemeiner Gewalt nur in sehr extremen Fällen ausgegangen werden, wenn schon die bloße Anwesenheit einer Person in der betroffenen Region Derartiges erwarten lässt. Davon abgesehen können aber besondere in der persönlichen Situation der oder des Betroffenen begründete Umstände (Gefährdungsmomente) dazu führen, dass gerade bei ihr oder ihm ein - im Vergleich zur Bevölkerung des Herkunftsstaates im Allgemeinen - höheres Risiko besteht, einer dem Art. 2 oder 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein bzw. eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit befürchten zu müssen. In diesem Fall kann das reale Risiko der Verletzung von Art. 2 oder 3 EMRK oder eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Person infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts bereits in der Kombination der prekären Sicherheitslage und der besonderen Gefährdungsmomente für die einzelne Person begründet liegen (vgl. etwa VwGH 26.2.2020, Ra 2019/18/0486, mwN).
28 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kann eine Verbringung in eine Region insbesondere auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten und damit die Voraussetzungen der Gewährung von subsidiärem Schutz nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 begründen, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK reicht nicht aus. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen (vgl. VwGH 31.10.2019, Ra 2019/20/0309; 17.9.2019, Ra 2019/14/0160; jeweils mwN).
29 Kann mit ausreichender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass der Asylwerber in dem als innerstaatliche Fluchtalternative geprüften Gebiet Schutz vor asylrechtlich relevanter Verfolgung und vor Bedingungen, die nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 die Gewährung von subsidiärem Schutz rechtfertigten, findet, wird ihm unter dem Aspekt der Sicherheit regelmäßig auch die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative zuzumuten sein. Um von einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative sprechen zu können, reicht es aber nicht aus, dem Asylwerber entgegen zu halten, dass er in diesem Gebiet keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erwarten hat. Es muss ihm vielmehr möglich sein, im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können (vgl. VwGH 17.9.2019, Ra 2019/14/0160, mwN). Es handelt sich somit bei der „Zumutbarkeit“ um ein eigenständiges Kriterium, dem neben der Prüfung nach Art. 3 EMRK Raum gelassen wird (vgl. nochmals VwGH 13.2.2020, Ra 2019/01/0005, mwN).
30 Eine schwierige Lebenssituation, insbesondere bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht, die ein Fremder im Fall der Rückkehr in sein Heimatland vorfinden würde, reicht nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes für sich betrachtet allerdings nicht aus, um die Verletzung des nach Art. 3 EMRK geschützten Rechts mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit annehmen zu können oder um die Zumutbarkeit einer innerstaatliche Fluchtalternativen zu verneinen (vgl. etwa VwGH 31.10.2019, Ra 2019/20/0309, mwN; sowie nochmals VwGH Ra 2018/18/0001). Wird von der Behörde nach entsprechender Prüfung die Zumutbarkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Bezug auf ein Gebiet allgemein bejaht, so obliegt es dem Asylwerber, besondere Umstände aufzuzeigen, die gegen die Zumutbarkeit sprechen (vgl. VwGH 17.9.2019, Ra 2019/14/0160, mwN).
31 Zur Beurteilung der Kriterien der innerstaatlichen Fluchtalternative ist daher eine Auseinandersetzung mit den allgemeinen Gegebenheiten im Herkunftsstaat und den persönlichen Umständen des Asylwerbers vorzunehmen. Es handelt sich letztlich um eine Entscheidung im Einzelfall, die auf der Grundlage ausreichender Feststellungen über die zu erwartende Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit getroffen werden muss (vgl. etwa VwGH 11.3.2020, Ra 2019/18/0443, mwN).
32 Seine Annahme, der Mitbeteiligte könne sich in Somalia nicht „in einer anderen Region“ niederlassen, stützte das BVwG auf das Fehlen einer „zumutbaren Existenzgrundlage“. Damit ist im Sinn der wiedergegeben Judikatur die Frage angesprochen, ob dem Mitbeteiligten in den in Frage kommenden Orten in Hinblick auf seine zu erwartenden Lebensumstände unter dem Gesichtspunkt einer möglichen Verletzung seiner Rechte nach Art. 3 EMRK bzw. des Kriteriums der Zumutbarkeit eine innerstaatlichen Fluchtalternative nach § 11 Abs. 1 AsylG 2005 zur Verfügung steht. Für diese Beurteilung wäre es aber erforderlich gewesen, Feststellungen zur Versorgungslage bzw. den Lebensumständen in Somalia allgemein, zumindest aber in den als innerstaatliche Fluchtalternative in Betracht kommenden Orten zu treffen. Dazu hat das BVwG jegliche Ausführungen unterlassen. Die dislozierte Feststellung in der rechtlichen Beurteilung, wonach der Mitbeteiligte keine „finanzielle Unterstützung“ durch Familienangehörige zu erwarten habe, kann eine solche Auseinandersetzung nicht ersetzen. Das Fehlen eines familiären Netzwerkes, von dem Hilfe zu erwarten ist, kann zwar - wie andere persönlichen Umstände - bei Beurteilung des Vorliegens einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative allenfalls Bedeutung erlangen. Das BVwG hätte sich aber auch damit beschäftigen müssen, ob der Mitbeteiligte, der in Somalia Medizin studiert hat und über Berufserfahrung verfügt, sich durch eigene Erwerbstätigkeit - allenfalls auch mit begleitender Unterstützung von staatlichen und nichtstaatlichen Stellen (etwa seines Clans) - den erforderlichen Lebensunterhalt sichern und dadurch eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative im dargestellten Sinn finden könnte.
Ergebnis
33 Dem Verwaltungsgerichtshof ist es somit nicht möglich, die Annahmen des BVwG zu überprüfen, wo die Heimatregion des Mitbeteiligten liege, ob ihm dort asylrelevante Verfolgung drohe und ob ihm keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung stehe.
34 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
Wien, am 25. Mai 2020
Schlagworte
Gemeinschaftsrecht Richtlinie EURallg4European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019190192.L00Im RIS seit
08.07.2020Zuletzt aktualisiert am
14.07.2020