TE Vwgh Erkenntnis 2020/6/4 Ra 2019/15/0117

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Veröffentlicht am 04.06.2020
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Index

32/01 Finanzverfahren allgemeines Abgabenrecht

Norm

BAO §236

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zorn und die Hofrätin Dr. Büsser sowie die Hofräte MMag. Maislinger, Mag. Novak und Dr. Sutter als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Engenhart, über die Revision des Finanzamtes Graz-Stadt in 8010 Graz, Conrad von Hötzendorfstraße 14-18, gegen das Erkenntnis des Bundesfinanzgerichts vom 18. Juli 2019, Zl. RV/2100561/2019, betreffend Abgabennachsicht (mitbeteiligte Partei: Dr. H H in G, vertreten durch die BDO Steiermark GmbH, Wirtschaftsprüfungs- und Steuerberatungsgesellschaft in 8010 Graz, Schubertstraße 62), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1        Der Mitbeteiligte erzielte in den Jahren 2009 bis 2012 Umsätze aus der Tätigkeit als Facharzt für Plastische, Ästhetische und Rekonstruktive Chirurgie, welche er zur Gänze als gemäß § 6 Abs. 1 Z 19 UStG 1994 steuerfrei behandelte.

2        Im Zuge einer Außenprüfung stellte das Finanzamt fest, dass bei einem Teil der Operationen und Behandlungen eine medizinische Indikation gefehlt habe bzw. ein therapeutisches Ziel nicht im Vordergrund gestanden sei, weshalb die Umsatzsteuerbefreiung in diesem Umfang zu versagen sei. Aufgrund einer gegen die geänderten Umsatzsteuerbescheide 2009 bis 2012 erhobenen Beschwerde änderte das Bundesfinanzgericht die angefochtenen Bescheide insoweit zu Gunsten des Mitbeteiligten ab, als die „Umsätze ohne medizinische Indikation“ in geringerer Höhe geschätzt wurden. Dadurch ergaben sich Nachforderungsbeträge an Umsatzsteuer für die genannten Jahre in Höhe von insgesamt 73.811,10 €.

3        Mit Schreiben vom 10. April 2018 beantragte der Mitbeteiligte die Nachsicht der genannten Beträge „gegebenenfalls“ unter Anrechnung der Vorteile aus zwischenzeitig bescheidmäßig vorgenommenen Einkommensteuerkorrekturen. Begründend verwies der Mitbeteiligte auf die Umsatzsteuerrichtlinien in der Fassung des Wartungserlasses vom 25. November 2008, welche in Rz. 942 vorgesehen hätten, dass zur Tätigkeit als Arzt auch ästhetisch-plastische Leistungen gehörten, soweit ein therapeutisches Ziel im Vordergrund stehe, wobei die Beurteilung des Vorliegens dieser Voraussetzungen dem behandelnden Arzt obliege. Da der Mitbeteiligte die Erbringung von Leistungen abgelehnt habe, bei denen das therapeutische Ziel seiner Ansicht nach nicht im Vordergrund gestanden wäre, seien die Umsätze zu Recht zur Gänze als steuerfrei behandelt worden. Zudem habe der Verwaltungsgerichtshof im Erkenntnis vom 13. September 2017, Ro 2017/13/0015, zu einem annähernd gleich gelagerten Fall entschieden, dass § 6 Abs. 1 Z 19 UStG 1994 vor dem AbgÄG 2012 im Sinne der Rechtsansicht des Mitbeteiligten auszulegen sei.

4        Das Finanzamt wies das Nachsichtansuchen ab, wogegen der Mitbeteiligte unter Wiederholung seines bisherigen Vorbringens Beschwerde erhob.

5        Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das Bundesfinanzgericht (nach abweisender Beschwerdevorentscheidung des Finanzamts und Vorlageantrag des Mitbeteiligten) der Beschwerde Folge, indem die Nachforderungsbeträge an Umsatzsteuer der Jahre 2009 bis 2012 durch Abschreibung nachgesehen wurden. Eine Anrechnung der Vorteile aus „Einkommensteuerkorrekturen“ erfolgte nicht.

6        Begründend führte das Bundesfinanzgericht aus, mit Urteil vom 21. März 2013, C-91/12, PFC Clinic, habe der EuGH klargestellt, dass Leistungen, soweit sie dazu dienten, Personen zu behandeln oder zu heilen, bei denen aufgrund einer Krankheit, Verletzung oder eines angeborenen körperlichen Mangels ein Eingriff ästhetischer Natur erforderlich sei, unter die Begriffe „ärztliche Heilbehandlungen“ oder „Heilbehandlungen“ iSd Art. 132 Abs. 1 Buchst. b oder Art. 132 Abs. 1 Buchst. c Mehrwertsteuerrichtlinie 2006/112/EG fallen könnten. Eingriffe zu rein kosmetischen Zwecken seien von diesen Begriffen nicht erfasst. Der Verwaltungsgerichtshof habe dazu mit Erkenntnis vom 13. September 2017, Ro 2017/13/0015, ausgeführt, dass im österreichischen Umsatzsteuersteuergesetz bis zum AbgÄG 2012 das Erfordernis des Vorliegens einer „Heilbehandlung“ nicht normiert gewesen sei. § 6 Abs. 1 Z 19 UStG 1994 habe vielmehr alle „Umsätze aus der Tätigkeit als Arzt“ steuerfrei gestellt. In der Tätigkeit einer plastischen Chirurgin keine „Tätigkeit als Arzt“ zu sehen, wenn der Leidensdruck des Patienten im Einzelfall nicht den Grad eines „Problems psychologischer Art“ erreiche, überschreite den Spielraum einer richtlinienkonformen Auslegung und würde im Ergebnis die unmittelbare Anwendung der nicht umgesetzten zusätzlichen Voraussetzung der Mehrwertsteuerrichtlinie bedeuten, was jedoch nur zugunsten des Abgabepflichtigen in Betracht komme.

7        Eine Auseinandersetzung mit Rz. 942 der Umsatzsteuerrichtlinien 2000 könne unterbleiben, weil § 3 Abs. 2 lit. b der Verordnung BGBl. II Nr. 435/2005 im Revisionsfall nicht anwendbar sei, da diese Regelung von einer rechtmäßigen Geltendmachung eines materiell-rechtlich bestehenden Abgabenanspruchs ausgehe, gegenständlich aber materiell-rechtlich gar kein Abgabenanspruch bestanden hätte. Eine Nachsichtsgewährung sei jedoch nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs nicht auf die in der genannten Verordnung aufgezählten Fälle beschränkt (Hinweis auf VwGH 21.9.2016, 2013/13/0097). Wie sich aus dem Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs vom 23.6.1961, 0346/59, ergebe, könne eine Unbilligkeit unter Umständen auch dann vorliegen, wenn es der Steuerpflichtige unterlassen habe, ein Rechtsmittel bzw. einen Rechtsbehelf gegen die unrechtmäßige Geltendmachung eines Abgabenanspruches zu erheben, wobei es entscheidend darauf ankomme, aus welchen Gründen die Erhebung eines Rechtsmittels unterblieben sei. Im Revisionsfall habe der Mitbeteiligte nach Erörterung der Sach- und Rechtslage die Entscheidung des Bundesfinanzgerichts wohl auch unter Rücksichtnahme auf bestehende Nachweisschwierigkeiten hingenommen, ohne eine außerordentliche Revision zu erheben. Drei Monate nach der Entscheidung des Bundesfinanzgerichts habe der Verwaltungsgerichtshof in einem anderen Fall zu Recht erkannt, dass die Befreiungsbestimmung des § 6 Abs. 1 Z 19 UStG 1994 in der bis zum AbgÄG 2012 geltenden Fassung ohne weiteres auf die plastisch-chirurgische Tätigkeit anzuwenden sei. Somit seien dem Mitbeteiligten die gegenständlichen Umsatzsteuernachforderungen mangels eines materiell-rechtlichen Anspruchs unrechtmäßig vorgeschrieben worden. Es stehe außer Zweifel, dass es unbillig wäre, von einem Abgabepflichtigen, dem eine Abgabe unrechtmäßig vorgeschrieben worden sei, die Entrichtung dieser Abgabe zu verlangen. Der angefochtene Bescheid des Finanzamtes sei daher in der Weise abzuändern, dass die gegenständlichen Umsatzsteuernachforderungen in Höhe von insgesamt 73.811,10 € zur Gänze durch Abschreibung nachgesehen werden.

8        Eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof wurde unter Wiedergabe des Gesetzestextes des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zugelassen.

9        Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die außerordentliche Revision des Finanzamts. In seiner Revisionsbeantwortung beantragte der Mitbeteiligte, die Revision als unbegründet abzuweisen.

10       Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

11       Zur Zulässigkeit der Revision macht das revisionswerbende Finanzamt geltend, das angefochtene Erkenntnis weiche von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, wonach die inhaltliche Richtigkeit des Abgabenbescheides für die Bewilligung der Nachsicht grundsätzlich nicht von Bedeutung sei (Hinweis auf VwGH 19.3.1998, 96/15/0067, mwN).

12       Die Revision ist aus dem geltend gemachten Grund zulässig. Sie ist auch begründet.

13       Fällige Abgabenschuldigkeiten können gemäß § 236 Abs. 1 BAO auf Antrag des Abgabepflichtigen ganz oder zum Teil durch Abschreibung nachgesehen werden, wenn ihre Einhebung nach der Lage des Falles unbillig wäre. Diese Bestimmung findet gemäß § 236 Abs. 2 BAO auf bereits entrichtete Abgabenschuldigkeiten sinngemäß Anwendung.

14       Die Unbilligkeit im Sinn des § 236 BAO kann persönlicher oder sachlicher Natur sein (vgl. § 1 der zu § 236 BAO ergangenen Verordnung BGBl. II Nr. 435/2005). Das Bundesfinanzgericht hat das Vorliegen sachlicher Unbilligkeit bejaht.

15       Eine sachliche Unbilligkeit ist - unbeschadet der in § 3 der genannten Verordnung beispielsweise aufgezählten Fälle - nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes anzunehmen, wenn im Einzelfall bei Anwendung des Gesetzes aus anderen als aus persönlichen Gründen ein vom Gesetzgeber offenbar nicht beabsichtigtes Ergebnis eintritt, sodass es zu einer anormalen Belastungswirkung und verglichen mit anderen Fällen zu einem atypischen Vermögenseingriff kommt. Der im atypischen Vermögenseingriff gelegene offenbare Widerspruch der Rechtsanwendung zu den vom Gesetzgeber beabsichtigten Ergebnissen muss seine Wurzel in einem außergewöhnlichen Geschehensablauf haben, der auf eine vom Steuerpflichtigen nicht beeinflussbare Weise eine nach dem gewöhnlichen Lauf nicht zu erwartende Abgabenschuld ausgelöst hat, die zudem auch ihrer Höhe nach unproportional zum auslösenden Sachverhalt ist (vgl. etwa VwGH 20.5.2010, 2006/15/0337).

16       Eine Abgabennachsicht gemäß § 236 BAO setzt die Unbilligkeit der Abgabeneinhebung voraus; eine solche kann grundsätzlich nicht damit begründet werden, dass die Abgabenfestsetzung zu Unrecht erfolgt ist. Vielmehr muss die behauptete Unbilligkeit in Umständen liegen, die die Entrichtung der Abgabe selbst betreffen. Im Nachsichtsverfahren können daher nicht Einwände nachgeholt werden, die im Festsetzungsverfahren geltend zu machen gewesen wären (vgl. zusammenfassend mit Hinweisen auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes Stoll, BAO, 2436).

17       Auch in dem vom Bundesfinanzgericht für seine stattgebende Entscheidung ins Treffen geführten (zu einer vergleichbaren Vorgängerbestimmung ergangenen) Erkenntnis vom 23. Juni 1961, 346/59, hat der Verwaltungsgerichtshof eine sachliche Unbilligkeit der Erhebung einer wegen des Unterbleibens der Inanspruchnahme einer Steuerbegünstigung höheren Steuerlast nur ausnahmsweise bei Vorliegen besonderer Umstände für möglich erachtet. Dass das Bundesfinanzgericht dem Mitbeteiligten die Umsatzsteuerbefreiung der streitgegenständlichen ärztlichen Leistungen versagt hat, was sich im Lichte des Erkenntnisses des Verwaltungsgerichtshofes vom 13. September 2017, Ro 2017/13/0015, als rechtswidrig erwies, begründet keine Unbilligkeit der Abgabenerhebung. Ein solches Vorgehen liefe - was auch im angefochtenen Erkenntnis zum Ausdruck gebracht wird - letztlich darauf hinaus, jede Einhebung einer rechtswidrig vorgeschriebenen Abgabe als unbillig zu betrachten.

18       Bei dieser Sach- und Rechtslage kann dahingestellt bleiben, ob das Bundesfinanzgericht mit der gegenständlichen Nachsicht des gesamten Umsatzsteuernachforderungsbetrages zudem über den gestellten Antrag des Mitbeteiligten hinausgegangen ist, indem eine „gegebenenfalls“ vorzunehmende Anrechnung der korrespondierenden Einkommensteuergutschriften unterblieben ist (vgl. zur Antragsgebundenheit der Abgabennachsicht Ritz, BAO6, § 236 Tz 1).

19       Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Wien, am 4. Juni 2020

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019150117.L00

Im RIS seit

22.07.2020

Zuletzt aktualisiert am

22.07.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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