Entscheidungsdatum
10.02.2020Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W161 2217850-1/9E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Monika LASSMANN als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. am XXXX , StA. Afghanistan, gesetzlich vertreten durch das Amt der Tiroler Landesregierung, Abteilung Kinder- und Jugendhilfe, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 22.03.2019, Zl.: 17-1158066210/170756625, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 18.11.2019 zu Recht erkannt:
A)
I. Die Beschwerde wird hinsichtlich des Spruchpunktes I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und es wird XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter bis zum 10.02.2021 erteilt.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der minderjährige Beschwerdeführer (in der Folgenden: BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste in das österreichische Bundesgebiet ein, wo er am 28.06.2017 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.
2. Bei seiner Erstbefragung am selben Tag durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF zusammengefasst an, er sei am XXXX in Nangarhar geboren. Er sei ledig, seine Muttersprache sei Paschtu, er gehöre der Volksgruppe der Paschtunen und der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam an. Er habe neun Klassen der Grundschule in Nangarhar besucht. Berufsausbildung habe er keine. Als Familienangehörige im Herkunftsstaat oder einem anderen Drittstaat gab der BF seine Mutter, einen Bruder und eine Schwester an. Der Vater sei verstorben.
Zu seinem Fluchtgrund gab der BF an, seine Familie habe immer wieder Bedrohungen von den Taliban bekommen. Eines Tages hätten sie auch den Vater getötet, da die Taliban der Meinung gewesen seien, der Vater sein ein amerikanischer Spion. Danach habe ein Freund des Vaters den BF von Afghanistan weggeschickt, weil er um das Leben des BF gefürchtet habe. Bei einer Rückkehr fürchte er um sein Leben und würde er - wie der Vater - von den Taliban getötet werden.
3. Am 07.07.2017 wurde beim BF eine Bestimmung des Knochenalters durchgeführt. Als Ergebnis wurde "Schmeling 3, GP 26" festgehalten.
4. Am 24.01.2019 fand eine niederschriftliche Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) statt.
Der BF gab an, seine Mutter, sein Bruder und seine Schwester seien in Jalalabad aufhältig. Der Vater sei gestorben als er etwa 11 oder 12 Jahre alt gewesen sei. Er sei bis zu seinem 12. Lebensjahr in seinem Heimatdorf ( XXXX in der Provinz Nangarhar) aufhältig gewesen, danach habe er in Jalalabad gelebt. Er habe 9 Jahre lang die Grund- und Koranschule besucht. Sonst habe er keine Ausbildungen. Er spreche Paschtu und Dari. Zu den Lebensumständen seiner Familie gab er an, dass sie ein normales Leben gehabt hätten. Der Vater habe auf fremden Feldern gearbeitet. Sie hätten damit leben können. Nach dem Tod des Vaters habe der Onkel, ein Feldarbeiter, für die Familie gesorgt. Weiters habe er noch zwei Onkel. Besitztümer habe seine Familie nicht, sie hätten ein Mietshaus gehabt. Seine Familie halte sich derzeit in Jalalabad auf, eine genaue Adresse wisse er nicht, er habe nach seiner Einreise noch etwa vier Monate Kontakt gehabt, dann nicht mehr. Er habe keinen Kontakt mehr herstellen können und wisse auch nicht, ob diese noch leben. Er habe auch keine Freunde oder Bekannte in der Heimat. In Afghanistan habe er sich in seinem Heimatdorf und in der Stadt Jalalabad aufgehalten. Den Entschluss zur Ausreise habe der Freund seines Vaters gefasst, dieser habe auch die Schleppung organisiert.
Zu seinen Fluchtgründen befragt, gab der BF wie folgt an:
"Als mein Vater noch lebte, hatten wir ein normales Leben. Die Taliban haben meinem Vater einen Drohbrief geschickt und haben gesagt, dass mein Vater für die Amerikaner spioniert. Mein Vater hat ihnen gesagt, dass er damit nichts zu tun hat. Dann hat mein Vater einen zweiten Drohbrief bekommen. Mein Vater erhielt einen dritten Drohbrief. Danach haben die Taliban ihn getötet. Nach dem Tod meines Vaters war das Leben im Dorf für uns schwierig und unmöglich. Wir mussten dann nach Jalalabad gehen. Das Leben im Dorf war deshalb schwierig, weil die Taliban zu uns nach Hause gekommen sind und gesagt haben, dass sie mich mitnehmen würden und mich ausbilden wollen.
Zirka ein Jahr habe ich in Jalalabad verbracht. Dann hat der Freund meines Vaters meine Flucht organisiert. (Ende der freien Erzählung)
F: Waren das alle Ihre Fluchtgründe?
A: Das Problem war, dass die Taliban mich rekrutieren wollten. Sie haben meiner Mutter gesagt, dass sie mich ausbilden und mich dann in den Jihad mitnehmen wollen."
Nach einer Rückübersetzung gab der BF an, er sei bereits zweimal operiert worden und leide ständig an Kopfschmerzen. Seine Tabletten seien eigentlich für die Nerven, wenn er Stress habe und nicht schlafen könne, nehme er diese und sei danach beruhigt. Er habe auch zwei Anfälle gehabt, es sei Blut aus dem Mund gekommen, er sei bewusstlos gewesen und sei ins Krankenhaus eingeliefert worden.
Zu seinem Fluchtgrund gab er ergänzend an, es sei auch das Leben in Jalalabad nicht einfach gewesen. Er habe das Haus nicht ohne Angst verlassen können. Als er aus seinem Dorf nach Jalalabad gekommen sei, hätten die Taliban den Onkel öfters befragt, wo der BF sei.
Da der BF sichtlich gesundheitlich beeinträchtigt gewirkt habe (Fieber und Halsschmerzen) wurde die Einvernahme in weiterer Folge abgebrochen und am 26.02.2019 an derselben Stelle wieder fortgesetzt.
Dort gab der BF an, Tabletten (Trittico) seit etwa einem Jahr zu nehmen. Er habe weder in der Nacht, noch am Tag schlafen können. Er habe die ganze Zeit Kopfschmerzen und Beschwerden am ganzen Körper gehabt. Die Tabletten helfen ein wenig. Er müsse einmal in der Woche zum Arzt gehen, um zu schauen, ob die Tabletten wirken. Zuerst habe er ein Drittel der Tablette, dann die Hälfte und nunmehr müsse er eine ganze nehmen. Mit den Tabletten könne er schlafen, dann bekomme er Schmerzen am ganzen Körper. Diesbezüglich habe ihm der Arzt Brausetabletten verschrieben.
Nochmals zu seinen Fluchtgründen befragt, gab der BF wie folgt an:
"A: Ich habe meine Probleme alle geschildert und es wurde rückübersetzt, es passt alles.
F: Wann erhielt Ihr Vater den Drohbrief der Taliban?
A: Das weiß ich nicht, wann er diesen bekommen hat. Meine Mutter hat mir dann diese Drohbriefe gezeigt.
F: Wie viele Drohbriefe hat Ihr Vater bekommen?
A: Drei.
F: Was stand in diesen Drohrbriefen?
A: Die Bilder von den Briefen habe ich bei mir, diese kann ich Ihnen zeigen.
F. Woher haben Sie die Bilder von diesen Drohbriefen?
A: Als ich nach Österreich gekommen bin, hatte ich noch Kontakt zu meinem Onkel väterlicherseits. Er hat mir diese Bilder damals geschickt.
Anmerkung: Der AW zeigt die Fotos der Drohbriefe auf seinem Tablet vor.
Anmerkung: Der AW wird ersucht, die Bilder der Drohbriefe mit der schriftlichen Stellungnahme der gesetzlichen Vertreterin mitzusenden.
F: Was stand in diesen Drohbriefen?
A: Ich kann Schreibschrift in Paschtu nicht lesen. Ich kann nur normale Schrift, die ich in der Schule gelernt habe, lesen.
F: Wissen Sie, was in diesen Drohbriefen steht?
A: Ich kann dort nur einzelne Wörter lesen.
F: Haben Sie nicht nachgefragt, was in diesen Briefen steht?
A: Sie haben mir die Briefe geschickt und mir gesagt, dass diese die Taliban geschickt haben.
F: Wann haben Sie davon erfahren, dass die Taliban Ihren Vater per Drohbrief bedroht haben?
A: Nachdem die Taliban meinen Vater getötet haben, hat meine Mutter mir die Briefe gezeigt.
F: Können Sie dies ein wenig zeitlich einordnen, wann Ihr Vater von den Taliban ermordet wurde?
A: Ich musste plötzlich die Heimat verlassen, ich kann die Zeit nicht zuordnen.
F: Haben Sie selbst mitbekommen, wie Ihr Vater von den Taliban ermordet wurde?
A: Nachdem mein Vater von den Taliban getötet wurde, haben wir die Leiche auf den Feldern gefunden.
F: Wohin gingen Sie, als Sie die Leiche Ihres Vaters gefunden haben?
A: Ich bin dann nach Jalalabad gegangen.
F: Sind Sie alleine nach Jalalabad gegangen oder mit Ihrer Familie?
A: Mit meiner Familie.
F: Wo sind Sie in Jalalabad untergekommen?
A: In der Stadt Jalalabad, in der Nähe von XXXX .
F: Wie oft waren die Taliban bei Ihnen zu Hause, um sich nach Ihnen zu erkundigen?
A: Das weiß ich nicht. Diese sind sehr oft gekommen, einmal in der Woche vielleicht.
F. Wie alt waren Sie, als die Taliban angefangen haben, zu Ihnen nach Hause zu kommen?
A: Ca. 12 Jahre alt.
F: Sind diese seit Sie ca. 12 Jahre alt sind jede Woche zu Ihnen nach Hause gekommen?
A: Sind auch einmal in der Woche, oder auch öfter gekommen.
F: Was wollten die Taliban?
A: Sie haben meiner Mutter gesagt, dass meine Mutter mich den Taliban ausliefern soll.
F: Was hat Ihre Mutter daraufhin gesagt?
A: Meine Mutter hat Ihnen nichts Negatives sagen können, sie sagte, dass dies passt. Wenn meine Mutter nein gesagt hätte, hätten die Taliban sie getötet.
F: Wo waren Sie, als die Taliban zu Ihnen nach Hause gekommen wären?
A: Ich war zu Hause.
F: Aus welchem Grund haben die Taliban Sie nicht einfach mitgenommen, wenn Sie und die Taliban bei Ihnen zu Hause waren?
A: Damals sagten die Taliban meiner Mutter, dass ich noch zu jung bin, später, wenn ich groß bin, würden sie mich dann mitnehmen.
F: Haben die Taliban auch mit Ihnen persönlich gesprochen?
A: Nein.
F: Haben Sie persönlich auch Kontakt mit den Taliban gehabt?
A: Ich habe die Taliban beobachtet, aber ich habe mit diesen nicht gesprochen.
F: Wie lange, bevor Sie aus Afghanistan ausgereist sind, sind die Taliban an Ihre Familie herangetreten?
A: Ich kann mich nicht so genau daran erinnern, aber ich glaube, es war eine Woche davor.
F: Sind diese, als Sie in Jalalabad gelebt haben, an Sie herangetreten?
A: Als wir in Jalalabad gelebt haben, haben die Taliban meinen Onkel väterlicherseits angerufen und haben ihm gesagt, dass er mich den Taliban ausliefern soll.
F. Was hat dieser zu den Taliban gesagt?
A: Er konnte gegen sie nichts sagen. Wenn er etwas gegen sie gesagt hätte, hätten Sie meinen Onkel wie meinen Vater getötet.
F: Weshalb reisten Sie genau zu jenem Zeitpunkt der Ausreise aus?
A: zuerst haben wir versucht das Dorf zu verlassen und an einem anderen Ort zu leben. Da ich auch dort bedroht wurde, musste ich Afghanistan verlassen.
F: Wie genau wurden Sie in Jalalabad auch bedroht?
A: Die Taliban haben meinen Onkel angerufen und Drohbriefe geschickt. Sie haben ihn aufgefordert, dass er mich ausliefern soll.
F: Wie oft wurde Ihr Onkel väterlicherseits wegen Ihnen bedroht?
A: Genau weiß ich das nicht, ich glaube vier- bis fünfmal.
F: Hat Ihr Onkel väterlicherseits den Taliban gesagt, wo Sie sich aufhalten?
A: Ich weiß nur, dass die Taliban zu meinem Onkel gesagt haben, dass sie mich finden werden, egal wo ich mich aufhalte.
F: Sind die Taliban nach Ihrer Ausreise weiterhin an Ihren Onkel väterlicherseits herangetreten?
A: Ja, sie haben meinen Onkel mehrmals angerufen und gefragt wo ich sei.
F: Was hat Ihr Onkel daraufhin gesagt?
A: Er hat ihnen nicht geantwortet.
F: Hat dies keine Konsequenzen für Ihren Onkel, wenn dieser den Aufforderungen der Taliban nicht nachkommt?
A: Mein Onkel hat den Taliban gesagt, dass ich nicht zu Hause bin und ich mein Haus verlassen habe und er nicht weiß, wo ich mich aufhalte.
F: Wie genau wurde Ihr Onkel väterlicherseits bedroht?
A: Er wurde telefonisch und er hat auch Drohbriefe bekommen.
F: Wie viele Drohbriefe hat er bekommen?
A: Das weiß ich nicht.
F: Wieso wissen Sie dies nicht?
A: Als ich ihn gefragt habe, hat er gesagt, dass er vier- oder fünfmal bedroht wurde. Das weiß ich.
F. Woher wissen Sie, dass Ihr Onkel per Drohbrief bedroht wurde?
A: Mein Onkel hat meiner Mutter gesagt, dass die Taliban ihm Drohbriefe geschickt haben und ihn auch telefonisch bedroht haben.
F: Sie wissen von Ihrer Mutter, dass Ihr Onkel wegen Ihnen Drohbriefe erhalten hat?
A: Ja."
Zu seinem Leben in Österreich gab der BF an, in die Schule zu gehen und einen Deutschkurs besucht zu haben. Er spiele mit einer Gruppe Volleyball und mache Gymnastik.
Im Zuge der Einvernahmen legte der BF zahlreiche Integrationsunterlagen (Bestätigungen für Deutschkurse A1.1 und A1.2, Teilnahmebestätigungen für Freiwilligentätigkeiten, Schulbesuchsbestätigung für das Schuljahr 2018/19 einer Fachschule für wirtschaftliche Berufe, Empfehlungsschreiben, Unterstützungslisten sowie Fotos) vor.
Weiters brachte der BF folgende medizinischen Unterlagen in Vorlage:
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Vorläufiger Arztbericht eines Bezirkskrankenhauses vom 02.03.2018, wonach beim BF die Diagnose "klinisch phlegmonöse Appendictis" (Blinddarmentzündung) erstellt wurde. Als Therapie wurde eine Blinddarmentfernung am 27.02.2018 angeführt. Der BF wurde am 02.03.2018 beschwerdefrei und in gutem Allgemeinzustand nach Hause entlassen;
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Blutbild;
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Ärztlicher Untersuchungsbefund eines Facharztes für Psychiatrie, Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapeut vom 24.04.2018, wonach beim BF die Diagnosen "F51.0 Insomnie, nichtorganische, F43.1 Posttraumatische Belastungsstörung, G44.2 Spannungskopfschmerz" erstellt wurden. Es wurden weitere neurologische Untersuchungen, das Medikament Trittico, eine Psychotherapie und Verlaufsuntersuchungen empfohlen;
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Arztbericht eines Bezirkskrankenhauses vom 16.03.2018, wonach beim BF die Diagnose "Otserom links rezidivierende Perichondritis" erstellt wurde. Als Therapie wurde "Otseromentlastung links in AN am 15.03.2018" angeführt;
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Kurzarztbrief (stationäre Behandlung vom 01.01.2019), Diagnose:
Belastungsstörung, Therapie: stationäre Aufnahme zur Observation,
Verlauf: Patient im Lauf des stationären Aufenthaltes unauffällig und kann in gutem Allgemeinzustand entlassen werden, Empfohlene
Kontrolle: Dauermedikation mit Trittico weiter wie bisher.
5. Am 11.03.2019 langte eine Stellungnahme der gesetzlichen Vertretung des BF ein. Darin wird im Wesentlichen das Fluchtvorbringen des BF wiederholt und ausgeführt, dass der BF wegen einer posttraumatischen Belastungsstörung - welche sich in Form von Schlaflosigkeit und multiplen körperlichen Beschwerden (wie Kopfschmerzen) äußere - regelmäßig Medikamente einnehme und sich regelmäßigen ärztlichen Kontrollen unterziehen müsse. Dem BF sei Asyl, zumindest aber subsidiärer Schutz zu gewähren. Der minderjährige BF verfüge über keine Berufsausbildung und sei seine Selbsterhaltungsfähigkeit in Zweifel zu ziehen. Wegen seiner Minderjährigkeit und aufgrund seines Gesundheitszustandes sei er besonders vulnerabel und sei er einer Gefahr der Verletzung seiner Recht nach Art. 3 EMRK ausgesetzt. Auch eine IFA sei ausgeschlossen. Weiters wurde auf die Länderinformationen, Berichte zur Lage (Sicherheits- und Versorgungslage und betreffend die medizinische Versorgung) in Afghanistan verwiesen sowie Berichte betreffend die Zwangsrekrutierung durch die Taliban verwiesen.
Der Stellungahme sind drei Fotos (an den Vater gerichtete Drohbriefe) beigefügt.
6. Mit Bescheid vom 22.03.2019 wies das BFA den Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) ab. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 wurde nicht erteilt; gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) wurde eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde eine Frist von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung für die freiwillige Ausreise festgelegt (Spruchpunkt IV.).
Das Bundesamt stellte fest, dass der minderjährige BF afghanischer Staatsangehöriger sei, sich zum islamischen Glauben bekenne und der Volksgruppe der Paschtunen angehöre. Er stamme aus der Provinz Nangarhar. Er leide zwar an gesundheitlichen Beeinträchtigungen, weise aber keine lebensbedrohliche Erkrankung auf. Eine Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit habe nicht festgestellt werden können. Seine Kernfamilie halte sich in Afghanistan auf und er verfüge über Schulbildung.
Die von ihm angegebenen Gründe für das Verlassen des Heimatlandes seien unglaubwürdig. Es habe nicht festgestellt werden können, dass die Taliban an einer Rekrutierung seiner Person interessiert gewesen seien oder die Taliban nach ihm gesucht hätten. Auch habe nicht festgestellt werden können, dass sein Onkel wegen ihm von den Taliban bedroht worden sei.
Beweiswürdigend führte das BFA aus, es sei nicht glaubhaft gewesen, dass die Taliban Interesse an der Person des BF gehabt hätten. Der BF habe laut seinen Angaben erst nach dem Tod des Vaters von den Drohbriefen der Taliban - durch Erzählungen der Mutter - erfahren und seien Erzählungen Dritter einer Wahrheits- bzw. Glaubwürdigkeitsprüfung nicht zugänglich. Hinsichtlich der vorgelegten Fotos der Drohbriefe sei der BF selbst nicht in der Lage gewesen den grundsätzlichen Inhalt dieser Briefe anzugeben, dies obwohl der BF angegeben habe, ein sehr guter Schüler gewesen zu sein. Es sei nicht nachvollziehbar, weshalb der BF nicht in Erfahrung gebracht habe was genau in den Drohbriefen niedergeschrieben sei und hätte er sich den Brief - falls er diesen selbst nicht lesen könne - übersetzen lassen können. Auch sei nicht glaubhaft, dass die Taliban Interesse an einer Rekrutierung des BF gehabt haben. Der BF sei laut seinen Angaben nach dem Tod des Vaters nach Jalalabad gezogen und sei daher nicht glaubwürdig, dass die Taliban seit dem 12. Lebensjahr des BF mindestens einmal die Woche an ihn herangetreten seien. Zudem sei nicht glaubwürdig, dass die Taliban dies auch ohne ernsthafte Sanktionen machen würden. Weiters hab der BF einmal angegeben, die Taliban seien zuletzt eine Woche vor seiner Ausreise an ihn herangetreten, im Widerspruch dazu habe er aber auch angegeben, unverzüglich nach der Entdeckung der Leiche des Vaters das Heimatdorf verlassen zu haben. Auch hinsichtlich der Bedrohung des Onkels habe der BF keine detaillierten Angaben machen können und habe er dies auch nur von seiner Mutter erfahren. Der BF habe sein Vorbringen in der niederschriftlichen Einvernahme auch gesteigert und in der Erstbefragung noch von keiner direkten und konkreten Bedrohung gesprochen.
Betreffend die Nichtzuerkennung des subsidiären Schutzes wurde ausgeführt, dass dem BF eine IFA in Mazar-e Sharif oder Herat zur Verfügung stehe. In Afghanistan seien ausreichende medizinische Behandlungsmöglichkeiten vorhanden und für den BF zugänglich. Laut der eingeholten Anfragebeantwortung (Medikamente gegen psychotische Störung und Depressionen vom 08.06.2017) sei das von ihm benötigte Medikament (Trittico) in den urbanen Städten Kabul, Mazar-e Sharif und Herat erhältlich. Eine grundlegende medizinische Versorgung sei für die Bewohner Afghanistans zugänglich, dies auch für psychische Erkrankungen. Es könne daher nicht festgestellt werden, dass der BF aufgrund seiner psychischen Erkrankung in seinem Heimatland in eine existentielle Notlage geraten würde. Er habe - wenn auch nicht lange - bereits in Herat gelebt. Der BF verfüge in Afghanistan über Angehörige und könne daher Unterstützung bekommen. Er verfüge über eine neunjährige Schulausbildung, sei somit genügend abgesichert und könne für seinen Unterhalt sorgen. Er spreche die Landessprache und sei mit den kulturellen Gepflogenheiten vertraut. Im Falle einer erfolglosen Suche nach einer Unterkunft würden Auffangmöglichkeiten (wie Lager) bestehen, er könne außerdem Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen. Laut der Anfragebeantwortung (Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, Rückkehrhilfe, Unterkünfte) vom 08.08.2018 sei eine spezielle Unterstützung (Rückkehrhilfe und Unterkünfte) für minderjährige Rückkehrer vorhanden. Auch könne der BF als Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen grundsätzlich Hilfe und Unterstützung von anderen Paschtunen erwarten.
7. Der BF erhob gesetzlich vertreten gegen den oben genannten Bescheid fristgerecht Beschwerde, in welcher inhaltliche Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend gemacht wird. Zusammengefasst wird ausgeführt, dass der BF an einer posttraumatischen Belastungsstörung leide, welche sich in Form von chronischen Schlafstörungen und Kopfschmerzen äußere. Der Zustand des BF erfordere die Einnahme des Medikamentes Trittico und befinde er sich laufend in ärztlicher Behandlung. Es sei nicht nachvollziehbar, wie die belangte Behörde zur Ansicht gelange, der BF sei ein "mündiger Volljähriger". Weiters übergehe bzw. ignoriere die Behörde die vom BF vorgelegten Drohbriefe und seien diese inhaltlich im Rahmen der Beweiswürdigung nicht berücksichtigt worden. Das BFA habe auch keine Feststellung zum Inhalt der Briefe getroffen. Die Behörde habe sich willkürlich verhalten und wichtige Ermittlungsschritte unterlassen. Bei angemessener Würdigung der drei vorgelegten Briefe, wäre das BFA zum Schluss gekommen, dass aus diesen die Bedrohung des Vaters durch die Taliban aufgrund dessen ihm fälschlicherweise vorgeworfene Tätigkeit als Spion für die Amerikaner zweifelsfrei hervorgehe. Auch sei die Minderjährigkeit und die Tatsache, dass der BF an einer posttraumatischen Belastungsstörung leide bei der Beweiswürdigung völlig außer Acht gelassen worden. Der BF habe glaubhaft vorgebracht, dass die Taliban wiederholt zum Zwecke der Ankündigung seiner baldigen Rekrutierung bei ihm zu Hause gewesen seien und nach dessen Flucht nach Jalalabad mehrfach bei seinem Onkel nach ihm gefragt und angekündigt hätten, dass sie ihn überall in Afghanistan finden würden. Aus den Angaben des BF gehe auch keinesfalls hervor, dass der BF sofort nach der Ermordung des Vaters nach Jalalabad gegangen und nicht mehr in seinem Heimatdorf verblieben sei. Das BFA gehe auch fälschlicherweise davon aus, dass der BF bereits in Herat gelebt habe. Weiters wurde auf Berichte zur Versorgungslage in Herat und Mazar-e Sharif verwiesen und darauf hingewiesen, dass eine Behandlung von psychischen Erkrankungen nicht in ausreichendem Maße stattfinde. Dem BF sei Asyl, ansonsten subsidiärer Schutz zu gewähren.
8. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 18.11.2019 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an welcher der BF und seine gesetzliche Vertretung teilnahmen. Es wurde ein Dolmetscher für die Sprache Paschtu beigezogen. In der Verhandlung wurden mit dem BF das aktuelle LIB der Staatendokumentation (Stand: 04.06.2019), die UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018 und eine Anfragebeantwortung von ACCORD vom 13.08.2018 (zu den Rekrutierungsmaßnahmen der Taliban) erörtert. Ein Vertreter des BFA nahm an der Verhandlung nicht teil.
In der Verhandlung brachte der BF ein Konvolut an Integrationsunterlagen (Bestätigung über die Verrichtung gemeinnütziger Arbeit, Schulbesuchsbestätigungen und Empfehlungsschreiben) in Vorlage.
Weiters wurde eine - von der gesetzlichen Vertretung verfasste - Stellungnahme vorgebracht. Darin wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der BF in die Risikogruppen von UNHCR falle und er den Taliban bekannt sei. Er habe seine Wertehaltung durch die Flucht aus Afghanistan klar zum Ausdruck gebracht. Für ihn bestehe aufgrund seiner exponierten Stellung und der Verfolgungsreichweite der Taliban keine IFA. Er habe im gesamten Staatsgebiet mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung zu befürchten. Es sei mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass es den Taliban gelingen werde, den BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan zu finden. Es würde sich früher oder später herumsprechen, dass der BF von seiner Flucht zurückgekehrt sei. Lauf einem Bericht von "UK Home Office" sei es für Afghanen sehr schwer ihre Identität zu verschleiern und würde den Taliban der Aufenthaltsort des BF früher oder später bekannt werden. Er würde auch vom afghanischen Staat keinen hinreichenden Schutz bekommen und sei ihm daher Asyl zu gewähren. In eventu sei ihm subsidiärer Schutz zu gewähren, da er Halbwaise sei, er in Afghanistan kaum Schulbildung erhalten habe und auch über keine Berufserfahrung verfüge. Zudem leide er an einer posttraumatischen Belastungsstörung, müsse regelmäßig Medikamente einnehmen und bedürfe ärztlicher Behandlung. Aufgrund dieser Vulnerabilitäten wäre der BF im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan bei der Wohn- und Arbeitssuche stark benachteiligt und würde in eine auswegslose Situation geraten. Er würde auch keine Unterstützung von etwaigen Familienangehörigen erhalten. Mangels geeigneter staatlicher oder sonstiger Einrichtungen für Minderjährige ohne familiäres Netz, werde der BF auf der Straße leben müssen. Die Taliban seien überall präsent und sei die afghanische Regierung nicht fähig die Bevölkerung zu schützen. Weiters wurde auf die Rekorddürre in Herat und Mazar-e Sharif hingewiesen.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des BF:
Der minderjährige BF ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen und bekennt sich zum muslimischen Glauben (Sunnit). Seine Muttersprache ist Paschtu, er spricht auch Dari. Der BF ist nicht verheiratet oder verlobt, er hat keine Kinder.
Der BF ist in Afghanistan in der Provinz Nangarhar in einem kleinen Dorf geboren und aufgewachsen. Er hat dort gemeinsam mit seinen Eltern, seinen Geschwistern und seinem Onkel gelebt. Etwa ein Jahr vor seiner Ausreise hat der BF - gemeinsam mit seiner Mutter und seinen zwei Geschwistern - in der Stadt Jalalabad (Provinz Nangarhar) gelebt.
Der Vater des BF ist bereits vor längerer Zeit verstorben. Es war nicht glaubwürdig, dass der Vater von den Taliban umgebracht wurde.
Der BF ist in Afghanistan neun Jahre lang in die Schule (Koran- und Grundschule) gegangen. Er verfügt über keine Berufsausbildung oder Berufserfahrung.
Der BF kann laut seinen eigenen Angaben schon seit langer Zeit keinen Kontakt mehr zu seinen Familienangehörigen herstellen. Der letzte Kontakt fand vier Monate nach seiner Einreise nach Österreich (etwa Oktober/November 2017) statt. Der BF weiß nicht, ob seine Familienangehörigen noch am Leben sind und kennt auch deren Aufenthaltsorte nicht.
Der BF wurde in Österreich wegen einer Blinddarmentzündung und wegen eines Blutergusses an der Ohrmuschel operiert. Er leidet an Insomnie, einer Posttraumatischen Belastungsstörung und an Spannungskopfschmerzen. Er nimmt das Medikament Trittico ein und benötigt regelmäßige psychiatrische Behandlung bzw. Verlaufskontrollen.
Er ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten und besucht hier die Schule (Fachschule und Aufbaulehrgang für wirtschaftliche Berufe).
1.2. Zu den Fluchtgründen des BF:
Das vom BF ins Treffen geführte Verfolgungsvorbringen kann nicht festgestellt werden.
Es ist nicht glaubwürdig, dass der Vater des BF von den Taliban als amerikanischer Spion bezeichnet wurde, die Taliban dem Vater deshalb Drohbriefe geschickt und die Taliban den Vater deswegen getötet haben. Weiters ist nicht glaubwürdig, dass die Taliban wegen der Vorwürfe gegen den Vater nunmehr auf den BF zurückgreifen und diesen zwangsrekrutieren oder gar töten wollten bzw. dies in Zukunft wollen.
Letztlich ist nicht glaubwürdig, dass die Taliban beim Onkel des BF nach dem Aufenthaltsort des BF gefragt haben.
Es kann nicht festgestellt werden, dass dem BF mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit in Afghanistan eine an seine Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder seine politische Überzeugung anknüpfende aktuelle Verfolgung maßgeblicher Intensität droht.
Der BF war in Afghanistan keiner Verfolgung bzw. Zwangsrekrutierung durch die Taliban ausgesetzt und ist im Falle der Rückkehr nach Afghanistan keiner konkreten gegen ihn gerichteten Verfolgung durch die Taliban ausgesetzt.
Er wurde in seinem Herkunftsstaat niemals inhaftiert und hatte mit den Behörden seines Herkunftsstaates weder aufgrund seiner Rasse, Nationalität, seines Religionsbekenntnisses oder seiner Volksgruppenzugehörigkeit noch sonst irgendwo Probleme.
Dem BF droht individuell und konkret, im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan, weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch die Taliban oder die afghanische Regierung.
Der BF hat mit seinem Vorbringen keine Verfolgung iSd GFK glaubhaft gemacht.
1.3. Zur Situation im Fall einer Rückkehr des BF:
Dem minderjährigen BF würde bei einer Rückkehr nach Afghanistan die reale Gefahr einer Verletzung des Art. 3 EMRK drohen.
Dem BF würde bei einer Rückkehr in seine Heimatprovinz Nangarhar, und generell nach Afghanistan, ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan und einer Ansiedelung außerhalb seiner Heimatprovinz - wie etwa in Mazar-e Sharif oder Herat - liefe der BF maßgeblich Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.
1.4. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
Unter Bezugnahme auf das zum Zeitpunkt der Verhandlung aktuellste Länderinformationsblatt der Staatendokumentation (Stand 04.06.2019), die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 sowie die Anfragebeantwortung von ACCORD vom 13.08.2018 (Rekrutierungsmaßnahmen der Taliban) werden folgende entscheidungsrelevante, die Person des BF individuell betreffende Feststellungen zu Lage in Afghanistan getroffen:
1. Neueste Ereignisse - Integrierte Kurzinformationen KI vom 4.6.2019, politische Ereignisse, zivile Opfer, Anschläge in Kabul, IOM (relevant für Abschnitt 3/Sicherheitslage; Abschnitt 2/Politische Lage; Abschnitt 23/ Rückkehr).
Politische Ereignisse: Friedensgespräche, Loya Jirga, Ergebnisse Parlamentswahl
Ende Mai 2019 fand in Moskau die zweite Runde der Friedensgespräche zwischen den Taliban und afghanischen Politikern (nicht der Regierung, Anm.) statt. Bei dem Treffen äußerte ein Mitglied der Taliban, Amir Khan Muttaqi, den Wunsch der Gruppierung nach Einheit der afghanischen Bevölkerung und nach einer "inklusiven" zukünftigen Regierung. Des Weiteren behauptete Muttaqi, die Taliban würden die Frauenrechte respektieren wollen. Ein ehemaliges Mitglied des afghanischen Parlaments, Fawzia Koofi, äußerte dennoch ihre Bedenken und behauptete, die Taliban hätten kein Interesse daran, Teil der aktuellen Regierung zu sein, und dass die Gruppierung weiterhin für ein islamisches Emirat stünde. (Tolonews 31.5.2019a).
Vom 29.4.2019 bis 3.5.2019 tagte in Kabul die "große Ratsversammlung" (Loya Jirga). Dabei verabschiedeten deren Mitglieder eine Resolution mit dem Ziel, einen Friedensschluss mit den Taliban zu erreichen und den inner-afghanischen Dialog zu fördern. Auch bot Präsident Ghani den Taliban einen Waffenstillstand während des Ramadan von 6.5.2019 bis 4.6.2019 an, betonte aber dennoch, dass dieser nicht einseitig sein würde. Des Weiteren sollten 175 gefangene Talibankämpfer freigelassen werden (BAMF 6.5.2019). Einer weiteren Quelle zufolge wurden die kritischen Äußerungen zahlreicher Jirga-Teilnehmer zu den nächtlichen Militäroperationen der USA nicht in den Endbericht aufgenommen, um die Beziehungen zwischen den beiden Staaten nicht zu gefährden. Die Taliban nahmen an dieser von der Regierung einberufenen Friedensveranstaltung nicht teil, was wahrscheinlich u.a. mit dem gescheiterten Dialogtreffen, das für Mitte April 2019 in Katar geplant war, zusammenhängt. Dort wäre die Regierung zum ersten Mal an den Friedensgesprächen mit den Taliban beteiligt gewesen. Nachdem erstere jedoch ihre Teilnahme an die Bedingung geknüpft hatte, 250 Repräsentanten nach Doha zu entsenden und die Taliban mit Spott darauf reagierten, nahm letztendlich kein Regierungsmitarbeiter an der Veranstaltung teil. So fanden Gespräche zwischen den Taliban und Exil-Afghanen statt, bei denen viele dieser das Verhalten der Regierung öffentlich kritisierten (Heise 16.5.2019).
Anfang Mai 2019 fand in Katar auch die sechste Gesprächsrunde zwischen den Taliban und den USA statt. Der Sprecher der Taliban in Doha, Mohammad Sohail Shaheen, betonte, dass weiterhin Hoffnung hinsichtlich der inner-afghanischen Gespräche bestünde. Auch konnten sich der Quelle zufolge die Teilnehmer zwar bezüglich einiger Punkte einigen, dennoch müssten andere "wichtige Dinge" noch behandelt werden (Heise 16.5.2019).
Am 14.5.2019 hat die unabhängige Wahlkommission (Independent Electoral Commission, IEC) die Wahlergebnisse der Provinz Kabul für das afghanische Unterhaus (Wolesi Jirga) veröffentlicht (AAN 17.5.2019; vgl. IEC 14.5.2019, IEC 15.5.2019). Somit wurde nach fast sieben Monaten (die Parlamentswahlen fanden am 20.10.2018 und 21.10.2018 statt) die Stimmenauszählung für 33 der 34 Provinzen vervollständigt. In der Provinz Ghazni soll die Wahl zusammen mit den Präsidentschafts- und Provinzialratswahlen am 28.9.2019 stattfinden. In seiner Ansprache zur Angelobung der Parlamentsmitglieder der Provinzen Kabul und Paktya am 15.5.2019 bezeichnete Ghani die siebenmonatige Wahl als "Katastrophe" und die beiden Wahlkommissionen, die IEC und die Electoral Complaints Commission (ECC), als "ineffizient" (AAN 17.5.2019).
Zivile-Opfer, UNAMA-Bericht
Die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) registrierte im ersten Quartal 2019
(1.1.2019 - 31.3.2019) 1.773 zivile Opfer (581 Tote und 1.192 Verletzte), darunter waren 582 der Opfer Kinder (150 Tote und 432 Verletzte). Dies entspricht einem Rückgang der gesamten Opferzahl um 23% gegenüber dem gleichen Zeitraum des Vorjahres, welches somit der niedrigste Wert für das erste Jahresquartal seit 2013 ist (UNAMA 24.4.2019).
Diese Verringerung wurde durch einen Rückgang der Zahl ziviler Opfer von Selbstmordanschlägen mit IED (Improvised Explosive Devices - unkonventionelle Spreng- und Brandvorrichtung/Sprengfallen) verursacht. Der Quelle zufolge könnten die besonders harten Winterverhältnisse in den ersten drei Monaten des Jahres 2019 zu diesem Trend beigetragen haben. Es ist unklar, ob der Rückgang der zivilen Opfer wegen Maßnahmen der Konfliktparteien zur Verbesserung des Schutzes der Zivilbevölkerung oder durch die laufenden Gespräche zwischen den Konfliktparteien beeinflusst wurde (UNAMA 24.4.2019).
Die Zahl der zivilen Opfer aufgrund von Nicht-Selbstmord-Anschlägen mit IEDs durch regierungsfeindliche Gruppierungen und Luft- sowie Suchoperationen durch regierungsfreundliche
Gruppierungen ist gestiegen. Die Zahl der getöteten Zivilisten, die regierungsfreundlichen Gruppierungen zugeschrieben wurden, übertraf im ersten Quartal 2019 die zivilen Todesfälle, welche von regierungsfeindlichen Elementen verursacht wurden (UNAMA 24.4.2019).
Kampfhandlungen am Boden waren die Hauptursache ziviler Opfer und machten etwa ein Drittel der Gesamtzahl aus. Der Einsatz von IEDs war die zweithäufigste Ursache für zivile Opfer: Im Gegensatz zu den Trends von 2017 und 2018 wurde die Mehrheit der zivilen Opfer von IEDs nicht durch Selbstmordanschläge verursacht, sondern durch Angriffe, bei denen der Angreifer nicht seinen eigenen Tod herbeiführen wollte. Luftangriffe waren die Hauptursache für zivile Todesfälle und die dritthäufigste Ursache für zivile Opfer (Verletzte werden auch mitgezählt, Anm.), gefolgt von gezielten Morden und explosiven Kampfmittelrückständen (UXO - unexploded ordnance). Am stärksten betroffen waren Zivilisten in den Provinzen Kabul, Helmand, Nangarhar, Faryab und Kunduz (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 24.4.2019).
Anschläge in Kabul-Stadt
Ende Mai 2019 fanden in Kabul-Stadt einige Anschläge und gezielte Tötungen in kurzen Abständen zu einander statt: Am 26.5.2019 wurde ein leitender Mitarbeiter einer NGO in Kart-e Naw (PD5, Police District 5) durch unbekannte bewaffnete Männer erschossen (Tolonews 27.5.2019a). Am 27.5.2019 wurden nach der Explosion einer Magnetbombe, die gegen einen Bus von Mitarbeitern des Ministeriums für Hadsch und religiöse Angelegenheiten gerichtet war, zehn Menschen verletzt. Die Explosion fand in Parwana-e Do (PD2) statt. Zum Vorfall hat sich keine Gruppierung bekannt (Tolonews 27.5.2019b).
Des Weiteren wurden im Laufe der letzten zwei Maiwochen vier Kontrollpunkte der afghanischen Sicherheitskräfte durch unbekannte bewaffnete Männer angegriffen (Tolonews 31.5.2019b).
Am 30.5.2019 wurden in Folge eines Selbstmordangriffes nahe der Militärakademie Marshal Fahim im Stadtteil Char Rahi Qambar (PD5) sechs Personen getötet und 16 Personen, darunter vier Zivilisten, verletzt. Die Explosion erfolgte, während die Kadetten die Universität verließen (1 TV NEWS 30.5.2019). Der Islamische Staat (IS) bekannte sich zu dem Anschlag (AJ 30.5.2019).
Am 31.5.2019 wurden sechs Personen, darunter vier Zivilisten, getötet und fünf Personen, darunter vier Mitglieder der US-Sicherheitskräfte, verletzt, nachdem ein mit Sprengstoff beladenes Auto in Qala-e Wazir (PD9) detonierte. Quellen zufolge war das ursprüngliche Ziel des Angriffs ein Konvoi ausländischer Sicherheitskräfte (Tolonews 31.5.2019c).
Am 2.6.2019 kam nach der Detonation von mehreren Bomben eine Person ums Leben und 17 weitere wurden verletzt. Die Angriffe fanden im Westen der Stadt statt, und einer davon wurde von einer Klebebombe, die an einem Bus befestigt war, verursacht. Einer Quelle zufolge transportierte der Bus Studenten der Kabul Polytechnic University (TW 2.6.2019). Der IS bekannte sich zu den Anschlägen und beanspruchte den Tod von "mehr als 30 Schiiten und Mitgliedern der afghanischen Sicherheitskräfte" für sich. Die Operation erfolgte in zwei Phasen: Zuerst wurde ein Bus, der 25 Schiiten transportierte, angegriffen, und darauf folgend detonierten zwei weitere Bomben, als sich "Sicherheitselemente" um den Bus herum versammelten. Vertreter des IS haben u.a. in Afghanistan bewusst und wiederholt schiitische Zivilisten ins Visier genommen und sie als "Polytheisten" bezeichnet. (LWJ 2.6.2019). Am 3.6.2019 kamen nach einer Explosion auf der Darul Aman Road in der Nähe der American University of Afghanistan fünf Menschen ums Leben und zehn weitere wurden verletzt. Der Anschlag richtete sich gegen einen Bus mit Mitarbeitern der Independent Administrative Reformand Civil Service Commission (Tolonews 3.6.2019)
US-Angaben zufolge ist die Zahl der IS-Anhänger in Afghanistan auf ca. 5.000 gestiegen, fünfmal so viel wie vor einem Jahr. Gemäß einer Quelle profitiert die Gruppierung vom "zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan und von aus Syrien geflohenen Kämpfern". Des Weiteren schließen sich enttäuschte Mitglieder der Taliban sowie junge Menschen ohne Zukunftsperspektive dem IS an, der in Kabul, Nangarhar und Kunar über Zellen verfügt (BAMF 3.6.2019). US-Angaben zufolge ist es "sehr wahrscheinlich", dass kleinere IS-Zellen auch in Teilen Afghanistans operieren, die unter der Kontrolle der Regierung oder der Taliban stehen (VOA 21.5.2019). Eine russische Quelle berichtet wiederum, dass ca. 5.000 IS-Kämpfer entlang der Nordgrenze tätig sind und die Nachbarländer bedrohen. Der Quelle zufolge handelt es sich dabei um Staatsbürger der ehemaligen sowjetischen Republiken, die mit dem IS in Syrien gekämpft haben (Newsweek 21.5.2019).
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Rückkehr
Die International Organization for Migration (IOM) gewährt seit April 2019 keine temporäre Unterkunft für zwangsrückgeführte Afghanen mehr. Diese erhalten eine Barzuwendung von ca. 150 Euro sowie Informationen über mögliche Unterkunftsmöglichkeiten. Gemäß dem Europäischen Auswärtigen Amt (EAD) nutzten nur wenige Rückkehrer die Unterbringungsmöglichkeiten von IOM (BAMF 20.5.2019).
KI vom 26.3.2019, Anschläge in Kabul, Überflutungen und Dürre, Friedensgespräche, Präsidentschaftswahl (relevant für Abschnitt 2/Politische Lage; Abschnitt 3/Sicherheitslage; Abschnitt 21/Grundversorgung und Wirtschaft).
Anschläge in Kabul-Stadt
Bei einem Selbstmordanschlag während des persischen Neujahres-Fests Nowruz in Kabul Stadt kamen am 21.3.2019 sechs Menschen ums Leben und weitere 23 wurden verletzt (AJ 21.3.2019, Reuters 21.3.2019). Die Detonation erfolgte in der Nähe der Universität Kabul und des Karte Sakhi Schreins, in einer mehrheitlich von Schiiten bewohnten Gegend. Quellen zufolge wurden dafür drei Bomben platziert: eine im Waschraum einer Moschee, eine weitere hinter einem Krankenhaus und die dritte in einem Stromzähler (TDP 21.3.2019; AJ 21.3.2019). Der ISKP (Islamische Staat - Provinz Khorasan) bekannte sich zum Anschlag (Reuters 21.3.2019). Während eines Mörserangriffs auf eine Gedenkveranstaltung für den 1995 von den Taliban getöteten Hazara-Führer Abdul Ali Mazari im überwiegend von Hazara bewohnten Kabuler Stadtteil Dasht-e Barchi kamen am 7.3.2019 elf Menschen ums Leben und 95 weitere wurden verletzt. Der ISKP bekannte sich zum Anschlag (AJ 8.3.2019).
Überflutungen und Dürre
Nach schweren Regenfällen in 14 afghanischen Provinzen kamen mindestens 63 Menschen ums
Leben. In den Provinzen Farah, Kandahar, Helmand, Herat, Kapisa, Parwan, Zabul und Kabul, wurden ca. 5.000 Häuser zerstört und 7.500 beschädigt (UN OCHA 19.3.2019). Dem Amt für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten der Vereinten Nationen (UN OCHA) zufolge waren mit Stand 19.3.2019 in der Provinz Herat die Distrikte Ghorvan, Zendejan, Pashtoon Zarghoon, Shindand, Guzarah und Baland Shahi betroffen (UN OCHA 19.3.2019). Die Überflutungen folgten einer im April 2018 begonnen Dürre, von der die Provinzen Badghis und Herat am meisten betroffen waren und von deren Folgen (z.B. Landflucht in die naheliegenden urbanen Zentren, Anm.) sie es weiterhin sind. Gemäß einer Quelle wurden in den beiden Provinzen am 13.9.2018 ca. 266.000 IDPs vertrieben: Davon zogen 84.000 Personen nach Herat-Stadt und 94.945 nach Qala-e-Naw, wo sie sich in den Randgebieten oder in Notunterkünften innerhalb der Städte ansiedelten und auf humanitäre Hilfe angewiesen sind (IFRCRCS 17.3.2019).
Friedensgespräche
Kurz nach der Friedensgesprächsrunde zwischen Taliban und Vertretern der USA in Katar Ende Jänner 2019 fand Anfang Februar in Moskau ein Treffen zwischen Taliban und bekannten afghanischen Politikern der Opposition, darunter der ehemalige Staatspräsident Hamid Karzai und mehrere "Warlords", statt (Qantara 12.2.201). Quellen zufolge wurde das Treffen von der afghanischen Diaspora in Russland organisiert. Taliban-Verhandlungsführer Sher Muhammad Abbas Stanaksai wiederholte während des Treffens schon bekannte Positionen wie die Verteidigung des "Dschihad" gegen die "US-Besatzer" und die gleichzeitige Weiterführung der Gespräche mit den USA. Des Weiteren verkündete er, dass die Taliban die Schaffung eines "islamischen Regierungssystems mit allen Afghanen" wollten, obwohl sie dennoch keine "exklusive Herrschaft" anstrebten. Auch bezeichnete er die bestehende afghanische Verfassung als "Haupthindernis für den Frieden", da sie "vom Westen aufgezwungen wurde"; Weiters forderten die Taliban die Aufhebung der Sanktionen gegen ihre Führer und die Freilassung ihrer gefangenen Kämpfer und bekannten sich zur Nichteinmischung in Angelegenheiten anderer Länder, zur Bekämpfung des Drogenhandels, zur Vermeidung ziviler Kriegsopfer und zu Frauenrechten. Diesbezüglich aber nur zu jenen, "die im Islam vorgesehen seien" (z.B. lernen, studieren und sich den Ehemann selbst auswählen). In dieser Hinsicht kritisierten sie dennoch, dass "im Namen der Frauenrechte Unmoral verbreitet und afghanische Werte untergraben würden" (Taz 6.2.2019). Ende Februar 2019 fand eine weitere Friedensgesprächsrunde zwischen Taliban und USVertretern in Katar statt, bei denen die Taliban erneut den Abzug der US-Truppen aus Afghanistan forderten und betonten, die Planung von internationalen Angriffen auf afghanischem Territorium verhindern zu wollen.
Letzterer Punkt führte jedoch zu Meinungsverschiedenheiten: Während die USA betonten, die Nutzung des afghanischen Territoriums durch "terroristische Gruppen" vermeiden zu wollen und in dieser Hinsicht eine Garantie der Taliban forderten, behaupteten die Taliban, es gebe keine universelle Definition von Terrorismus und weigerten sich gegen solch eine Spezifizierung. Sowohl die Taliban- als auch die US-Vertreter hielten sich gegenüber den Medien relativ bedeckt und betonten ausschließlich, dass die Friedensverhandlungen weiterhin stattfänden. Während es zu Beginn der Friedensgesprächsrunde noch Hoffnungen gab, wurde mit Voranschreiten der Verhandlungen immer klarer, dass sich eine Lösung des Konflikts als "frustrierend langsam" erweisen würde (NYT 7.3.2019). Die afghanische Regierung war weder an den beiden Friedensgesprächen in Doha noch an dem Treffen in Moskau beteiligt (Qantara 12.2.2019; vgl. NYT 7.3.2019), was Unbehagen unter einigen Regierungsvertretern auslöste und die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Regierungen beeinträchtigte (Reuters 18.3.2019; vgl. WP 18.3.2019). Beispielsweise erklärte USUnterstaatssekretär David Hale am 18.3.2019 die Beendigung der Kontakte zwischen USVertretern und dem afghanischen nationalen Sicherheitsberater Hamdullah Mohib, nachdem dieser US-Chefunterhändler Zalmay Khalilzad und den Ausschluss der afghanischen Regierung aus den Friedensgesprächen öffentlich kritisiert hatte (Reuters 18.3.2019).
Verschiebung der Präsidentschaftswahl
Die Präsidentschaftswahl, welche bereits von April auf Juni 2019 verschoben worden war, soll Quellen zufolge nun am 28.9.2019 stattfinden. Grund dafür seien "zahlreiche Probleme und Herausforderungen" welche vor dem Wahltermin gelöst werden müssten, um eine sichere und transparente Wahl sowie eine vollständige Wählerregistrierung sicherzustellen - so die unabhängige Wahlkommission (IEC) (VoA 20.3.2019; vgl. BAMF 25.3.2019).
KI vom 1.3.2019, Aktualisierung: Sicherheitslage in Afghanistan - Q4.2018 (relevant für Abschnitt 3/Sicherheitslage)
Allgemeine Sicherheitslage und sicherheitsrelevante Vorfälle
Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt volatil. Die Vereinten Nationen (UN) registrierten im Berichtszeitraum 16.8.2018 - 15.11.2018 5.854 sicherheitsrelevante Vorfälle, was einen Rückgang von 2% gegenüber dem Vergleichszeitraum des Vorjahres bedeutet. Bewaffnete Zusammenstöße gingen um 5% zurück, machten aber weiterhin den Großteil der sicherheitsrelevanten Vorfälle (63%) aus. Selbstmordanschläge gingen um 37% zurück, was möglicherweise an erfolgreichen Bekämpfungsmaßnahmen in Kabul-Stadt und Jalalabad liegt. Luftangriffe durch die afghanische Luftwaffe (AAF) sowie internationale Streitkräfte stiegen um 25%. Die am stärksten betroffenen Regionen waren der Süden, der Osten und der Süd-Osten. In der Provinz Kandahar entstand die Befürchtung, die Sicherheitsbedingungen könnten sich verschlechtern, nachdem der Polizeichef der Provinz und der Leiter des National Directorate for Security (NDS) im Oktober 2018 ermordet worden waren (UNGASC 7.12.2018). Gemäß dem Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction (SIGAR) fanden bis Oktober 2018 die meisten Angriffe regierungsfeindlicher Gruppierungen in den Provinzen Badghis, Farah, Faryab, Ghazni, Helmand, Kandahar, Uruzgan und Herat statt. Von Oktober bis Dezember 2018 verzeichneten Farah, Helmand und Faryab die höchste Anzahl regierungsfeindlicher Angriffe (SIGAR 30.1.2019).
Nach dem Taliban-Angriff auf Ghazni-Stadt im August 2018, bestand weiterhin die Befürchtung, dass die Taliban großangelegte Angriffe im Südosten des Landes verüben könnten. Dies war zwar nicht der Fall, dennoch setzten Talibankämpfer die afghanischen Sicherheitskräfte am Stadtrand von Ghazni, in Distrikten entlang des Highway One nach Kabul und durch die Einnahme des Distrikts Andar in Ghazni im Oktober weiterhin unter Druck. Im Westen der Provinz Ghazni, wo die ethnische Gruppierung der Hazara eine Mehrheit bildet, verschlechterten sich die Sicherheitsbedingungen wegen großangelegter Angriffe der Taliban, was im November zur Vertreibung zahlreicher Personen führte. In Folge eines weiteren Angriffs der Taliban im Distrikt Khas Uruzgan der Provinz Uruzgan im selben Monat wurden ebenfalls zahlreiche Hazara-Familien vertrieben. Des Weiteren nahmen Talibankämpfer in verschiedenen Regionen vorübergehend strategische Positionen entlang der Hauptstraßen ein und behinderten somit die Bewegungsfreiheit zwischen den betroffenen Provinzen. Beispiele dafür sind Angriffe entlang Hauptstraßen nach Kabul in den Distrikten Daymirdad und Sayyidabad in Wardak, der Route Mazar - Shirbingham und Maimana - Andkhoy in den nördlichen Provinzen Faryab, Jawzjan und Balkh und der Route Herat - Qala-e-Naw im westlichen Herat und Badghis (UNGASC 7.12.2018). Trotz verschiedener Kampfhandlungen und Bedrohungen blieben mit Stand Dezember 2018 gemäß SIGAR die Provinzzentren aller afghanischen Provinzen unter Kontrolle bzw. Einfluss der afghanischen Regierung (SIGAR 30.1.2019).
Im Laufe des Wahlregistrierungsprozesses und während der Wahl am 20. und am 21. Oktober wurden zahlreiche sicherheitsrelevante Vorfälle registriert, welche durch die Taliban und den Islamischen Staat - Provinz Khorasan (ISKP) beansprucht wurden (UNGASC 7.12.2018; vgl. UNAMA 10.10.2018, UNAMA 11.2018). Während der Wahl in der Provinz Kandahar, die wegen Sicherheitsbedenken auf den 27. Oktober verschoben worden war, wurden keine sicherheitsrelevanten Vorfälle registriert. Die afghanischen Sicherheitskräfte entdeckten und entschärften einige IED [Improvised Explosive Devices - Improvisierte Spreng- oder Brandvorrichtung/Sprengfallen] in Kandahar-Stadt und den naheliegenden D