TE Bvwg Erkenntnis 2020/2/11 W124 2133344-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 11.02.2020
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

11.02.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8
BFA-VG §9
B-VG Art. 133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §31 Abs1

Spruch

W124 2133344-1/36E

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Felseisen als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX Zl XXXX , nach Durchführung mündlicher Verhandlungen am XXXX , XXXX und XXXX

A)

beschlossen:

I. Das Verfahren wird hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wegen Zurückziehung der Beschwerde gemäß §§ 28 Abs. 1 und 31 Abs. 1 VwGVG eingestellt.

zu Recht erkannt:

II. Die Beschwerde wird gemäß §§ 8, 57, 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG sowie §§ 46, 55, 52 Abs. 2 Z 2 und Abs. 9 FPG als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang

1. Der Beschwerdeführer (nunmehr BF) reiste unrechtmäßig ins Bundesgebiet ein und stellte am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Im Rahmen seiner Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am XXXX gab der BF an, am XXXX in XXXX , Afghanistan, geboren zu sein und der schiitischen Glaubensgemeinschaft sowie der Volksgruppe der Hazara anzugehören. Er habe vier Jahre die Grundschule besucht und spreche Dari. In den letzten 16 Jahren habe er im Iran gelebt. Vor circa zwei Monaten sei er endgültig aus dem Iran ausgereist.

Hinsichtlich seiner Fluchtgründe brachte der BF vor, er habe Afghanistan aufgrund des Krieges verlassen und sei in den Iran geflüchtet. Als afghanischer Staatsbürger habe er dort nicht mehr leben können. Er sei öfters von der iranischen Behörde bedroht und geschlagen worden.

3. Bei seiner niederschriftlichen Einvernahme am XXXX vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (nunmehr Bundesamt) gab der BF zu Protokoll, sich psychisch und physisch in der Lage zu fühlen, die Einvernahme durchzuführen.

Zu seiner Person gab er an, der Volksgruppe der Sayed anzugehören und schiitischer Moslem zu sein. Er habe Afghanistan im Alter von einem Jahr verlassen und verfüge über keine Dokumente.

In Afghanistan habe er in der Provinz XXXX , XXXX , in XXXX gelebt. Im Iran habe er in der Stadt XXXX , XXXX bis zu seiner Ausreise nach Europa gewohnt. Der BF habe in Afghanistan mit seinen Eltern und den beiden Brüdern gelebt. Die anderen Geschwister seien im Iran auf die Welt gekommen. Insgesamt habe er vier Brüder und zwei Schwestern. Seine Familie lebe gegenwärtig im Iran.

Die Lebensumstände seiner Familie würde er als "mittel" bezeichnen. Im Iran habe er gemeinsam mit seinem anderen Bruder als Fliesenleger gearbeitet und habe aus diesen Einkünften seinen Lebensunterhalt bestritten.

Der BF sei nie in Haft gewesen. Mitglied einer politischen Partei oder einer sonstigen Gruppierung sei er nicht gewesen.

Seine Familie habe Afghanistan verlassen, da sein Vater der Gruppierung der Mujaheddin angehört habe. Sein Großvater und sein Onkel väterlicherseits seien getötet worden, weshalb die Familie des BF ihre Heimat verlassen habe. Im Falle einer Rückkehr des BF nach Afghanistan würde man ihm unterstellen auch Mujaheddin zu sein.

Der BF habe sich seit seinem ersten Lebensjahr nicht mehr in Afghanistan aufgehalten. Man werde ihn vermutlich töten, wenn man erfahre, dass er der Enkel von XXXX sei. Alle seien damals mit dem Tod bedroht worden. Folglich habe seine Familie flüchten müssen.

Bevor sein Vater gestorben sei, habe dieser erzählt, dass er eigentlich nicht in den Iran ziehen habe wollen. Da ihr Leben in Gefahr gewesen sei, hätten sie den Herkunftsstaat dennoch verlassen müssen.

Die staatlichen Beamten im Iran hätten sie in den syrischen Krieg schicken wollen.

Der BF habe keine Verwandten mehr in Afghanistan. Sein Onkel väterlicherseits sei im Krieg getötet worden, eine weitere Tante sei auch verstorben. Er habe zwei Tanten und einen Onkel mütterlicherseits im Iran.

Der BF habe vier Jahre die Grundschule besucht und spreche Dari und Farsi.

Im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan müsse er in den Iran gehen, da dort seine Familie lebe und er in Afghanistan niemanden habe. Im Iran bestehe die Gefahr, dass man ihn in den syrischen Krieg schicke.

Befragt, ob der BF noch etwas hinzufügen wolle, gab er an, dass sein Vater vor sechs Jahren verstorben sei und er um Unterstützung und Hilfe bitte.

4. Mit dem nun angefochtenen Bescheid des Bundesamtes vom XXXX wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) sowie gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde ihm nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde die Frist für seine freiwillige Ausreise mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt IV.).

Mit Verfahrensanordnung vom XXXX wurde dem BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG der XXXX als Rechtsberater amtswegig zur Seite gestellt.

5. Gegen den im Spruch genannten Bescheid erhob der BF fristgerecht Beschwerde in vollem Umfang.

Begründend wurde ausgeführt, der BF habe alle Fragen ausführlich und konkret beantwortet. Er habe Afghanistan aus wohlbegründeter Furcht verlassen, da sein Vater Mujaheddin gewesen sei und sein Großvater und Onkel väterlicherseits getötet worden seien. Im Iran habe man ihn nach Syrien schicken wollen.

Zahlreiche Medien würden die unsichere Lage in Afghanistan belegen und hätten Österreich und viele andere Staaten eine Reisewarnung für Afghanistan erteilt. Zur Lage in Afghanistan werde auf einen Bericht des Flüchtlingsrats Brandenburg und auf eine UNHCR-Pressemitteilung verwiesen.

Im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan würde der BF in eine ausweglose Lage geraten und stehe ihm keine innerstaatliche Fluchtalternative offen.

6. Die Beschwerdevorlage langte am XXXX beim Bundesverwaltungsgericht ein.

7. Am XXXX fand vor dem Bundesverwaltungsgericht in Anwesenheit des BF und seines bevollmächtigten Vertreters eine mündliche Beschwerdeverhandlung statt.

Eingangs wurde die Beschwerde zu Spruchpunkt I. durch den bevollmächtigten Rechtsvertreter zurückgezogen.

Zu seiner Person gab der BF an, schiitischer Hazara zu sein.

Ferner führte er aus, er sei in der Provinz XXXX , in XXXX , in XXXX geboren und habe dort ein Jahr lang zusammen mit seiner Familie, bestehend aus Eltern, zwei Schwestern und vier Brüdern, gelebt. Seine Familienangehörigen würden nach wie vor im Iran leben. Seit zwei Monaten habe er nicht mehr von ihnen gehört, da er kein Guthaben habe.

Der BF habe keine Angehörigen in Afghanistan. Die Tante väterlicherseits sei vor einigen Jahren verstorben. Der Bruder des Vaters sei bei den Mujaheddin-Kämpfen ums Leben gekommen. Seine zwei Tanten und der Onkel mütterlicherseits würden in XXXX im Iran leben.

Auf Nachfrage gab der BF zu seiner Herkunft an, im Dorf XXXX geboren zu sein und ein Jahr lang dort gelebt zu haben. Danach seien sie in den Iran in die Stadt XXXX gereist und hätten dort sechs Jahre gelebt. Aus dieser Stadt seien Flüchtlinge wegen der Atomkraft vertrieben worden. Sein Vater sei festgenommen worden und habe einen Monat in Haft verbracht. Sie seien nach XXXX gezogen, wo der BF zehn Jahre bis zu seiner Ausreise nach Europa gelebt habe. Weder er, noch seine anderen Familienmitglieder seien jemals wieder nach Afghanistan zurückgekehrt.

Der BF kenne XXXX nicht, wisse nicht wo es liege und könne auch nicht sagen, wie man in seine Geburtsstadt XXXX komme. Der BF wisse nicht, dass es sich bei XXXX um eine Provinz handle. Er kenne die afghanische Karte nicht und habe auch nie nachgefragt.

Der Vater des BF sei ca. im Jahr XXXX gestorben.

Der BF habe den Beruf des Fliesenlegers erlernt und habe zwei Jahre als Lehrling gearbeitet. Mit diesem Einkommen habe er zusammen mit seinem Bruder für die Familie gesorgt.

Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan habe der BF Angst getötet zu werden. Er habe dort niemanden mehr. Sein Vater habe ihm erzählt, dass die Mujaheddin ihre Häuser verbrannt hätten. Es gebe keinen Ort in Afghanistan, an den er zurückkehren und leben könne. In Afghanistan herrsche keine Sicherheit. Im Falle einer Rückkehr würde er von den Taliban getötet werden.

Befragt, ob er sich vorstellen könne, in Kabul oder XXXX zu leben, gab der BF an, dass in ganz Afghanistan keine Sicherheit herrsche. Weder Kabul, noch XXXX seien so sicher, dass man dorthin zurückgehe und dort leben könne. Täglich fänden Selbstmordattentate statt.

Seine Eltern seien nicht wieder nach Afghanistan zurückgekehrt, da die Sicherheitslage dies nicht erlaube.

Er habe den Iran verlassen, da Flüchtlinge dort sehr schlecht behandelt würden.

Der BF habe nie mit seiner Familie genau über seine Herkunft gesprochen. Seine Familie sei im Jahr XXXX in den Iran gegangen.

Sein Großvater väterlicherseits habe XXXX geheißen. Er wisse nicht welchen Beruf dieser ausgeübt habe, sondern nur, dass dieser und sein Onkel väterlicherseits im Mujaheddin-Krieg gestorben seien. Sein Vater habe Waffen aus Pakistan und aus dem Iran geschmuggelt und habe diese den Mujaheddin gegeben. Der BF wisse nicht, welcher Gruppierung der Mujaheddin der Vater angehört habe. Sein Vater habe ihm dies am Krankenbett erzählt, damit der BF nicht nach Afghanistan zurückkehre. Sein Onkel und sein Großvater seien im Zuge eines Kampfes gegen die Sowjetunion ums Leben gekommen.

Zu seinem Privat- und Familienleben gab der BF an, von der Grundversorgung zu leben und in einer Flüchtlingsunterkunft zu leben. Er spreche ein bisschen Deutsch. In seiner Freizeit betreibe der BF Sport, spiele Fußball und lerne Deutsch. Er sei Mitglied im Verein " XXXX " und lerne dort fotografieren. Er habe noch keinen Freundeskreis und sei ledig. Er habe keine Kinder und keine Verwandten in Österreich.

Der bevollmächtigte Vertreter legte eine schriftliche Stellungnahme vom XXXX zur Sicherheitslage in Afghanistan und Bestätigungen des XXXX vom XXXX und XXXX vor, wonach der BF regelmäßig Hilfstätigkeiten im Grundversorgungsquartier verrichte und an Deutschkursen teilnehme.

8. In weiterer Folge wurden folgende Unterlagen ins Verfahren eingebracht:

-

Bestätigung des XXXX vom XXXX zu Übersetzungstätigkeiten des BF im Quartier

-

Teilnahmebestätigung bei einer Deutsch-Lerngruppe des ÖIF vom XXXX

-

"iki"-Deutschzertifikat B1 vom XXXX

-

Teilnahmebestätigung am Werte- und Orientierungskurs des ÖIF vom

XXXX

-

Kursbesuchsbestätigung für einen Deutschkurs B2 vom XXXX

-

ÖSD-Deutschzertifikat A2 vom XXXX

9. Am XXXX langte beim Bundesverwaltungsgericht eine Stellungnahme des BF ein, in welcher ausgeführt wurde, dass der BF über keinerlei Anknüpfungspunkte in Afghanistan verfüge, sehr jung in den Iran gekommen sei und ihm die afghanischen Gepflogenheiten nicht bekannt seien. Er verfüge über keine vernünftige Schul- bzw. Berufsausbildung, wäre bei einer etwaigen Rückkehr in seine Heimat völlig auf sich alleine gestellt und würde in eine aussichtslose Situation geraten.

Es werde auf die katastrophale Sicherheitslage in Afghanistan und die fehlende Existenzmöglichkeit des BF im Falle einer Rückkehr hingewiesen.

Auch einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden Verfolgung könne Asylrelevanz zukommen, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage sei, diese Verfolgungshandlungen zu unterbinden.

Weiters werde auf die UNHCR Richtlinien betreffend afghanische Flüchtlinge verwiesen. Es werde ersucht, dem BF Flüchtlingsstatus zu gewähren.

Das Bundesverwaltungsgericht habe in einer Vielzahl aktueller Entscheidungen erkannt, dass bei Afghanen, die kein adäquates soziales Auffangnetz in ihrer Heimat besitzen und die aus ihrer Heimat entwurzelt seien, im Falle einer Rückkehr davon auszugehen sei, dass sie in eine ausweglose Lage geraten und damit eine Verletzung der durch Art 2 bzw. 3 EMRK geschützten Rechte vorliegen würde.

Dies sei beim BF insbesondere der Fall, da er bereits lange Zeit im westlichen Ausland verbracht habe, aus Afghanistan entwurzelt sei, die allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan den Länderberichten zufolge unverändert weder sicher, noch stabil sei und es aktuell auch im Jahr 2015 bzw. 2016 zu einer steten Zunahme von sicherheitsrelevanten Vorfällen gekommen sei. Insbesondere sei seine Heimatprovinz besonders von der terroristischen Aktivität der Taliban betroffen.

Der BF habe in der in Österreich verbrachten Zeit große Anstrengungen hinsichtlich seiner Integration unternommen und sei bemüht gewesen, die deutsche Sprache zu erlernen und soziale Kontakte zu entwickeln. Außerdem sei er arbeitsfähig wie arbeitswillig. Sollte er ein Aufenthaltsrecht in Österreich bekommen, wäre er daher keine Belastung für die Gebietskörperschaft.

In Afghanistan hingegen habe er überhaupt keine Lebensperspektive und wäre realistisch in Gefahr, in eine existenzbedrohende Notlage zu geraten.

Es werde ersucht, dem BF Flüchtlingseigenschaft zuzusprechen, oder allenfalls subsidiären Schutz zu gewähren, oder in seinem Fall aufgrund der bewiesenen Integration und seinem schon langen Aufenthalt in Österreich eine Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig zu erklären.

10. Am XXXX fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine weitere mündliche Verhandlung, welche zu einem großen Teil auf Deutsch abgehalten wurde. Dabei gab der BF an, dass er derzeit die erste Klasse der XXXX besuche. Er sei außerordentlicher Hörer, da er zunächst sein Deutsch verbessern müsse. Er nehme aber auch an den Prüfungen teil. Der BF gehe keiner Erwerbstätigkeit nach, da er keine Arbeitsgenehmigung habe. Er habe beim AMS auch nicht um eine solche angesucht. Der BF sei ledig und lebe auch in keiner Lebensgemeinschaft. Er habe keine Kinder oder sonstigen Verwandten in Österreich. Der BF leide an keiner Krankheit und sei strafgerichtlich unbescholten. In seiner Freizeit spiele er Fußball im Verein " XXXX " und nehme auch an Turnieren teil. Vormittags gehe der BF in die Schule und am Wochenende treffe er Freunde. Seinem Freundeskreis würden auch österreichische Staatsbürger angehören.

Der BF legte folgende neue Unterlagen vor:

-

Schulbesuchsbestätigung vom XXXX

-

Zeitbestätigung des ÖIF vom XXXX

-

Unterstützungsschreiben vom XXXX und vom XXXX

-

Referenzschreiben vom XXXX

-

Bestätigung zur Teilnahme an insgesamt drei Basisbildungskursen der XXXX vom XXXX , XXXX und XXXX

-

Antrittsbestätigung des ÖIF vom XXXX und XXXX bei einer Lerngruppe

-

Teilnahmebestätigung am Workshop Kompetenz und Beratung der XXXX am XXXX und XXXX

-

Bestätigung des XXXX vom XXXX zu Übersetzungs- und Hilfstätigkeiten des BF im Quartier

11. Mit Schriftsatz vom XXXX brachte der BF im Wege seiner Vertretung sein Jahreszeugnis der Handelsschule für das Schuljahr 2017/2018 sowie ein ÖSD Zertifikat B1 in Vorlage.

12. Mit Verfahrensanordnung vom XXXX wurden dem BF das Länderinformationsblatt Afghanistan vom 29.06.2018 sowie der EASO Bericht Netzwerke Afghanistan Stand Jänner 2018 zur Stellungnahme binnen 10 Tagen übermittelt.

13. Mit Stellungnahme vom XXXX wurde erneut auf die katastrophale Sicherheits- und Wirtschaftslage in Afghanistan sowie die mangelnde Effizienz und Durchschlagkraft der Zentralbehörden hingewiesen. In der Folge wurden die von UNHCR in seinen Richtlinien aufgezeigten Risikoprofile betreffend afghanische Flüchtlinge auszugsweise wiedergegeben. Ergänzend wurde ausgeführt, aus den Länderberichten gehe hervor, dass die Sicherheitslage im Geburtsort des BF eine wesentliche Verschlechterung erfahren habe. Aufgrund der Verwestlichung des BF unterliege er einer erhöhten Gefahr. Der BF unterliege im Herkunftsstaat asylrelevanter Verfolgung und verfüge über kein adäquates soziales oder familiäres Auffangnetz. Ein solches sei jedoch im Fall der Rückkehr für ein menschenwürdiges Leben unabdingbar. Unter Verweis auf verschiedene Länderberichte wurde in der Folge Stellung zur Sicherheitslage in Kabul bezogen. Ferner wurde auf eine Entscheidung des französischen Asylgerichts hingewiesen, mit welcher einem jungen, männlichen afghanischen Staatsangehörigen subsidiärer Schutz gewährt wurde. In der Folge wurde ausgeführt, dass sich die Zahl der Binnenvertriebenen erhöht habe, diese Personen kein Vermögen hätten und daher besonders gefährdet seien. So würden 80% der Vertriebenen Nahrungsmittelhilfe benötigen. Der BF verfüge über keine Mittel, die ihm ermöglichen würden, zumindest vorläufig menschliche Grundbedürfnisse befriedigen zu können. Die Gefahr einer Verletzung seiner in Art. 2 EMRK und Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte werde zusätzlich durch den langjährigen Aufenthalt in Europa und der damit einhergehenden Verwestlichung erhöht. Aus dem Gutachten von Friederike Stahlmann vom 28.03.2018 gehe überdies hervor, dass junge afghanische Männer eher der Gefahr ausgesetzt seien, Opfer von Morden durch terroristische Gruppierungen zu werden. Auf die Prominenz der Männer komme es dabei nicht an. Ferner würden junge Männer sowohl von Regierungsseite, als auch von Nicht-Regierungsseite konstant ausgenützt werden. Personen ohne Anknüpfungspunkte seien eher der Gefahr ausgesetzt, in solche Kreise zu gelangen. In der Folge wurde Stellung zur Situation von Hazaras in Afghanistan bezogen und wurden verschiedene Länderberichte zu dieser Thematik auszugsweise wiedergegeben. Zudem wurde ausgeführt, dass die Verwestlichung einer Person eng mit dem Abfall vom Glauben in Verbindung stehe. Menschen, die eine kurze Weile in Europa verbracht hätten, stünden unter dem Verdacht der Verwestlichung. Kleinigkeiten, wie die Etablierung eines Akzents, Nachlassen in der Religionspraxis, Hobbys, die als "un-afghanisch" angesehen würden, eine Redensart oder ein anderer Kleidungsstil würden für schwerwiegende Zweifel ausreichen. Die westliche Lebensausrichtung des BF zeige sich insbesondere in seiner tiefen Integration in Österreich und seiner Annahme der österreichischen Lebensart, welche der konservativ-islamischen Gesellschaftsordnung widerspreche.

14. Mit Ladung vom XXXX wurden dem BF das Länderinformationsblatt Afghanistan vom 13.11.2019, die EASO Country Guidance von Juni 2019 sowie die UNHCR Richtlinien vom 30.08.2018 zur Stellungnahme übermittelt.

15. Mit Stellungnahme vom XXXX brachte der BF im Wege seiner Vertretung vor, dass nach wie vor keine Verbesserung der allgemeinen Sicherheits- und Wirtschaftslage in Afghanistan eingetreten sei. UNHCR zeige zudem auf, dass Kabul als innerstaatliche Fluchtalternative nicht in Betracht komme. Aufgrund der Entwurzelung des BF sowie der schlechten Sicherheitslage bestehe für den BF im Fall seiner Rückkehr die reale Gefahr einer menschenrechtswidrigen Behandlung. Nicht nur in Kabul, sondern auch in Herat und XXXX habe sich die allgemeine Sicherheitslage verschlechtert, sodass diese Städte keine taugliche innerstaatliche Fluchtalternative darstellen würden. So hätten sich laut UNAMA die sicherheitsrelevanten Vorfälle in der Provinz Herat um 37% und in der Provinz Balkh um 76% gesteigert. Abschließend wurde auf die positive Integration des BF im Bundesgebiet hingewiesen.

16. Am XXXX fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Beschwerdeverhandlung unter Beiziehung einer Dolmetscherin für die Sprache Dari sowie im Beisein des BF, seines Rechtsvertreters sowie von zwei Vertrauenspersonen statt.

Im Zuge der Verhandlung wurde ein Jahreszeugnis des BF betreffend das Schuljahr XXXX vorgelegt und diesbezüglich vorgebracht, dass der BF seit XXXX ordentlicher Schüler sei. Sein Verhalten sei im Zeugnis als "wenig zufriedenstellend" qualifiziert worden, da es der BF verabsäumt habe, seinem Klassenvorstand eine Arztbestätigung vorzulegen. Insgesamt sei er zwei Monate krank gewesen, habe jedoch nur eine Entschuldigung für einen Monat vorgelegt. Der BF habe an der Krätze gelitten.

Derzeit gehe der BF nicht in die Schule. Er habe sehr viele Freunde gehabt, die alle abgeschoben worden seien. Daraufhin habe er psychische Probleme bekommen und habe sich nicht konzentrieren könne, da er sich gedacht habe, sie würden sich so bemühen und am Ende bringe das nichts. Voriges Jahr im Oktober habe er die Schule abgebrochen. Seither betreibe er Sport. Ferner helfe er seinem Caritas-Betreuer und dessen Gattin im Garten. Sein Betreuer habe einen Schlaganfall erlitten und könne daher nicht alles alleine erledigen. Er helfe ihm dreimal pro Woche für drei bis vier Stunden. Auch wenn er mit dem Zug fahre, begleite er ihn, da er die Stationen vergesse. Sein Verhältnis zu ihm sei freundschaftlich.

Hinsichtlich seiner Bemühungen um eine Erwerbstätigkeit führte er an, er habe sich bei der ÖBB im Bereich Technik beworben, sei jedoch abgelehnt worden, da sein Asylverfahren nicht positiv abgeschlossen sei und er nur mit einem Aufenthaltstitel eingestellt werde. Dort wo er das Praktikum gemacht habe, habe ihm der Arbeitgeber zugesagt, dass er aufgenommen werde, wenn sein Asylverfahren positiv abgeschlossen werde. Der BF habe sich bei ein paar Stellen als Lehrling beworben, habe aber keine Stelle erhalten. Vorgestern habe er sich bei seiner Schuldirektorin erneut zur Schule angemeldet. Er versuche auch seine Englischkenntnisse zu verbessern, wobei ihm eine Englischlehrerin von April bis Juni 2019 geholfen habe. Eine Wiederholungsprüfung habe er nicht gemacht. Manchmal lerne er auch gemeinsam mit einer Lehrerin Deutsch.

Derzeit wohne er in einer Caritas-Wohngemeinschaft und werde von der Caritas unterstützt. Vor der Winterpause habe er beim Fußballverein " XXXX " gespielt. Am heutigen Tag habe er einen Probetermin bei einem Verein in der zweiten Landesliga. Zwei Monate habe er beim XXXX Regionalliga gespielt. Auf die Frage, ob sich seit der letzten Verhandlung in seinem privaten Bereich etwas geändert habe, gab er an, er habe ein Mädchen kennengelernt, mit dem er viel Deutsch gesprochen habe und gelernt habe. Er habe viele Freunde in der Schule gefunden. Mit seiner Freundin sei er erst vor zwei Wochen zusammengekommen. Er lebe nicht mit ihr in einem gemeinsamen Haushalt, sehe sie aber oft. Seinen Asylstatus kenne sie.

Zu seiner Berufserfahrung als Fliesenleger im Iran führte er an, er sei nur Gehilfe gewesen. Es gebe im Iran keine Lehrlinge. Insoweit er gesagt habe, er habe eine Lehre absolviert, handle es sich um ein Missverständnis des Dolmetschers. Dieser habe ihm auch im Zuge der Rückübersetzung das Wort "Lehrling" nicht übersetzt.

Betreffend seine Familie gab der BF an, er habe vier Brüder, die alle Gelegenheitsarbeiten im Iran nachgehen würden. Ihnen gehe es gut. Er habe nicht direkt mit den Brüdern Kontakt, sondern erkundige sich nach deren Wohlbefinden bei seiner Mutter, welche ebenfalls im Iran lebe. Ein Bruder sei älter als der BF, ein Bruder sei zwei Jahre jünger. Ein weiterer Bruder dürfte 16 Jahre alt sein und einer sei 11 Jahre alt. Sein Onkel und seine Tante väterlicherseits seien beide bereits verstorben. Sein Onkel sei ledig gewesen, seine Tante habe einen Sohn, welcher nach Tadschikistan gegangen sei.

Ob der BF im Herkunftsstaat in einem Haus oder in einer Wohnung gelebt habe, wisse er nicht mehr, da er damals erst ein Jahr alt gewesen sei. Auf weitere Nachfrage führte er an, sie hätten in einem Dorf in einem einfachen Haus gewohnt. Er glaube nicht, dass das Haus seinen Eltern gehört habe. Sein Vater sei einfacher Arbeiter gewesen und habe jede Arbeit gemacht. Beispielsweise sei er in der Landwirtschaft sowie auf Baustellen tätig gewesen, habe jedoch keine eigene Landwirtschaft betrieben.

Abschließend erstattete der BF im Wege seiner Vertretung folgende Stellungnahme zu den Länderfeststellungen:

"Festzuhalten ist, dass der genaue Herkunftsort des BF nicht bekannt ist, auch im Hinblick auf die Herkunftsprovinz gibt es unterschiedliche Angaben im Verfahren. Eine IFA ist aus Sicht des BF nicht zumutbar. Einerseits aufgrund der langen Abwesenheit aus Afghanistan und dem im konkreten Fall vollständigen Fehlen von familiären Unterstützungsnetzwerken. Anders als in anderen dem BVwG bekannten Fällen, bestehen nicht einmal mehr weitschichtige verwandtschaftliche Bindungen. Die Familie des BF befindet sich seit zwei Jahrzehnten im Ausland, ohne Bindungen zum Herkunftsstaat aufrecht erhalten zu haben. Ich verweise auf den EASO Country Guidance Report, idF von Juni 2018. In diesem Zusammenhang wird festgehalten, dass der BF über keine männlichen Angehörigen mehr verfügt und daher auch nicht in der Lage sein wird, sich im Falle seiner Rückkehr eine Tazkira zu beschaffen. Laut dem aktuellen LIB benötigt der BF eine Tazkira, beispielsweise für die Eröffnung eines Bankkontos (Seite 338), Zugang zu kostenloser medizinischer Behandlung (S 344) sowie zum Nachweis seiner Identität und seiner Staatsangehörigkeit und für die Ausstellung eines Reisedokuments (S 365). Der Nachweis der Identität wird unter anderem auch für den Erhalt der Rückkehrhilfen benötigt. Dass eine Tazkira gerade in urbanen Gegenden Afghanistans notwendig ist, betont EASO in seinem Bericht (Auszug des Berichtes wird als Beilage ./IV) zum Akt genommen. Fehlt dem BF ein solches Dokument, wird ihm auch der Zugang zu grundlegender Versorgung, im Falle seiner Rückkehr, nicht offenstehen. Dies ist allerdings nach den Richtlinien des UNHCR auch im Falle von erwerbsfähigen, alleinstehenden Männern notwendig. Die Beschaffung einer Tazkira auf illegalem Wege kann dem BF nicht zugemutet werden. Im Übrigen ist die Ausstellung einer Tazkira nur im Herkunftsort der Familie möglich und erfordert zumindest zwei männliche Zeugen (LIB)."

17. Mit Schriftsatz vom XXXX brachte der BF im Wege seiner Vertretung folgende Unterlagen (in Kopie) in Vorlage:

-

Ärztliche Bestätigung von XXXX vom XXXX ;

-

Befundbericht von XXXX vom XXXX ;

-

Schreiben von XXXX vom XXXX ;

-

Praxisnachweis für die BHAK/ BHAS, ausgestellt von " XXXX " vom

XXXX ;

-

Konvolut an Bewerbungsschreiben;

-

Antrag an Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl.

Ergänzend wurde vorgebracht, dass der BF - wie in der mündlichen Beschwerdeverhandlung am XXXX erörtert - seit geraumer Zeit Agnostiker sei. Er schließe die Existenz eines Gottes oder eines transzendenten Wesens nicht aus, lehne allerdings die Existenz von Allah und die im Islam vermittelte und in Afghanistan als Staatsreligion geltende Glaubenslehre ab. Seit geraumer Zeit praktiziere er seine frühere Religion nicht mehr und habe sich nachhaltig sowie aus innerer Überzeugung vom Islam abgewendet, weshalb er im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan fürchte, von Seiten des afghanischen Staates und/oder von Dritten asylrelevant verfolgt zu werden. Der BF habe daher einen Antrag auf internationalen Schutz beim Bundesamt eingebracht und werde dieser Antrag im anhängigen Beschwerdeverfahren gemäß § 17 Abs. 8 AsylG vom BVwG als Beschwerdeergänzung zu behandeln sein.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen

1.1. Zur Person des BF

1.1.1. Der 21-jährige BF ist afghanischer Staatsangehöriger und gehört der Volksgruppe der Hazara sowie der schiitischen Glaubensrichtung des Islams an. Er spricht Dari. Die Identität des BF steht nicht hinreichend fest.

Am XXXX stellte er nach unrechtmäßiger Einreise in das österreichische Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit dem im Spruch angeführten Bescheid des Bundesamtes wurde der Antrag sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.), als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) abgewiesen und gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt III.). Die dagegen erhobene Beschwerde wurde in der mündlichen Verhandlung am XXXX hinsichtlich Spruchpunkt I. zurückgezogen.

1.1.2. Der BF ist in Afghanistan geboren und hat dort sein erstes Lebensjahr verbracht. Daraufhin ist er mit seiner Familie in den Iran verzogen, wo er bis zu seiner Flucht im Jahr XXXX gelebt hat. Im Iran hat der BF vier Jahre die Schule besucht und in weiterer Folge zwei Jahre als Fliesenleger gearbeitet. Im Jahr XXXX bzw. XXXX ist sein Vater verstorben. Gemeinsam mit seinem Bruder, welcher ebenfalls einer Erwerbstätigkeit nachgegangen ist, ist er in der Lage gewesen, für sich, seine Mutter sowie seine Geschwister den Lebensunterhalt zu bestreiten. Der BF hat vier Brüder und zwei Schwestern.

Es kann nicht festgestellt werden, aus welcher afghanischen Provinz der BF ursprünglich stammt. Im Herkunftsstaat verfügt der BF über keine familiären oder sozialen Anknüpfungspunkte. Die Geschwister seines Vaters sind bereits verstorben. Im Iran leben nach wie vor seine Mutter, seine Geschwister sowie sein Onkel und seine zwei Tanten mütterlicherseits. Den Angehörigen des BF geht es gut. Seine vier Brüder gehen Gelegenheitsarbeiten nach. Der BF pflegt nach wie vor Kontakt zu seiner Mutter, bei welcher er sich auch nach seinen Brüdern erkundigt.

1.1.3. Der BF weist kein Naheverhältnis zu einer afghanischen Provinz auf. Ihm ist es jedoch jedenfalls möglich und zumutbar, sich in den Städten XXXX oder Herat niederzulassen. Er hat nicht glaubhaft gemacht, dass ihm im Fall einer Rückkehr in eine dieser Städte ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen würde oder er Gefahr liefe, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Beide Städte sind sicher über den jeweiligen Flughafen zu erreichen.

Es ist nicht glaubhaft, dass sich der BF aus innerer Überzeugung vom Islam abgewendet hat und nunmehr Agnostiker ist. Es steht nicht fest, dass er aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit vom Zugang zu grundlegenden Versorgungsleistungen ausgeschlossen ist. Ferner steht nicht fest, dass der BF ohne Tazkira oder sonstige Personaldokumente im Herkunftsstaat in eine existenzbedrohende Situation geriete. Dem BF steht es offen, sich im Fall der Rückkehr in Herat oder in XXXX eine Tazkira ausstellen zu lassen.

Der BF ist gesund und arbeitsfähig. Er hat sein Leben überwiegend im Iran verbracht, spricht jedoch Dari und ist im afghanischen Familienverband sozialisiert worden, sodass er mit den kulturellen Traditionen und Gepflogenheiten des Herkunftsstaates vertraut ist. In Afghanistan verfügt er über kein tragfähiges soziales Netzwerk und kann er auch auf keine Ortskenntnisse zurückgreifen. Er verfügt jedoch über grundlegende Schulbildung sowie über Arbeitserfahrung als Fliesenleger. Im Iran war er überdies in der Lage, gemeinsam mit seinem Bruder den Lebensunterhalt für sich sowie für seine Mutter und seine übrigen Geschwister zu bestreiten. Es ist daher anzunehmen, dass der BF im Herkunftsstaat auch ohne familiäre Anknüpfungspunkte in der Lage sein wird, sich notfalls mit Hilfstätigkeiten ein ausreichendes Einkommen zu sichern und daher nicht in eine hoffnungslose Lage zu kommen, zumal er über eine - wenn auch nur - vierjährige Schulbildung und über Berufserfahrung als Fliesenleger verfügt. Außerdem tritt hinzu, dass seine Brüder im Iran erwerbstätig sind und davon auszugehen ist, dass sie ihn zumindest anfänglich finanziell unterstützen können.

1.1.4. Der BF ist ledig, hat keine Kinder und lebt in Österreich in keiner Familiengemeinschaft oder einer familienähnlichen Gemeinschaft. Er hat sich einen Freundes- und Bekanntenkreis aufgebaut, welchem auch österreichische Staatsbürger angehören. Der BF hat seit Jänner 2020 eine Freundin, lebt mit ihr jedoch in keinem gemeinsamen Haushalt und sind sich beide beim Eingehen der Beziehung des unsicheren Aufenthaltsstatus des BF bewusst gewesen. Bindungen besonderer Intensität zu einzelnen Personen im Bundesgebiet konnten hingegen nicht festgestellt werden.

Der BF hat in Österreich Basisbildungskurse absolviert und in weiterer Folge zwei Jahre eine Handelsschule besucht. Aktuell besucht er keine Schule, hat sich jedoch für das Schuljahr 2020/2021 erneut bei der Handelsschule angemeldet. Ferner hat er ein Praktikum im Ausmaß von 180 Stunden absolviert. Der BF hat die zweite Klasse der Handlesschule mit Ausnahme des Unterrichtsgegenstandes Englisch durchwegs positiv absolviert und hat sich damit grundlegende kaufmännische Kenntnisse aneignenen können, die er im Bedarfsdall entsprechend nutzbringend zu seinen Vorteil im Berufsalltag anwenden und umsetzen kann. Im Grundversorgungsquartier hat er zudem ehrenamtlich Übersetzungs-, und andere Hilfstätigkeiten übernommen. Aktuell unterstützt er seinen Betreuer nach dessen Schlaganfall circa dreimal wöchentlich bei Alltagstätigkeiten. Zwischen dem Betreuer und dem BF besteht kein Abhängigkeitsverhältnis, sondern lediglich eine Freundschaft. Der BF hat einen Workshop der Diakonie besucht, hat einen Werte- und Orientierungskurs absolviert und verfügt über Deutschkenntnisse auf dem Sprachniveau B1. Der BF ist aktives Mitglied in einem Fußballverein.

Einer rechtmäßigen Erwerbstätigkeit im Bundesgebiet geht der BF nicht nach, sondern bestreitet seinen Lebensunterhalt aus den Mitteln der Grundversorgung.

Der BF ist in Österreich unbescholten.

1.2. Zur Lage in Afghanistan wird Folgendes festgestellt:

1.2.1. Auszüge aus dem Länderinformationsblatt Afghanistan vom 13.11.2019

1.2.1.1. Politische Lage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.04.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.05.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.01.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.02.2015), und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.05.2019).

In Folge der Präsidentschaftswahlen 2014 wurde am 29.09.2014 Mohammad Ashraf Ghani als Nachfolger von Hamid Karzai in das Präsidentenamt eingeführt. Gleichzeitig trat sein Gegenkandidat Abdullah Abdullah das Amt des Regierungsvorsitzenden (CEO) an - eine per Präsidialdekret eingeführte Position, die Ähnlichkeiten mit der Position eines Premierministers aufweist. Ghani und Abdullah stehen an der Spitze einer Regierung der nationalen Einheit (National Unity Government, NUG), auf deren Bildung sich beide Seiten in Folge der Präsidentschaftswahlen verständigten (AA 15.04.2019; vgl. AM 2015, DW 30.9.2014). Bei der Präsidentenwahl 2014 gab es Vorwürfe von Wahlbetrug in großem Stil (RFE/RL 29.05.2019). Die ursprünglich für den 20.04.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.09.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019).

Parlament und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für fünf Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.04.2019).

Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.04.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.03.2019).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.01.2017; vgl. USDOS 13.03.2019, Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 02.09.2019).

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (AA 15.04.2019; vgl. USDOS 13.03.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.09.2019 statt; ein vorläufiges Ergebnis wird laut der unabhängigen Wahlkommission (IEC) für den 14.11.2019 erwartet (RFE/RL 20.10.2019).

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. In der Provinz Kandahar musste die Stimmabgabe wegen eines Attentats auf den Provinzpolizeichef um eine Woche verschoben werden, und in der Provinz Ghazni wurde die Wahl wegen politischer Proteste, welche die Wählerregistrierung beeinträchtigten, nicht durchgeführt (s.o.). Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen. Durch Wahl bezogene Gewalt kamen 56 Personen ums Leben, und 379 wurden verletzt. Mindestens zehn Kandidaten kamen im Vorfeld der Wahl bei Angriffen ums Leben, wobei die jeweiligen Motive der Angreifer unklar waren (USDOS 13.03.2019).

Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 06.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.05.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als "Katastrophe" und die beiden Wahlkommissionen als "ineffizient" (AAN 17.05.2019).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.05.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.01.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.01.2004, USDOS 29.05.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.01.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 02.09.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.03.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 02.09.2019; vgl. AAN 06.05.2018, DOA 17.03.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 02.09.2019).

Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert, und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht, und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.03.2019).

Die Hezb-e Islami wird von Gulbuddin Hekmatyar, einem ehemaligen Warlord, der zahlreicher Kriegsverbrechen beschuldigt wird, geleitet. Im Jahr 2016 kam es zu einem Friedensschluss, und Präsident Ghani sicherte den Mitgliedern der Hezb-e Islami Immunität zu. Hekmatyar kehrte 2016 aus dem Exil nach Afghanistan zurück und kündigte im Jänner 2019 seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen 2019 an (CNA 19.01.2019).

Im Februar 2018 hat Präsident Ghani in einem Plan für Friedensgespräche mit den Taliban diesen die Anerkennung als politische Partei in Aussicht gestellt (DP 16.06.2018). Bedingung dafür ist, dass die Taliban Afghanistans Verfassung und einen Waffenstillstand akzeptieren (NZZ 27.01.2019). Die Taliban reagierten nicht offiziell auf den Vorschlag (DP 16.06.2018; s. folgender Abschnitt, Anm.).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Hochrangige Vertreter der Taliban sprachen zwischen Juli 2018 (DZ 12.08.2019) - bis zum plötzlichen Abbruch durch den US-amerikanischen Präsidenten im September 2019 (DZ 08.09.2019) - mit US-Unterhändlern über eine politische Lösung des nun schon fast 18 Jahre währenden Konflikts. Dabei ging es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan nicht zu einem sicheren Hafen für Terroristen wird. Die Gespräche sollen zudem in offizielle Friedensgespräche zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban münden. Die Taliban hatten es bisher abgelehnt, mit der afghanischen Regierung zu sprechen, die sie als "Marionette" des Westens betrachten - auch ein Waffenstillstand war Thema (DZ 12.08.2019; vgl. NZZ 12.08.2019; DZ 08.09.2019).

Präsident Ghani hatte die Taliban mehrmals aufgefordert, direkt mit seiner Regierung zu verhandeln, und zeigte sich über den Ausschluss der afghanischen Regierung von den Friedensgesprächen besorgt (NYT 28.01.2019; vgl. DP 28.01.2019, MS 28.01.2019). Bereits im Februar 2018 hatte Präsident Ghani die Taliban als gleichberechtigte Partner zu Friedensgesprächen eingeladen und ihnen eine Amnestie angeboten (CR 2018). Ein für Mitte April 2019 in Katar geplantes Dialogtreffen, bei dem die afghanische Regierung erstmals an den Friedensgesprächen mit den Taliban beteiligt gewesen wäre, kam nicht zustande (HE 16.05.2019). Im Februar und Mai 2019 fanden in Moskau Gespräche zwischen Taliban und bekannten afghanischen Oppositionspolitikern, darunter der ehemalige Staatspräsident Hamid Karzai und mehrere Warlords, statt (Qantara 12.02.2019; vgl. TN 31.05.2019). Die afghanische Regierung war weder an den beiden Friedensgesprächen in Doha, noch an dem Treffen in Moskau beteiligt (Qantara 12.02.2019; vgl. NYT 07.03.2019), was Unbehagen unter einigen Regierungsvertretern auslöste und die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Regierungen beeinträchtigte (REU 18.03.2019; vgl. WP 18.03.2019).

Vom 29.04.2019 bis 03.05.2019 tagte in Kabul die "große Ratsversammlung" (Loya Jirga). Dabei verabschiedeten deren Mitglieder eine Resolution mit dem Ziel, einen Friedensschluss mit den Taliban zu erreichen und den innerafghanischen Dialog zu fördern. Auch bot Präsident Ghani den Taliban einen Waffenstillstand während des Ramadan von 06.05.2019 bis 04.06.2019 an, betonte aber dennoch, dass dieser nicht einseitig sein würde. Des Weiteren sollten 175 gefangene Talibankämpfer freigelassen werden (BAMF 06.05.2019). Die Taliban nahmen an dieser von der Regierung einberufenen Friedensveranstaltung nicht teil (HE 16.05.2019).

Quellen:

-

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten