Index
10/07 VerwaltungsgerichtshofNorm
AsylG 2005 §6 Abs1 Z4Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zens sowie den Hofrat Dr. Pürgy und die Hofrätin Dr.in Lachmayer als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, über die Revision des J B, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 1. Februar 2019, Zl. W103 1414347-3/7E, betreffend Aberkennung des Status des Asylberechtigten (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation und Angehöriger der Volksgruppe der Tschetschenen. Er stellte gemeinsam mit seiner damaligen Ehefrau und seiner minderjährigen Tochter am 23. April 2004 einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 9. Februar 2005 wurde dem Revisionswerber und seiner Familie der Status der Asylberechtigten zuerkannt.
2 In den Jahren 2006 bis 2018 wurde der Revisionswerber insgesamt zehnmal strafgerichtlich verurteilt, wobei eine Verurteilung in Deutschland erfolgte.
3 Mit Bescheid vom 15. Oktober 2018 erkannte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) dem Revisionswerber den Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 ab und stellte fest, dass ihm keine Flüchtlingseigenschaft mehr zukomme (SP I). Der Status des subsidiär Schutzberechtigten wurde ihm nicht zuerkannt (SP II), kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gewährt (SP III) und eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 3 FPG erlassen (SP IV). Das BFA stellte fest, dass die Abschiebung zulässig sei (SP V) und verhängte ein Einreiseverbot in Höhe von zehn Jahren (SP VI). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen festgelegt (SP VII).
4 Begründet wurden die Aberkennung des Status des Asylberechtigten sowie die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten im Wesentlichen mit den erfolgten Verurteilungen des Revisionswerbers. Aufgrund der wiederholten Verurteilungen wegen ähnlicher Delikte, welche objektiv besonders wichtige Rechtsgüter betreffen würden, stelle er eine erhebliche Gefahr für die Gemeinschaft dar. Es könne nicht festgestellt werden, dass er in seinem Herkunftsstaat einem realen Risiko unterworfen wäre, einer Art. 2 oder 3 EMRK widersprechenden Gefahr ausgesetzt oder einer dem 6. oder 13. ZP widersprechenden Behandlung unterworfen zu sein. Er habe noch Familienangehörige in der Russischen Föderation, zu seinen Familienangehörigen in Österreich bestehe kein Kontakt. Eine verfestigte soziale und berufliche Integration liege nicht vor.
5 In der fristgerecht erhobenen Beschwerde brachte der Revisionswerber vor, er habe seinen Herkunftsstaat aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung durch das russische Militär bzw. den russischen Geheimdienst verlassen. Er sei in Österreich gut integriert, den Kontakt zu seinen Kindern könne er durch Beweise belegen. Das BFA habe kein ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren durchgeführt. Der Revisionswerber sei zwar straffällig geworden, sei aber dabei, sich zu resozialisieren. Seine Straftaten würden keine „besonders schweren Verbrechen“ darstellen. Das Parteiengehör sei verletzt worden, weil das BFA die Tatsachenfeststellungen, Beweiswürdigung und die Gefährdungsprognose allein auf die Aktenlage ohne Einvernahme des Revisionswerbers gestützt habe. Die Gefährdungsprognose sei unschlüssig, zumal kein besonders schweres Verbrechen begangen worden sei und die Milderungsgründe nicht berücksichtigt worden seien. Die Länderfeststellungen würden sich nur am Rande mit dem konkreten Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers befassen; auf ergänzendes Berichtsmaterial wurde verwiesen. Die privaten Interessen am Verbleib im Inland würden somit überwiegen. Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung wurde beantragt.
6 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wurde die Beschwerde - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung - als unbegründet abgewiesen und die Revision für nicht zulässig erklärt. Das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) führte dazu aus, dass das BFA in seinem Bescheid zutreffend darauf hingewiesen hätte, nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes müssten für die Anwendung des § 6 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 kumulativ vier Voraussetzungen erfüllt sein, damit ein Flüchtling trotz drohender Verfolgung in den Herkunftsstaat verbracht werden darf. Der Revisionswerber weise zum Entscheidungszeitpunkt insgesamt zehn rechtskräftige Verurteilungen wegen verschiedener Delikte gegen fremdes Vermögen, gegen die körperliche Unversehrtheit und wegen Suchtmitteldelikten auf. Der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes folgend, könne aus der Vielzahl der verübten Straftaten des Revisionswerbers und der Höhe der Freiheitsstrafen geschlossen werden, dass es sich im vorliegenden Fall insgesamt um ein „besonders schweres Verbrechen“ handelt. Im konkreten Fall sei somit von einer massiven potentiellen Gefahr des Revisionswerbers für die Allgemeinheit auszugehen, weil dieser durch die sich ständig steigernden Straftaten bewiesen habe, dass er nicht gewillt sei, sich an die österreichische Rechtsordnung zu halten. Es könne nicht prognostiziert werden, dass sich der Beschwerdeführer in Zukunft wohlverhalten bzw. nicht wieder straffällig werden würde. Lediglich der Vollständigkeit halber sei festzuhalten, dass die Aberkennung des Status des Asylberechtigten auch dann, wenn man die vom Revisionswerber begangenen Straftaten nicht als „besonders schwere Verbrechen“ qualifizieren würde, im Ergebnis dennoch zu Recht erfolgt sei, da die Umstände, aufgrund derer dem Beschwerdeführer der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden war, zum Entscheidungszeitpunkt nicht mehr bestehen würden. Im Fall des Revisionswerbers sei ein Wegfall der ursprünglichen Verfolgungsgefahr, welche zur Zuerkennung des Status des Asylberechtigten im Jahr 2005 geführt habe, festzustellen. Das BFA habe im angefochtenen Bescheid nachvollziehbare Ausführungen dahingehend getroffen, dass dem Revisionswerber im Fall einer Rückkehr zum Entscheidungszeitpunkt keine Gefährdung in seinen Rechten auf Leben und körperliche Unversehrtheit drohe und dies insbesondere mit dem Umstand begründet, dass dem Revisionswerber - selbst im Falle des tatsächlichen Bestehens einer lokalen Gefährdung durch tschetschenische Behörden - eine innerstaatliche Schutzalternative in außerhalb der Teilrepublik Tschetschenien gelegenen Landesteilen zur Verfügung stünde. Die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Moskau oder St. Petersburg sei dem Revisionswerber zumutbar.
7 Hinsichtlich der Rückkehrentscheidung führte das BVwG aus, dass sich in Österreich zwar die fünf minderjährigen Kinder sowie die Ex-Gattin des Revisionswerbers aufhalten würden, und damit die verfügte Rückkehrentscheidung einen Eingriff in das Familienleben des Revisionswerbers mit seinen minderjährigen Kindern begründen würde. Dieser erweise sich gegenständlich jedoch als gerechtfertigt. Die minderjährigen Kinder des Revisionswerbers würden mit ihm in keinem gemeinsamen Haushalt leben und keine Abhängigkeit in persönlicher oder finanzieller Hinsicht aufweisen. Nach den Angaben der Ex-Gattin hätte sie keinen Kontakt zum Revisionswerber und wären über dessen genauen Aufenthaltsort nicht informiert. Er besuche seine Kinder nicht, sie hätten ihn seit drei Jahren nicht mehr gesehen. Die Interessen des Revisionswerbers an einem Verbleib im Bundesgebiet und einer Aufrechterhaltung des persönlichen Kontakts mit seinen minderjährigen Kindern und der Kindesmutter würden aufgrund seiner kontinuierlichen Straffälligkeit gegenüber den öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung und der Verhinderung weiterer Straftaten zurücktreten. Auch im Hinblick auf den Eingriff in das Recht auf Privatleben würde die Interessenabwägung zu Lasten des Revisionswerbers ausfallen, sodass sich ein Eingriff in dieses Recht als zulässig erweise. Die Verhängung des Einreiseverbotes sei aufgrund des strafbaren Verhaltens, in dem im hohen Maße ein Unwille zur Befolgung der österreichischen Gesetze zum Ausdruck gebracht wurde und einer negativen Zukunftsprognose gerechtfertigt.
8 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die außerordentliche Revision, die zu ihrer Zulässigkeit zunächst vorbringt, das BVwG weiche von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, wonach für die Aberkennung des Status des Asylberechtigten das Vorliegen eines Verbrechens anhand der Definition des § 17 StGB gegeben sein müsse; erst in einem weiteren Schritt sei zu klären, ob dieses als besonders schwer einzustufen sei. Keines der in den Feststellungen angeführten Delikte sei mit einer drei Jahre übersteigenden Strafe bedroht und erfülle den Tatbestand eines Verbrechens. Zudem rügt die Revision Begründungsmängel im Zusammenhang mit der Gefährdungsprognose, dem Einreiseverbot und der als Alternativbegründung herangezogenen Anwendung des Wegfalls der für die Asylgewährung maßgeblichen Umstände im Sinne des § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005. Im Gegensatz zum BFA habe das BVwG diesen Ausschlussgrund unter Bezugnahme auf dieselben Länderfeststellungen herangezogen. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes erfordere die Anwendung dieses Ausschlussgrundes das Vorliegen grundlegender politischer Veränderungen im Herkunftsstaat und entsprechender diesbezüglicher Feststellungen. Es sei erforderlich, einen Vergleich zwischen den Feststellungen im Zeitpunkt der Zuerkennung des Schutzstatus und jenen im Zeitpunkt der Aberkennung vorzunehmen, was gegenständlich nicht erfolgt sei. Des Weiteren bringt die Revision vor, es sei zu Unrecht von einer mündlichen Verhandlung abgesehen worden.
9 Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Einleitung des Vorverfahrens, in dem eine Revisionsbeantwortung nicht erstattet wurde, erwogen:
10 Die Revision ist zulässig. Sie ist auch begründet.
11 Der Revisionswerber bringt zunächst vor, dass kein einziges der ihm angelasteten Delikte Verbrechen im Sinne des § 17 StGB sei.
12 Gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 ist der Status des Asylberechtigten einem Fremden von Amts wegen mit Bescheid abzuerkennen, wenn ein Asylausschlussgrund nach § 6 AsylG 2005 vorliegt.
13 § 6 AsylG 2005 (samt Überschrift) lautet:
„Ausschluss von der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten
§ 6. (1) Ein Fremder ist von der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten ausgeschlossen, wenn
1. und so lange er Schutz gemäß Art. 1 Abschnitt D der Genfer Flüchtlingskonvention genießt;
2. einer der in Art. 1 Abschnitt F der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Ausschlussgründe vorliegt;
3. aus stichhaltigen Gründen angenommen werden kann, dass der Fremde eine Gefahr für die Sicherheit der Republik Österreich darstellt, oder
4. er von einem inländischen Gericht wegen eines besonders schweren Verbrechens rechtskräftig verurteilt worden ist und wegen dieses strafbaren Verhaltens eine Gefahr für die Gemeinschaft bedeutet. Einer Verurteilung durch ein inländisches Gericht ist eine Verurteilung durch ein ausländisches Gericht gleichzuhalten, die den Voraussetzungen des § 73 StGB, BGBl. Nr. 60/1974, entspricht.
(2) Wenn ein Ausschlussgrund nach Abs. 1 vorliegt, kann der Antrag auf internationalen Schutz in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ohne weitere Prüfung abgewiesen werden. § 8 gilt.“
14 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes müssen für die Anwendung des § 6 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 kumulativ vier Voraussetzungen erfüllt sein, damit ein Flüchtling trotz drohender Verfolgung in den Herkunftsstaat verbracht werden darf. Er muss (erstens) ein besonders schweres Verbrechen verübt haben, dafür (zweitens) rechtskräftig verurteilt worden, (drittens) gemeingefährlich sein und (viertens) müssen die öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung seine Interessen am Weiterbestehen des Schutzes durch den Zufluchtsstaat überwiegen (vgl. VwGH 29.8.2019, Ra 2018/19/0522, mwN).
15 § 17 StGB bestimmt, dass Verbrechen vorsätzliche Handlungen sind, die mit lebenslanger oder zumindest mehr als dreijähriger Freiheitsstrafe bedroht sind.
16 Mit der Einteilung in Verbrechen und Vergehen trifft § 17 StGB eine grundsätzliche Unterscheidung der Straftaten, durch die das besondere Gewicht der als Verbrechen geltenden Straftaten ihrer Art nach betont werden soll. Über die Bezeichnung dieser Straftaten hinaus - mit „Verbrechen“ wird schon rein sprachlich ein höherer Unwert konnotiert - bringt die Anknüpfung an ein Mindestmaß der Strafdrohung von mehr als dreijähriger oder lebenslanger Freiheitsstrafe sowie die Einschränkung auf Vorsatztaten zum Ausdruck, dass es sich um solche handelt, denen ein besonders hoher Unrechtsgehalt innewohnt (vgl. VwGH 5.4.2018, Ra 2017/19/0531, mwN).
17 Voraussetzung für die Anwendung des § 6 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 ist demnach, dass ein Verbrechen im Sinne des § 17 StGB begangen wurde. Erst in einem zweiten Schritt ist - wie die Revision zutreffend aufzeigt - zu prüfen, ob es sich dabei - oder gegebenenfalls in einer Zusammenschau mehrerer begangener Delikte - um ein besonders schweres Verbrechen handelt.
18 Nach den Feststellungen des BVwG handelt es sich bei den in Österreich begangenen und strafrechtlich geahndeten Delikten ausschließlich um Vergehen im Sinne des § 17 Abs. 2 StGB. Im Hinblick auf die Verurteilung in Deutschland ist zunächst darauf zu verweisen, dass gemäß § 6 Abs. 1 Z 4 zweiter Satz AsylG 2005 einer Verurteilung durch ein inländisches Gericht eine Verurteilung durch ein ausländisches Gericht, die den Voraussetzungen des § 73 StGB entspricht, gleichzuhalten ist (vgl. VwGH 28.11.2019, Ra 2018/19/0479). Das Erkenntnis des BVwG enthält allerdings keine ausreichenden Feststellungen, um dem Verwaltungsgerichthof eine Beurteilung zu ermöglichen, ob es sich bei der begangenen Tat um ein Verbrechen oder ein Vergehen handelt.
19 Die Feststellungen vermögen daher die Beurteilung des BVwG, fallbezogen liege ein besonders schweres Verbrechen vor, nicht zu tragen. Insoweit das BVwG sich auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes stützt, wonach auch im Fall einer Vielzahl einschlägiger rechtskräftiger Verurteilungen und insofern verhängter, beträchtlicher und überwiegend unbedingter Freiheitsstrafen, verwirklichte Delikte in einer Gesamtbetrachtung als „besonders schweres Verbrechen“ qualifiziert werden könnten (vgl. VwGH 29.8.2019, Ra 2018/19/0522, mwN), ist darauf zu verweisen, dass nach den Feststellungen in diesen Judikaten stets neben Vergehen auch Verbrechen begangen wurden.
20 In Zusammenhang mit der vom BVwG vorgenommenen Alternativbegründung des Wegfalls der Umstände im Sinne des § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 iVm Art. 1 Abschnitt C Z 5 GFK macht die Revision einen Begründungsmangel geltend. Es würden Feststellungen zu den erfolgten grundlegenden politischen Veränderungen und eine Gegenüberstellung der derzeitigen politischen Verhältnisse mit jenen zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten fehlen, wodurch der Verwaltungsgerichtshof an der Überprüfung der angefochtenen Entscheidung gehindert würde.
21 Es ist der Revision zunächst zuzustimmen, dass in den Feststellungen selbst keine im Einzelnen mangelfreie Gegenüberstellung der seinerzeitigen politischen Verhältnisse, die zu einer Asylgewährung geführt haben, und der eingetretenen Veränderungen im Herkunftsstaat erfolgt ist. Damit wird zutreffend ein Verfahrensfehler aufgezeigt. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes reicht es aber nicht aus, die Außerachtlassung von Verfahrensvorschriften zu behaupten, ohne die Relevanz der geltend gemachten Verfahrensmängel konkret darzulegen (vgl. VwGH 31.1.2019, Ra 2018/14/0252, mwN). Die Revision enthält keinerlei Vorbringen, dass der Revisionswerber bei einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat von asylrelevanter Verfolgung bedroht und seine bisherigen Fluchtgründe weiterhin aufrecht wären bzw. keine Veränderung der politischen Verhältnisse, die zur seinerzeitigen Asylgewährung geführt haben, stattgefunden hätte. Im Gegensatz zur Ansicht der Revision ist es dem Verwaltungsgerichtshof nämlich möglich, die angefochtene Entscheidung zu überprüfen, weil sich aus den teilweise dislozierten Feststellungen, den beweiswürdigenden Überlegungen und der rechtlichen Beurteilung noch erkennbar ergibt, wieso das BVwG von einer für die Aberkennung relevanten Lageänderung im Herkunftsstaat ausgegangen ist bzw. der Ansicht ist, dass dem Revisionswerber keine asylrelevante Verfolgung mehr drohen würde. Den diesbezüglichen Erwägungen tritt die Revision in keiner Weise entgegen. Der bloße Hinweis darauf, dass bei einer Verneinung des Vorliegens der Voraussetzungen für einen Endigungstatbestand nach Art. 1 Abschnitt C Z 5 GFK keine sonstigen, die Aberkennung rechtfertigenden Umstände vorliegen würden, stellt keine Relevanzdarstellung im Sinne der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes dar.
22 Auch im Zusammenhang mit der im Zuge der Verhängung eines Einreisverbotes erfolgten Gefährdungsprognose macht die Revision einen Begründungsmangel geltend.
23 Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist bei einer solchen Gefährdungsprognose das Gesamtverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen und auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahingehend vorzunehmen, ob und im Hinblick auf welche Umstände die jeweils anzuwendende Gefährdungsannahme gerechtfertigt ist. Dabei ist nicht auf die bloße Tatsache einer Verurteilung bzw. Bestrafung des Fremden, sondern auf die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen (vgl. VwGH 4.4.2019, Ra 2019/21/0060, mwN). Entgegen dem Revisionsvorbringen legte das BVwG seine diesbezüglichen Überlegungen offen und nahm eine Interessenabwägung vor. Diese ist auch ausreichend einer Überprüfung durch den Verwaltungsgerichtshof zugänglich. Inhaltlich tritt die Revision der Beurteilung des BVwG nicht entgegen, weshalb sie auch nicht aufzuzeigen vermag, dass die rechtliche Beurteilung des BVwG unzutreffend erfolgt wäre.
24 Im Recht ist die Revision allerdings mit dem Vorbringen, es wäre zu Unrecht von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen worden.
25 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind zur Beurteilung, ob der Sachverhalt im Sinn des § 21 Abs. 7 BFA-VG geklärt erscheint und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach dieser Bestimmung unterbleiben kann, folgende Kriterien beachtlich:
26 Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das BVwG die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen (vgl. grundlegend VwGH 28.5.2014, Ra 2014/20/0017, 0018; sowie aus der ständigen Rechtsprechung etwa VwGH 9.1.2020, Ra 2018/19/0501, mwN).
27 Diesen Grundsätzen hat das BVwG im vorliegenden Fall nicht entsprochen:
28 Der Revisionswerber ist in seiner Beschwerde der Beweiswürdigung des BFA inhaltlich entgegengetreten, indem er ergänzende Länderberichte zur Situation in der Russischen Föderation vorgelegt hat, der Gefährdungsprognose mit näheren Argumenten entgegengetreten ist und die Aussagen seiner Ex-Ehefrau zum Kontakt mit seinen Kindern bestritten hat. Der Revisionswerber hat den von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhalt damit nicht bloß unsubstantiiert bestritten. Zudem hat das BVwG sich als Alternativbegründung auf einen vom BFA nicht herangezogenen Aberkennungsgrund gestützt und im Hinblick darauf auch eine ergänzende Beweiswürdigung vorgenommen.
29 Weiters kommt nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks im Rahmen einer mündlichen Verhandlung sowohl in Bezug auf die Gefährdungsprognose als auch in Bezug auf die für die Abwägung nach Art. 8 EMRK relevanten Umstände besondere Bedeutung zu. Das gilt sinngemäß auch für die einzelfallbezogene Erstellung einer Gefährdungsprognose hinsichtlich des Erfordernisses der Gemeingefährlichkeit im Sinn des § 6 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 (vgl. VwGH 29.8.2019, Ra 2018/19/0522, mwN) und bei der Verhängung eines Einreiseverbotes. Der Verwaltungsgerichtshof hat zwar in diesem Zusammenhang bereits wiederholt darauf hingewiesen, dass daraus noch keine „absolute“ (generelle) Pflicht zur Durchführung einer mündlichen Verhandlung in Verfahren über die Aberkennung des Status des Asylberechtigten und aufenthaltsbeendende Maßnahmen abzuleiten ist (vgl. VwGH 18.11.2019, Ra 2019/18/0418), gleichzeitig aber in seiner Judikatur betont, dass nur (ausnahmsweise) von der Durchführung einer Verhandlung unter anderem dann abgesehen werden kann, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt scheint (vgl. etwa VwGH 10.8.2017, Ra 2016/20/0105, 0106, mwN).
30 Die Voraussetzungen für ein Absehen von der Verhandlung lagen im gegenständlichen Fall nicht vor. Der Revisionswerber rügt zu Recht, dass sich das BVwG einen persönlichen Eindruck von ihm auch aufgrund des dazu erstatteten Beschwerdevorbringens in Bezug auf die Gefährdungsprognose hätte verschaffen müssen (vgl. VwGH 23.3.2020, Ra 2019/14/0334).
31 Demnach lagen die Voraussetzungen für die Abstandnahme von einer Verhandlung nicht vor. Die Missachtung der Verhandlungspflicht führt im Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK und des - wie hier gegeben - Art. 47 GRC zur Aufhebung wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, ohne dass die Relevanz dieses Verfahrensmangels geprüft werden müsste (vgl. VwGH 29.8.2019, Ra 2019/19/0138, mwN).
32 Das angefochtene Erkenntnis des BVwG war daher aufgrund der in Rn 19 aufgezeigten prävalierenden inhaltlichen Rechtswidrigkeit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
33 Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 25. Mai 2020
Schlagworte
Besondere RechtsgebieteEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019190116.L00Im RIS seit
08.07.2020Zuletzt aktualisiert am
14.07.2020