TE Vwgh Erkenntnis 2020/5/28 Ra 2020/21/0056

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 28.05.2020
beobachten
merken

Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
BFA-VG 2014 §9
BFA-VG 2014 §9 Abs2
BFA-VG 2014 §9 Abs3
FrPolG 2005 §52 Abs3
FrPolG 2005 §52 Abs9
MRK Art8
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant sowie die Hofräte Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des H P B (auch: B) in K, vertreten durch Dr. Farhad Paya, Rechtsanwalt in 9020 Klagenfurt, Herrengasse 12/I, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 23. Jänner 2020, W212 1264175-2/4E, betreffend Abweisung eines Antrags auf Erteilung (Verlängerung) eines Aufenthaltstitels nach § 57 AsylG 2005 sowie Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das genannte Erkenntnis wird im Umfang seiner Anfechtung (betreffend die Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen) wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein 1965 geborener indischer Staatsangehöriger, stellte nach seiner Einreise in das Bundesgebiet am 29. Oktober 2004 einen Asylantrag. Dieser wurde letztlich mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 10. Juni 2011 zur Gänze abgewiesen, außerdem wurde (insbesondere) die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Revisionswerbers nach Indien für zulässig erklärt und der Revisionswerber nach Indien ausgewiesen.

2        Der Revisionswerber kam seiner Ausreiseverpflichtung nicht nach. Am 13. Mai 2014 wurde ihm eine Karte für Geduldete ausgestellt. Am 19. August 2015 wurde ihm eine „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ gemäß § 57 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 erteilt. Diese wurde wiederholt, zuletzt mit Geltung bis zum 11. Mai 2018, verlängert.

3        Mit Bescheid vom 23. September 2019 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des Revisionswerbers auf Verlängerung der„Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ vom 21. März 2018 gemäß § 57 AsylG 2005 ab. Es erließ gemäß § 52 Abs. 3 FPG eine Rückkehrentscheidung, stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass seine Abschiebung nach Indien zulässig sei, und bestimmte gemäß § 55 FPG eine 14-tägige Frist ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung für die freiwillige Ausreise.

4        Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 23. Jänner 2020 wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers als unbegründet ab. Es sprach gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

5        Begründend führte das BVwG im Wesentlichen aus, der Revisionswerber habe sich bereits am 5. Mai 2008 und neuerlich am 3. April 2017 bei der indischen Vertretungsbehörde in Wien einen Reisepass ausstellen lassen. Dies habe er der Fremdenbehörde sowohl im - seit Juni 2011 ohne Erfolg geführten - Verfahren zur Erlangung eines Heimreisezertifikates als auch betreffend seine Duldung und die Erteilung einer „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ nach § 57 AsylG 2005 verschwiegen. Darüber hinaus habe er bei seiner Einvernahme vom 31. Mai 2016 ausgeführt, keinen Reisepass zu besitzen. Einem Auftrag des BFA vom 10. Mai 2017, seinen Reisepass vorzulegen, sei er nicht nachgekommen. Erst im Zuge des Verfahrens über den gegenständlichen, am 21. März 2018 gestellten Verlängerungsantrag habe er dem BFA den zuletzt ausgestellten Reisepass vom 3. April 2017 vorgelegt.

Der durchgehend in Österreich aufhältige, über eine Wohnung verfügende Revisionswerber sei strafgerichtlich unbescholten. Er sei seit Jänner 2012 berufstätig, arbeite seit Dezember 2017 als Reinigungskraft, sei deshalb selbsterhaltungsfähig und habe seit Abschluss des Asylverfahrens keine staatlichen Unterstützungsleistungen bezogen. Am 13. Dezember 2013 habe er die Deutschprüfung auf dem Niveau A2 bestanden und beabsichtige in naher Zukunft die Ablegung der Deutschprüfung auf dem Niveau B1. Er habe in Österreich einen Freundes- und Bekanntenkreis erworben, verfüge jedoch weder über Verwandte noch über enge soziale Bindungen. Seine Ehefrau und zwei Kinder im Alter von 15 und 20 Jahren, für deren Unterhalt er von Österreich aus sorge, lebten in Indien.

6        Rechtlich folgerte das BVwG, der Revisionswerber habe insbesondere seit Rechtskraft des erwähnten Erkenntnisses des Asylgerichtshofes vom 10. Juni 2011 die Möglichkeit gehabt, seiner Ausreiseverpflichtung durch Verwendung des ihm ausgestellten Reisepasses nachzukommen. Auch wäre seine Abschiebung möglich gewesen. Der Revisionswerber habe den Besitz des Reisepasses dem BFA gegenüber jedoch verschwiegen und dadurch seine Duldung erschlichen. Insgesamt lägen keine Gründe für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 57 Abs. 1 AsylG 2005 vor.

Im Rahmen der nach § 9 Abs. 2 BFA-VG für die Frage der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung angestellten Abwägung berücksichtigte das BVwG den mehr als 15-jährigen Aufenthalt des Revisionswerbers im Bundesgebiet sowie das dargestellte Maß an beruflicher, sozialer und sprachlicher Integration. Deren Gewicht sei allerdings aufgrund der Stellung eines unberechtigten Asylantrages, des darauf folgenden unrechtmäßigen Verbleibs im Bundesgebiet im Bewusstsein des unsicheren Aufenthaltsstatus und damit auch der Vorläufigkeit seiner Integrationsschritte sowie vor allem aufgrund der missbräuchlichen Erschleichung einer Duldung relativiert.

Der 1965 geborene Revisionswerber sei erst im Jahr 2004 nach Österreich gelangt, sei in Indien sozialisiert worden und spreche die Landesspreche auf muttersprachlichem Niveau. Er sei gesund und könne einer regelmäßigen Arbeit nachgehen. Daher und aufgrund seiner familiären Anknüpfungspunkte sei mit der Möglichkeit einer Reintegration im Heimatstaat zu rechnen. Den privaten Interessen des Revisionswerbers an einem weiteren Aufenthalt in Österreich stünden gewichtige öffentliche Interessen an einem geordneten Fremdenwesen gegenüber, welche die persönlichen Interessen des Revisionswerbers überwögen.

Die Durchführung der in der Beschwerde beantragten mündlichen Verhandlung habe gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG unterbleiben können, weil der Sachverhalt bereits aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt sei. Anhaltspunkte für weiteren Klärungsbedarf seien nicht hervorgekommen.

7        Gegen dieses Erkenntnis - im Umfang der Rückkehrentscheidung sowie der damit im Zusammenhang stehenden Aussprüche - richtet sich die vorliegende Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung des Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:

8        Die Revision erweist sich schon deshalb als zulässig und berechtigt, weil das BVwG von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zum Erfordernis der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgewichen ist.

9        Bei der Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG und damit bei der Beurteilung der Frage, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte darstellt und somit zu unterbleiben hat, ist, wie bereits das BVwG angeführt hat, unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenen Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen. Dabei geht der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen ist. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurde eine aufenthaltsbeendende Maßnahme (und umgekehrt die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005) ausnahmsweise nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen (vgl. etwa VwGH 24.10.2019, Ra 2019/21/0117, Rn. 10).

10       Dem BVwG, das die vorstehend angeführte Rechtsprechungslinie zitiert, ist aber auch darin beizupflichten, dass trotz solcher integrationsbegründender Aspekte dann nicht zwingend von einem Überwiegen des persönlichen Interesses eines Fremden auszugehen ist, wenn dem Umstände entgegenstehen, die das gegen einen Verbleib im Inland sprechende öffentliche Interessen verstärken bzw. die Länge der Aufenthaltsdauer im Inland relativieren (vgl. dazu grundlegend etwa VwGH 17.10.2016, Ro 2016/22/0005, Rn. 11 bis 16, mwN).

11       Von einem Fehlen nennenswerter Integration kann fallbezogen bereits angesichts der vom BVwG als erwiesen erachteten beruflichen, sprachlichen und sozialen Integrationsschritte des Revisionswerbers nicht die Rede sein. Dazu kommt, dass der inländische Aufenthalt des Revisionswerbers bereits seit Oktober 2004, also seit mehr als 15 Jahren, andauert, sodass die „Zehnjahresgrenze“ deutlich überschritten wurde. Vor diesem Hintergrund verlieren aber auch die festgestellten, das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung des Revisionswerbers grundsätzlich verstärkenden Umstände etwas an Bedeutung. Das dem Revisionswerber vorgeworfene Verschweigen des Besitzes eines Reisepasses stellt kein Verhalten dar, das die hieraus vom BVwG gezogene Schlussfolgerung als - ungeachtet anderer in Anschlag zu bringender Gesichtspunkte - zwingend erscheinen ließe.

12       Jedenfalls von daher kommt der unbestrittenen, mehr als 15-jährigen Dauer des durchgehenden Aufenthalts in Österreich und dem dabei erreichten Maß an Integration ein solches Gewicht zu, dass nicht mehr vom Vorliegen eines eindeutigen Falles die Rede sein kann. Das BVwG hätte sich demnach - im Zuge der beantragten Beschwerdeverhandlung - einen persönlichen Eindruck vom Revisionswerber verschaffen müssen, ehe es zu der Beurteilung gelangen durfte, die gebotene Interessenabwägung habe zu dessen Lasten auszugehen (siehe zur ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, wonach der Verschaffung eines persönlichen Eindruckes im Rahmen einer mündlichen Verhandlung bei der Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen besondere Bedeutung zukommt, etwa VwGH 19.9.2019, Ra 2019/21/0100, Rn. 20, mwN).

13       Von daher kann das Erkenntnis im Umfang seiner Anfechtung keinen Bestand haben und war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

14       Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 28. Mai 2020

Schlagworte

Begründung Begründungsmangel Besondere Rechtsgebiete

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020210056.L00

Im RIS seit

15.07.2020

Zuletzt aktualisiert am

15.07.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten