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10/07 VerwaltungsgerichtshofNorm
AsylG 2005 §20Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Hinterwirth, den Hofrat Mag. Eder und die Hofrätin Mag. Rossmeisel als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kieslich, über die Revision des A S in W, vertreten durch Mag. Eva Velibeyoglu, Rechtsanwältin in 1100 Wien, Columbusgasse 65/22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 5. Dezember 2019, W169 2225998-1/2E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein indischer Staatsangehöriger, stellte am 9. Oktober 2019 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005). Bei der Erstbefragung gab er an, dass er aus seinem Heimatland geflohen sei, weil es einen Streit über seine Landwirtschaft gebe und ihn infolgedessen Verwandte seines Vaters töten wollten.
2 In der Vernehmung vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 25. Oktober 2019 führte der Revisionswerber aus, es habe im Jahr 2017 eine Auseinandersetzung mit dem Onkel gegeben. Dabei habe dieser den Revisionswerber und seine Eltern geschlagen und schwer verletzt. Auch seien er (nach den weiteren Angaben: im Jänner 2019) und seine Schwester (den Angaben des Revisionswerbers zufolge: im Jahr 2018) von fünf bis sieben Personen vergewaltigt worden. Von dieser Vergewaltigung sei ein Video angefertigt worden. Daraufhin habe sich seine Schwester umgebracht. Davon habe er in der Erstbefragung nichts erwähnt, weil sie (offenkundig gemeint: der die Erstbefragung durchführende Polizeibeamte und der beigezogene Dolmetscher) es eilig gehabt hätten, er sich damals nicht wohl gefühlt habe und daher „die andere Sache“ nicht habe „sagen“ können.
3 Auf die bei der Vernehmung durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vom anwesenden Rechtsberater gestellte Zwischenfrage, ob der Revisionswerber eine Befragung durch ein „männliches Team“ wünsche, erwiderte der Revisionswerber: „Es ist in Ordnung, wir können weiter machen“. Die Frage, ob er Angaben zu seiner Vergewaltigung machen könne, verneinte der Revisionswerber mit der Ergänzung, dass er beginne, sich selbst zu hassen, wenn er davon spreche.
4 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies den Antrag des Revisionswerbers mit Bescheid vom 28. Oktober 2019 ab und sprach aus, dass ihm kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigenden Gründen erteilt, gegen ihn eine Rückkehrentscheidung sowie ein auf die Dauer von einem Jahr befristetes Einreiseverbot erlassen und festgestellt werde, dass seine Abschiebung nach Indien zulässig sei. Eine Frist für die freiwillige Ausreise wurde nicht eingeräumt. Einer Beschwerde wurde die aufschiebende Wirkung aberkannt.
5 In seiner Begründung führte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl - soweit für das Revisionsverfahren von Interesse - aus, das Vorbringen zu den Gründen für die Flucht aus dem Heimatland sei unglaubwürdig. Dass der Revisionswerber vergewaltigt worden sei, habe er nur einmal während der Befragung durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl erwähnt. Erst als der „komplette Sachverhalt bereits geklärt“ gewesen sei, sei er nochmals auf dieses Thema zurückgekommen, habe aber dazu keine Fragen beantwortet.
6 Der Revisionswerber erhob Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht, in der er (auch) darauf verwies, sexuell misshandelt und vergewaltigt worden zu sein. Er beantragte die Durchführung einer Verhandlung.
7 Das Verfahren über die Beschwerde wurde beim Bundesverwaltungsgericht der von einer Richterin geleiteten Gerichtsabteilung W169 zugewiesen.
8 Mit dem ohne Durchführung der beantragten Verhandlung erlassenen und von der die Gerichtsabteilung W169 leitenden Richterin gefassten Erkenntnis vom 5. Dezember 2019 gab das Bundesverwaltungsgericht der Beschwerde gegen die Erlassung des Einreiseverbotes statt und hob den diesbezüglich im bekämpften Bescheid enthaltenen Ausspruch auf. Hinsichtlich der übrigen behördlichen Aussprüche wies es die Beschwerde als unbegründet ab. Unter einem sprach das Verwaltungsgericht aus, dass die Erhebung einer Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
9 In seiner Begründung ging das Bundesverwaltungsgericht - soweit hier wesentlich - davon aus, dass das Vorbringen des Revisionswerbers zu den Gründen der Flucht aus seinem Herkunftsland, im Besonderen auch zu der von ihm angeführten Vergewaltigung, unglaubwürdig sei. Zur Frage der Besetzung des Gerichts merkte das Verwaltungsgericht (lediglich) an, dass das gegenständliche Verfahren in die Zuständigkeit des Einzelrichters falle.
10 Den Ausspruch über die Unzulässigkeit der Revision begründete das Bundesverwaltungsgericht mit der Verneinung der in Art. 133 Abs. 4 B-VG genannten Voraussetzungen. Die für die Entscheidung maßgebliche Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs sei im Rahmen der jeweiligen Erwägungen wiedergegeben worden.
11 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen dieses Erkenntnis erhobene Revision nach Vorlage derselben und der Verfahrensakten durch das Bundesverwaltungsgericht sowie nach Einleitung des Vorverfahrens - es wurde keine Revisionsbeantwortung erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
12 Zur Zulässigkeit der Revision wird vorgebracht, das Bundesverwaltungsgericht habe trotz des Vorbringens zu einem Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung nicht durch einen Richter desselben Geschlechts wie der Revisionswerber entschieden. Die „Nichtgewährung eines Richters desselben Geschlechts“ widerspreche auch dann § 20 AsylG 2005 und der dazu ergangenen Rechtsprechung, wenn keine Verhandlung stattgefunden habe. Das Unterbleiben der Verhandlung sei allerdings ebenfalls gesetzwidrig gewesen.
13 Die Revision ist zulässig und berechtigt.
14 § 20 Abs. 1 und Abs. 2 AsylG 2005 lautet (samt Überschrift):
„Einvernahmen von Opfern bei Eingriffen in die sexuelle Selbstbestimmung
§ 20. (1) Gründet ein Asylwerber seine Furcht vor Verfolgung (Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention) auf Eingriffe in seine sexuelle Selbstbestimmung, ist er von einem Organwalter desselben Geschlechts einzuvernehmen, es sei denn, dass er anderes verlangt. Von dem Bestehen dieser Möglichkeit ist der Asylwerber nachweislich in Kenntnis zu setzen.
(2) Für Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gilt Abs. 1 nur, wenn der Asylwerber den Eingriff in seine sexuelle Selbstbestimmung bereits vor dem Bundesamt oder in der Beschwerde behauptet hat. Diesfalls ist eine Verhandlung von einem Einzelrichter desselben Geschlechts oder einem aus Richtern desselben Geschlechts bestehenden Senat durchzuführen. Ein Verlangen nach Abs. 1 ist spätestens gleichzeitig mit der Beschwerde zu stellen.
...“
15 Nach dem Zweck des § 20 Abs. 2 AsylG 2005 soll die Durchführung der mündlichen Verhandlung durch einen Richter desselben Geschlechts den Abbau von Hemmschwellen bei der Schilderung von Eingriffen in die sexuelle Selbstbestimmung bewirken. Gleiches gilt für die Furcht vor noch nicht stattgefundenen, sondern drohenden Eingriffen in die sexuelle Selbstbestimmung (vgl. etwa VwGH 13.2.2020, Ro 2019/01/0007).
16 Soweit § 20 Abs. 2 AsylG 2005 auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung abstellt, hat der Verwaltungsgerichtshof in seiner Rechtsprechung festgehalten, dass eine Rechtssache, in der ein Asylwerber einen Eingriff in seine sexuelle Selbstbestimmung spätestens in der Beschwerde geltend macht, gleich bei Beschwerdeanfall und nicht erst dann, wenn sich nach dessen Prüfung die Durchführung einer mündlichen Verhandlung als notwendig erweist, einem Einzelrichter desselben Geschlechts zur Behandlung zuzuweisen ist, sofern der Asylwerber nicht anderes verlangt. Andernfalls würde nämlich der ursprünglich zuständige Richter eine inhaltliche Entscheidung treffen, die nach der Festlegung des Gesetzgebers nur das entsprechend der Behauptung des Asylwerbers betreffend einen Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung von Anfang an richtig zusammengesetzte Organ des Bundesverwaltungsgerichts treffen darf. Die Zuständigkeit wird also bereits durch die entsprechende Behauptung vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl oder in der Beschwerde begründet, ohne dass dabei eine nähere Prüfung der Glaubwürdigkeit zu erfolgen hätte oder bereits ein Zusammenhang mit dem konkreten Fluchtvorbringen herzustellen wäre (vgl. auch dazu VwGH Ro 2019/01/0007, Rn. 19, unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes, der sich der Verwaltungsgerichtshof angeschlossen hat).
17 Der Revisionswerber brachte bereits vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vor, dass er vergewaltigt worden sei. Davon sei auch ein Video angefertigt worden. Es sei dem Revisionswerber mit der Verbreitung des Videos für den Fall, dass er jemanden von der Vergewaltigung erzählen sollte, gedroht worden. Dass damit vom Revisionswerber ein Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung im Sinn des § 20 AsylG 2005 geltend gemacht wurde, steht außer Zweifel.
18 Dann aber wäre das Verfahren über die gegenständliche Beschwerdesache gemäß § 20 Abs. 2 AsylG 2005 grundsätzlich von einem Richter desselben Geschlechts wie der Revisionswerber zu führen gewesen. Die hier durch eine Richterin erfolgte Entscheidung über die Beschwerde könnte nur dann mit den Bestimmungen des § 20 AsylG 2005 im Einklang stehen, wenn der Revisionswerber gemäß § 20 Abs. 2 AsylG 2005 „spätestens gleichzeitig mit der Beschwerde“ ein Verlangen im Sinn des § 20 Abs. 1 AsylG 2005 gestellt - er also „anderes verlangt“ - gehabt hätte. Derartiges ist den Verfahrensakten aber nicht zweifelsfrei zu entnehmen. Zwar schließen es die vom Revisionswerber gegenüber dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl auf die Frage, ob er die Vernehmung durch ein „männliches Team“ wünsche, gemachten Ausführungen „Es ist in Ordnung, wir können weiter machen“ nicht von vornherein gänzlich aus, dass ein solches Verlangen vorliegen könnte. Diese Äußerung legt aufgrund ihrer Formulierung ein solches Begehren andererseits aber auch nicht ohne Weiteres nahe. Mit der Frage, ob der Revisionswerber mit diesen Angaben - was in der Revision bestritten wird - ein Verlangen im Sinn des § 20 Abs. 1 AsylG 2005 zum Ausdruck gebracht hat, hat sich das Bundesverwaltungsgericht überhaupt nicht befasst und infolge dessen auch keine hinreichenden Feststellungen getroffen, die eine solche Beurteilung ermöglicht hätten.
19 Der Verstoß gegen § 20 Abs. 2 AsylG 2005 kann vor dem Verwaltungsgerichtshof als Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichtes geltend gemacht werden. Die Darstellung der Relevanz für den Verfahrensausgang ist diesfalls nicht erforderlich (vgl. VwGH 27.6.2016, Ra 2014/18/0161). Im vorliegenden Fall bedarf es allerdings, um die Frage der Gerichtsbesetzung einer dem Gesetz entsprechenden einwandfreien Beurteilung zuführen zu können, noch einer - nach weiteren Ermittlungen vorzunehmenden - Ergänzung des Sachverhalts.
20 Sohin war das angefochtene Erkenntnis - infolge der nicht eingeschränkten Anfechtungserklärung und weil die rechtlich von der in Bezug auf den Antrag auf internationalen Schutz erfolgten Beschwerdeabweisung abhängenden Aussprüche ihre rechtlichen Grundlagen verlieren - zur Gänze gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
21 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Das auf die Zuerkennung von Aufwendungen für Umsatzsteuer und „WEB-ERV“ gerichtete Mehrbegehren war abzuweisen, weil die Umsatzsteuer im in dem hier anzuwendenden § 1 Z 1 lit. a erster Fall VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014 festgelegten Betrag bereits enthalten ist (vgl. VwGH 25.2.2020, Ra 2019/03/0120, mwN) und in dieser Verordnung ein Zuschlag für eine im Weg des elektronischen Rechtsverkehrs erfolgte Einbringung des Revisionsschriftsatzes nicht vorgesehen ist (vgl. VwGH 4.3.2020, Ra 2019/21/0380, mwN).
Wien, am 26. Mai 2020
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020200031.L00Im RIS seit
22.07.2020Zuletzt aktualisiert am
22.07.2020