Entscheidungsdatum
14.03.2019Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W275 2211298-1/2E
W275 2211305-1/2E
W275 2211301-1/2E
W275 2211307-1/2E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Stella VAN AKEN als Einzelrichterin über die Beschwerden von 1. XXXX , geb. XXXX , 2. XXXX , geb. XXXX , 3. XXXX , geb. XXXX , und 4. XXXX , geb. XXXX , alle StA. Ukraine, vertreten durch Rechtsanwalt E. DAIGNEAULT, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 1. und 3. 09.11.2018, 2. und 4. 12.11.2018, Zahlen 1. 1030350010-14925926, 2. 1030349608-14925888, 3. 1030349706-14925896 und 4. 1030349902-14925900, zu Recht:
A)
Die Beschwerden werden als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG (jeweils) nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind verheiratet und Eltern des bei der Antragstellung minderjährigen, nunmehr volljährigen Drittbeschwerdeführers sowie des minderjährigen Viertbeschwerdeführers.
Die Zweitbeschwerdeführerin reiste am XXXX illegal nach Österreich ein. Der Viertbeschwerdeführer wurde am XXXX im Bundesgebiet geboren. Der Drittbeschwerdeführer reiste Ende XXXX illegal nach Österreich ein. Der Erstbeschwerdeführer reiste am XXXX illegal nach Österreich ein.
Am 30.08.2014 stellten alle Beschwerdeführer Anträge auf internationalen Schutz. Der Erstbeschwerdeführer, die Zweitbeschwerdeführerin und der Drittbeschwerdeführer wurden am selben Tag vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt. Dabei gab der Erstbeschwerdeführer im Wesentlichen an, dass er auf Grund des in der Ukraine herrschenden Krieges Angst vor einer Einberufung zum Militär gehabt habe. Die Zweitbeschwerdeführerin brachte insbesondere vor, ursprünglich aufgrund von Problemen während ihrer Schwangerschaft nach Österreich gekommen zu sein und nunmehr einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen, weil ihr Mann aus der Ukraine geflüchtet sei und einen Antrag auf internationalen Schutz stelle. Der Drittbeschwerdeführer erklärte im Wesentlichen, er wolle mit seiner Familie in Wien leben, die Schule fertigmachen und sich hier eine Zukunft aufbauen.
Am 10.10.2017 fanden die niederschriftlichen Einvernahmen des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl statt. Der Erstbeschwerdeführer brachte dabei im Wesentlichen vor, dass er im August 2014 einen Einberufungsbefehl erhalten habe. Er sei selbst nicht zu Hause gewesen, das Militär hätte nur seine Mutter angetroffen. Daraufhin habe er sich entschlossen zu fliehen. Die Zweitbeschwerdeführerin gab an, für sich und den minderjährigen Viertbeschwerdeführer Anträge auf internationalen Schutz im Familienverfahren zu stellen und keine eigenen Fluchtgründe zu haben. Sie hätte die Ukraine verlassen, weil sie schwanger gewesen und es in diesem Zusammenhang zu Komplikationen gekommen sei.
Mit Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme vom 24.11.2017 wurde die Zweitbeschwerdeführerin durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl aufgefordert, aktuelle medizinische Befunde, vor allem in Bezug auf ihre Operation vom XXXX , vorzulegen sowie Informationen über den derzeitigen Gesundheitszustand des Drittbeschwerdeführers und dessen momentanen Aufenthaltsort bekanntzugeben.
Diesbezüglich erging am 09.12.2017 eine Mitteilung der Zweitbeschwerdeführerin, in welcher sie ausführte, dass ihr am XXXX ein Magenbypass gesetzt worden sei und sie derzeit Medikamente einnehme. Der Drittbeschwerdeführer leide an einer milden Form der Schizophrenie und sei erst kürzlich mehrere Wochen im XXXX untergebracht gewesen. Der Mitteilung wurden Patientenbriefe betreffend die Zweitbeschwerdeführerin und den Drittbeschwerdeführer angeschlossen.
Am 28.08.2018 wurden der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin neuerlich sowie der Drittbeschwerdeführer erstmals vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl einvernommen. Die Zweitbeschwerdeführerin führte im Wesentlichen aus, dass sie medizinische Dokumente vorlegen könne und diverse gesundheitliche Probleme habe. Der Drittbeschwerdeführer brachte insbesondere vor, wehrpflichtig zu sein, er sei an seiner Meldeadresse von der Militärpolizei gesucht worden und würde verhaftet werden, wenn er seiner Wehrpflicht nicht nachkomme.
Am 11.09.2018 brachten die Beschwerdeführer eine Stellungnahme beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ein, in welcher sie sich zum Länderinformationsblatt für die Ukraine insbesondere im Hinblick auf die medizinische Versorgung in der Ukraine äußerten und auf den Schulbesuch des Dritt- und Viertbeschwerdeführers hinwiesen.
Mit oben genannten Bescheiden vom 09.11.2018 (Erstbeschwerdeführer und Drittbeschwerdeführer) beziehungsweise 12.11.2018 (Zweitbeschwerdeführerin und minderjähriger Viertbeschwerdeführer) wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab, erteilte ihnen gemäß § 57 AsylG 2005 keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigenden Gründen (Spruchpunkt III.) und erließ gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG gegen die Beschwerdeführer (Spruchpunkt IV). In Spruchpunkt V. wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung der Beschwerdeführer gemäß § 46 FPG in die Ukraine zulässig sei und in Spruchpunkt VI. die Frist zur freiwilligen Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG mit vierzehn Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt.
Gegen diese Bescheide wurde fristgerecht Beschwerde erhoben, in welcher die Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung beantragt und insbesondere ausgeführt wird, dass die Familie die Ukraine verlassen habe, da Krieg herrsche und der Erstbeschwerdeführer nicht zum Militär einberufen werden wolle. Die belangte Behörde habe in den angefochtenen Bescheiden argumentiert, dass sich der Erstbeschwerdeführer mehrfach in Widersprüche verwickelt und den Fluchtgrund bloß vage und oberflächlich geschildert habe, sodass nicht von einer asylrelevanten Verfolgung auszugehen sei. Abschließend wurde im Wesentlichen auf eine aktuelle medizinische Behandlungsbedürftigkeit der Zweitbeschwerdeführerin sowie den Umstand, dass der Drittbeschwerdeführer an einer milden Form der Schizophrenie leide, was die belangte Behörde nicht berücksichtigt habe, verwiesen. Unter Wiedergabe von Länderberichten wurde zudem ausgeführt, dass die Erkrankung des Drittbeschwerdeführers in der Ukraine nicht ausreichend behandelbar sei. Schlussendlich sei den Beschwerdeführern eine Rückkehr in die Ukraine nicht zumutbar, da die dort bestehenden Konflikte weiter andauern würden und der ukrainische Staat jüngst (wenn auch nur beschränkt) das Kriegsrecht verhängt habe.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person der Beschwerdeführer:
Der Erstbeschwerdeführer führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , die Zweitbeschwerdeführerin führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , der Drittbeschwerdeführer führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , und der minderjährige Viertbeschwerdeführer führt den Namen XXXX , geboren am XXXX .
Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind verheiratet. Sie sind die Eltern des Drittbeschwerdeführers sowie des minderjährigen Viertbeschwerdeführers. Ein weiterer (volljähriger) Sohn des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin lebt in der Ukraine.
Alle Beschwerdeführer sind ukrainische Staatsangehörige, der Volksgruppe der Ukrainer zugehörig und bekennen sich zum orthodoxen Glauben.
Der Erstbeschwerdeführer, die Zeitbeschwerdeführerin und der Drittbeschwerdeführer sind in XXXX in der Ukraine geboren, wo sie bis zu ihrer Ausreise gelebt haben. Der minderjährige Viertbeschwerdeführer ist in Österreich geboren und hat noch nie in der Ukraine gelebt. In der Ukraine halten sich Familienangehörige der Beschwerdeführer auf: Im Herkunftsort der Beschwerdeführer leben die Mutter der Zweitbeschwerdeführerin, die Mutter des Erstbeschwerdeführers sowie ein weiterer gemeinsamer volljähriger Sohn des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin, der aktuell den Militärdienst ableistet. Die Mutter der Zweitbeschwerdeführerin hat in der Ukraine eine Eigentumswohnung. Die Mutter des Erstbeschwerdeführers ist Eigentümerin eines Hauses in der Ukraine, in welchem auch die Beschwerdeführer in der Vergangenheit zeitweise gewohnt haben.
Der arbeitsfähige Erstbeschwerdeführer hat in der Ukraine acht Klassen Grundschule absolviert und anschließend vier Jahre eine technische Schule besucht; er ist ausgebildeter Schlosser. Er war zuletzt in einer Möbelfabrik berufstätig und anschließend bis zu seiner Ausreise arbeitslos. Der Erstbeschwerdeführer spricht Russisch, Ukrainisch und etwas Deutsch.
Die (grundsätzlich arbeitsfähige) Zweitbeschwerdeführerin hat in der Ukraine Schulbildung im Umfang von elf Jahren absolviert. Sie hat in der Folge fünf Jahre eine Wirtschaftsuniversität besucht und diese Ausbildung erfolgreich abgeschlossen. Die Zweitbeschwerdeführerin hat sechs Jahre als Verkäuferin gearbeitet. Gemeinsam führten der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin überdies sechs Jahre ein Gasthaus in der Ukraine. Die Zweitbeschwerdeführerin spricht Russisch, Ukrainisch und etwas Deutsch.
Der arbeitsfähige Drittbeschwerdeführer hat in der Ukraine bis zu seiner Ausreise die Schule besucht. Er spricht mehrere Sprachen, insbesondere Russisch, Ukrainisch, Englisch und Deutsch.
Der minderjährige Viertbeschwerdeführer wurde im Bundesgebiet geboren und hat nie in der Ukraine gelebt. Er beherrscht die ukrainische Sprache.
Die Zweitbeschwerdeführerin reiste am XXXX illegal nach Österreich ein, der Drittbeschwerdeführer reiste Ende XXXX illegal nach Österreich ein und der Erstbeschwerdeführer reiste am XXXX illegal nach Österreich ein.
Alle Beschwerdeführer stellten am 30.08.2014 die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz.
In Österreich haben die Beschwerdeführer wirtschaftliche und soziale Anknüpfungspunkte:
Der Erstbeschwerdeführer hat mit Wirksamkeit vom XXXX mehrere Gewerbe angemeldet und zahlt Einkommensteuer. Er arbeitet auf dem Bau. Der Erstbeschwerdeführer hat an einem Deutsch-Intensivkurs (Spezialkurs Grundstufe) teilgenommen.
Der Drittbeschwerdeführer absolvierte im Jahr 2014 zwei Deutschkurse auf dem Niveau A1 und besuchte zuletzt ein Gymnasium, war jedoch - mangels Beurteilung in näher genannten Pflichtgegenständen - nicht zum Aufsteigen in die nächsthöhere Schulstufe berechtigt. Er verfügt über einen Freundeskreis in Österreich und ist sportlich aktiv. Er möchte in Österreich studieren.
Der minderjährige Vierbeschwerdeführer besucht in Österreich die Schule und weist entsprechende Kenntnisse der deutschen Sprache sowie soziale Bezugspunkte auf.
Die Beschwerdeführer beziehen keine Grundversorgung.
Die Zweitbeschwerdeführerin leidet im Entscheidungszeitpunkt an keinen schwerwiegenden lebensbedrohlichen Erkrankungen. Bei der Zweitbeschwerdeführerin wurden Adipositas, Fettleber mit erhöhten Leberwerten, Bluthochdruck, Hyperlipidämie, Hypermenorrhoe sowie Endometriose diagnostiziert. Sie hat weiters ein künstliches Kniegelenk.
Der Drittbeschwerdeführer leidet im Entscheidungszeitpunkt an keinen schwerwiegenden lebensbedrohlichen Erkrankungen. Er war von XXXX bis XXXX sowie von XXXX bis XXXX in einem Wiener Spital stationär aufhältig und wurde in der Psychiatrischen Abteilung behandelt. Nach der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme wurden beim Drittbeschwerdeführer im XXXX eine akute psychotische Störung mit Symptomen einer Schizophrenie (F23.1) und eine psychotische Störung durch Substanzgebrauch (F19.5) diagnostiziert. Diesbezüglich wurden dem Drittbeschwerdeführer Medikation, regelmäßige EKG- und Laborkontrollen sowie die Weiterbetreuung über den Psychosozialen Dienst empfohlen. Der Drittbeschwerdeführer befindet sich derzeit nicht in medizinischer Behandlung und legte auch keinen weiteren Behandlungsbedarf dar.
Der Erstbeschwerdeführer und der minderjährige Viertbeschwerdeführer sind gesund.
Die Beschwerdeführer sind in Österreich strafrechtlich unbescholten.
1.2. Zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführer:
Es kann nicht festgestellt werden, dass der Erstbeschwerdeführer und der Drittbeschwerdeführer im Fall einer Rückkehr in die Ukraine auf Grund von Religion, politischer Einstellung oder Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe im Zusammenhang mit einer Wehrdienstverweigerung verfolgt würden. Auch kann nicht festgestellt werden, dass der Erstbeschwerdeführer und der Drittbeschwerdeführer für den Fall, den Wehrdienst zu verweigern, einer Bestrafung ausgesetzt wären, die eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten würde.
Das Vorliegen anderer Verfolgungsgründe auf Grund von Religion, Nationalität, politischer Einstellung, Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder ethnischer Zugehörigkeit wurde nicht vorgebracht; Hinweise für eine solche Verfolgung sind auch amtswegig nicht hervorgekommen.
Die Beschwerdeführer wären im Fall der Rückkehr in die Ukraine nicht gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden oder von der Todesstrafe bedroht. Sie würden auch nicht in eine existenzgefährdende Notlage geraten und wäre ihnen nicht die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen.
1.3. Zur maßgeblichen Situation in der Ukraine und einer Rückkehr der Beschwerdeführer in den Herkunftsstaat:
Insbesondere zur allgemeinen Situation und Sicherheitslage sowie zur Grundversorgung und medizinischen Versorgungssituation wird unter Übernahme der verwaltungsbehördlichen Länderfeststellungen Folgendes festgestellt (gekürzt auf die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen):
"[...]
Sicherheitslage
Der nach der "Revolution der Würde" auf dem Kiewer Maidan im Winter 2013/2014 und der Flucht von Wiktor Janukowytsch vom mit großer Mehrheit bereits im ersten Wahlgang am 07.06.2014 direkt zum Präsidenten gewählte Petro Poroschenko verfolgt eine europafreundliche Reformpolitik, die von der internationalen Gemeinschaft maßgeblich unterstützt wird. Diese Politik hat zu einer Stabilisierung der Verhältnisse im Inneren geführt, obwohl Russland im März 2014 die Krim annektierte und seit Frühjahr 2014 separatistische "Volksrepubliken" im Osten der Ukraine unterstützt (AA 7.2.2017).
Die ukrainische Regierung steht für einen klaren Europa-Kurs der Ukraine und ein enges Verhältnis zu den USA. Das 2014 von der Ukraine unterzeichnete und ratifizierte Assoziierungsabkommen mit der EU ist zum Jahresbeginn 2016 in Kraft getreten und bildet die Grundlage der Beziehungen der Ukraine zur EU. Es sieht neben der gegenseitigen Marktöffnung die Übernahme rechtlicher und wirtschaftlicher EU-Standards durch die Ukraine vor. Das Verhältnis zu Russland ist für die Ukraine von zentraler Bedeutung. Im Vorfeld der ursprünglich für November 2013 geplanten Unterzeichnung des EU-Assoziierungsabkommens übte Russland erheblichen Druck auf die damalige ukrainische Regierung aus, um sie von der EU-Assoziierung abzubringen und stattdessen einen Beitritt der Ukraine zur Zollunion/Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft herbeizuführen. Nach dem Scheitern dieses Versuchs und dem Sturz von Präsident Janukowytsch verschlechterte sich das russisch-ukrainische Verhältnis dramatisch. In Verletzung völkerrechtlicher Verpflichtungen und bilateraler Verträge annektierte Russland im März 2014 die Krim und unterstützt bis heute die bewaffneten Separatisten im Osten der Ukraine (AA 2.2017c).
Die sogenannten "Freiwilligen-Bataillone" nehmen offiziell an der "Anti-Terror-Operation" der ukrainischen Streitkräfte teil. Sie sind nunmehr alle in die Nationalgarde eingegliedert und damit dem ukrainischen Innenministerium unterstellt. Offiziell werden sie nicht mehr an der Kontaktlinie eingesetzt, sondern ausschließlich zur Sicherung rückwärtiger Gebiete. Die nicht immer klare hierarchische Einbindung dieser Einheiten hatte zur Folge, dass es auch in den von ihnen kontrollierten Gebieten zu Menschenrechtsverletzungen gekommen ist, namentlich zu Freiheitsberaubung, Erpressung, Diebstahl und Raub, eventuell auch zu extralegalen Tötungen. Diese Menschenrechtsverletzungen sind Gegenstand von allerdings teilweise schleppend verlaufenden Strafverfahren. Der ukrainische Sicherheitsdienst SBU bestreitet, trotz anderslautender Erkenntnisse von UNHCHR, Personen in der Konfliktregion unbekannten Orts festzuhalten und verweist auf seine gesetzlichen
Ermittlungszuständigkeiten. In mindestens einem Fall haben die Strafverfolgungsbehörden bisher Ermittlung wegen illegaler Haft gegen Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden aufgenommen (AA 7.2.2017).
Seit Ausbruch des Konflikts im Osten der Ukraine in den Regionen Lugansk und Donezk im April 2014 zählte das Büro des Hochkommissars für Menschenrechte der UN (OHCHR) 33.146 Opfer des Konflikts, davon
9.900 getötete und 23.246 verwundete Personen (inkl. Militär, Zivilbevölkerung und bewaffnete Gruppen). Der Konflikt wird von ausländischen Kämpfern und Waffen, die nach verschiedenen Angaben aus der Russischen Föderation in die nicht von der ukrainischen Regierung kontrollierten Gebiete (NGCA) gebracht werden, angeheizt. Zudem gibt es eine massive Zerstörung von zivilem Eigentum und Infrastruktur in den Konfliktgebieten. Auch Schulen und medizinische Einrichtungen sind betroffen. Zuweilen ist vielerorts die Strom- und Wasserversorgung unterbrochen, ohne die im Winter auch nicht geheizt werden kann. Der bewaffnete Konflikt stellt einen Bruch des Internationalen Humanitären Rechts und der Menschenrechte dar. Der Konflikt wirkt sich auf die ganze Ukraine aus, da es viele Kriegsrückkehrern (vor allem Männer) gibt und die Zahl der Binnenflüchtlinge (IDPs) hoch ist. Viele Menschen haben Angehörige, die getötet oder entführt wurden oder weiterhin verschwunden sind. Laut der Special Monitoring Mission der OSZE sind täglich eine hohe Anzahl an Brüchen der Waffenruhe, die in den Minsker Abkommen vereinbart wurde, zu verzeichnen (ÖB 4.2017).
Russland kontrolliert das Gewaltniveau in der Ostukraine und intensiviert den Konflikt, wenn es russischen Interessen dient (USDOS 3.3.2017a).
[...]
Wehrdienst und Rekrutierungen
Am 1.5.2014 wurde die zuvor beschlossene Aussetzung der Wehrpflicht widerrufen (AA 7.2.2017).
Die Wehrpflichtigen in der Ukraine werden folgendermaßen unterteilt:
• Stellungspflichtige (Pre-conscripts)
• Wehrpflichtige (Conscripts)
• aktive Soldaten
• zum Wehrdienst verpflichtete Personen (persons liable for military service) - sie haben bereits den Grundwehrdienst geleitet und können nötigenfalls wieder temporär mobilisiert werden
• Reservisten - zum Wehrdienst verpflichtete Personen, die freiwillig regelmäßige Waffenübungen absolvieren.
(BFA/OFPRA 5.2017)
Die Pflicht zur Ableistung des Grundwehrdienstes besteht für physisch taugliche Männer im Alter zwischen 18 und 27 Jahren. Der Grundwehrdienst dauert grundsätzlich eineinhalb Jahre, jedoch für Akademiker nur 12 Monate. Binnenvertriebene (IDPs) sind ebenso wehrpflichtig, sie stellen für das Verteidigungsministerium aber keine Priorität dar, nicht zuletzt wegen etwaiger Sicherheitsbedenken (Gegenspionage). Das System der Wehrpflicht in der Ukraine funktioniert und ist gerecht, aber nur eine kleine Zahl der Wehrpflichtigen wird auf einmal einberufen (16.000 bis 20.000), denn viele Wehrpflichtige sind aus verschiedenen Gründen untauglich (gesundheitliche oder familiäre Gründe, Verurteilungen, usw.). Der Wehrdienst kann aus bestimmten familiären, beruflichen oder Gründen der Bildung verschoben werden (BFA/OFPRA 5.2017). Merkmale wie Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Überzeugung spielen bei der Mobilisierung/Einberufung keine Rolle. Klagen von Vertretern der ungarischen und rumänischen Minderheit, diese Gruppen würden überproportional zum Wehrdienst herangezogen, sind mittlerweile entkräftet und werden nicht mehr wiederholt (AA 7.2.2017).
Wehrpflichtige wurden bis Mitte November 2016 ausschließlich auf freiwilliger Basis und nach der sechsmonatigen Grundausbildung im ATO-Gebiet (Teil der Ostukraine, in denen es zu Kämpfen mit den Separatisten kommt) eingesetzt; seither geschieht dies nicht mehr (AA 7.2.2017). Wehrpflichtige dienen hauptsächlich in der Einsatzunterstützung in rückwärtigen Diensten oder Depots, die aber auch innerhalb der ATO-Zone liegen können. Ihr Kampfeinsatz in der ATO-Zone wäre jedoch gesetzeswidrig. Viele Wehrpflichtige dienen in Marine und Luftwaffe, nur wenige hingegen in Nationalgarde (bewacht z. B. öffentliche Gebäude) und Armee (BFA/OFPRA 5.2017).
An den Wehrpflichtigen ergeht ein Einberufungsbescheid des regional zuständigen Militärkommissariats postalisch oder durch persönliche Zustellung (BFA/OFPRA 5.2017).
Im Dezember 2014 wurde vom ukrainischen Verteidigungsministerium verlautbart, dass die Streitkräfte von 130.000 auf einen Personalstand von 250.000 aufgestockt werden sollen.
Um dies zu erreichen wurde der Sold für Zeitsoldaten attraktiviert. Ende 2014 lag er bei UAH 3.453 und wurde 2016 nochmals auf UAH 7.000 angehoben (BFA/OFPRA 5.2017). Zum Vergleich: der ukrainische Durchschnittslohn lag im Jänner 2017 bei 6.008 Hrywnja (ca. 206 €) (ÖB 4.2017). Diese Verträge sind derart beliebt (2016 bis September 53.000 Verpflichtungen), dass 2014-2016 40-60% der ukrainischen Soldaten Zeitsoldaten waren, 50% Mobilisierte und 10% Grundwehrdiener. Wehrdiener werden, ebenso wie kampferfahrene Mobilisierte ermutigt, sich als Zeitsoldaten weiter zu verpflichten. 2015 waren 4,4% derer, die Zeitverträge abschlossen Grundwehrdiener, 24,2% waren Mobilisierte und 71,4% waren Zivilisten. Gemäß Gesetz können sich Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren und Frauen zwischen 20 und 50 Jahren verpflichten (BFA/OFPRA 5.2017).
Es gibt Berichte über Schikane im Militär. Es gab 2016 deswegen einen Selbstmord, der von der Polizei mittlerweile als Tötungsdelikt verfolgt wird (USDOS 3.3.2017a).
Frauen mit militärisch nutzbaren Spezialkenntnissen und körperlicher Eignung (und geeigneter familiärer Situation) gelten ebenso als zum Wehrdienst verpflichtete Personen. Im Kriegsfalle können sie einberufen werden. In Friedenszeiten können sie freiwillig aktiven oder Reservedienst leisten (BFA/OFPRA 5.2017).
Wehrersatzdienst
Das Gesetz über den Ersatzdienst vom 12.12.1991 (Nr. 1975-XII) regelt das Recht auf Kriegsdienstverweigerung und die Möglichkeit, den Ersatzdienst unter Erfüllung bestimmter Voraussetzungen abzuleisten. Die Wehrpflichtigen durchlaufen bei der Stellung sämtliche Untersuchungen im jeweils zuständigen Militärkommissariat. Spätestens zwei Monate vor dem Einberufungstermin muss der Wehrpflichtige bei der für den jeweiligen Wohnort zuständigen Behörde einen begründeten Antrag auf Wehrersatzdienst einreichen. Als Grund ist nur die religiöse Überzeugung bei entsprechender Zugehörigkeit zu einer anerkannten Religionsgemeinschaft zulässig (AA 7.2.2017), und zwar
1. Adventists-Reformists
2. Seventh Day Adventists
3. Evangelical Christians
4. Evangelical Christians-Baptists
5. "The Penitents" - the Slavic Church of the Holy Ghost
6. Jehovah's Witnesses
7. Charismatic Christian Churches (and churches assimilated to them according to registered statutes)
8. Union of Christians of the Evangelical Faith - Pentecostals (and churchesassimilated to them according to registered statutes)
9. Christians of Evangelical Faith;
10. Society for Krishna Consciousness
(BFA/OFPRA 5.2017)
Im Kriegsfalle oder Ausnahmezustand kann das Recht auf den Ersatzdienst gesetzlich für bestimmte Zeit eingeschränkt werden. Der Ersatzdienst dauert 27 Monate, für Hochschulabsolventen 18 Monate. Er wird in staatlichen Sozial-, Gesundheits- und Kommunaleinrichtungen oder beim Roten Kreuz abgeleistet. Der Ersatzdienst hat in der Ukraine kaum Tradition und ist in der Gesellschaft noch wenig verankert. Über die Zahl der Ersatzdienstleister macht das ukrainische Verteidigungsministerium keine offiziellen Angaben. NGO-Vertreter gehen von bislang 7.500 Anträgen aus (AA 7.2.2017).
Es gibt Berichte, dass der Wehrersatzdienst auch in der Praxis zugänglich ist, wenn die nötigen Dokumente vorgelegt werden. Es gibt aber auch Berichte, dass Bestechungsgelder verlangt worden wären, um diesen Zugang zu erhalten. Rechtlich ist es auch möglich, wenn auch mit engen Zeitfenstern, dass nach der Einberufung konvertierte Wehrpflichtige noch in den Genuss des Ersatzdienstes kommen können (BFA/OFPRA 5.2017).
Kleriker sind nicht grundsätzlich von der Wehrpflicht ausgenommen. Seit Anfang 2016 ist der militärseelsorgerische Dienst neue geregelt und genaue Auswahlkriterien, Rechte und Pflichten und die rechtliche Stellung der Militärkapläne festgelegt (USDOS 10.8.2016).
Das Recht auf religiöse Verweigerungsgründe im Mobilisierungsfalle ist aber nicht eindeutig geregelt. Trotzdem verständigte man sich darauf, die Friedensbestimmungen sinngemäß anzuwenden und informierte die Militärkommissariate entsprechend. Aber es gab dennoch Fälle, in denen dieses Recht verletzt wurde. Gerichtsurteile in solchen Fällen sind uneinheitlich - es gab zumindest einen Freispruch, aber auch mehrere Verurteilungen wegen Nichtbefolgung der Mobilisierung trotz Vorliegens religiöser Verweigerungsgründe. Es ist jedoch nicht ersichtlich, ob in diesen Fällen eine Bestätigung einer der in der Verfassung festgelegten Religionsgemeinschaft vorlag (BFA/OFPRA 5.2017; vgl. IRF 22.6.2016).
Es gab Beschwerden von Religionsgemeinschaften an den Präsidenten und den Premier, dass die Armee versucht Verweigerer aus Gewissengründen trotzdem einzuziehen. Letzteres wird auf Gesetzeslücken zurückgeführt, die im Falle der Mobilisierung keinen Ersatzdienst vorsehen. Die Regierung wurde gebeten das zu reparieren. Im Juni 2016 bestätigte der High Specialized Court of Ukraine das Urteil eines Bezirksgerichts von 2014, dass Verweigerer aus Gewissensgründen auch im Falle der Mobilisierung das Recht auf einen Ersatzdienst haben. Es gab keine weiteren Strafverfolgungen bezüglich des Ersatzdienstes. Im September 2016 wurde vom selben Gerichtshof ein Urteil aufgehoben, mit dem ein Verweigerer aus Gewissensgründen wegen Flucht vor der Mobilisierung zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt worden war. Im Juni 2016 unterstütze der Kharkiv District Administrative Court die Beschwerde eines Verweigerers aus Gewissensgründen, der zum Wehrdienst einberufen werden sollte. (USDOS 10.8.2016).
Mobilisierung
Gemäß Gesetz können zum Wehrdienst verpflichtete Männer (also solche, die den Grundwehrdienst bereits abgeleistet haben) im Alter von 18 bis 60 Jahren und zum Wehrdienst verpflichtete Frauen zwischen 20 und 50 Jahren dienen. Umfang und Ausgestaltung einer (Teil-)Mobilisierung sind vom Staatspräsidenten festzulegen. Sie gelten für das gesamte Staatsgebiet mit Ausnahme der Krim. Grundsätzlich gibt es vier Stufen, abhängig von der Eskalation des Konflikts. In der ersten Stufe werden Freiwillige, Reserveoffiziere und -unteroffiziere aus besonders benötigten militärischen Bereichen einberufen. In der zweiten Stufe werden Reserveoffiziere und -unteroffiziere aller militärischen Bereiche einberufe. In der dritten Stufe werden auch Ungediente und Frauen (Ärztinnen, Krankenschwestern, Technikerinnen) einberufen. In der vierten und letzten Stufe muss alles diesen, was eine Waffe halten kann. Am 21. August 2014 beschränkte der Präsident die Mobilisierung auf Reservisten mit Spezialkenntnissen (Fallschirmjäger, Granatwerfertruppen, Artilleristen, Logistiker und andere Spezialisten (Ärzte, Elektriker, Mechaniker, Fahrer), sowie Personen mit Kampferfahrung. Für eine Mobilisierung infrage kamen nur Personen im Alter von 25 bis 46 Jahren. 8% der Mobilisierten waren Frauen, meist Medizinerinnen oder Funkerinnen (BFA/OFPRA 5.2017).
Am 1.Mai.2014 wurde die zuvor beschlossene Aussetzung der Wehrpflicht widerrufen. Danach erfolgten insgesamt sechs Mobilisierungswellen (Teilmobilisierungen), die hauptsächlich Reservisten betrafen. Aber auch Grundwehrdienstleistende wurden zur sechsmonatigen Grundausbildung einberufen. Richter, Vollzeitstudenten, Post-Graduate-Studenten, Priester, Väter mit drei und mehr minderjährigen Kindern, Parlamentsabgeordnete und Straftäter sind von der Mobilisierung ausgenommen. Ende Oktober 2016 wurde die 6. Mobilisierungswelle abgeschlossen. Weitere Mobilisierungswellen sind bislang nicht vorgesehen. Wehrpflichtige wurden bis Mitte November 2016 ausschließlich auf freiwilliger Basis und nach der sechsmonatigen Grundausbildung im ATO-Gebiet (Teil der Ostukraine, in denen es zu Kämpfen mit den Separatisten kommt) eingesetzt; seither geschieht dies nicht mehr (AA 7.2.2017).
Hintergrund für die Mobilisierungswellen war die Notwendigkeit zusätzliches qualifiziertes Personal in die Armee zu holen und eine Rotation der Truppen zu ermöglichen. Von den sechs Mobilisierungswellen in der Ukraine zwischen 2014 und 2016, war die
4. mit ca. 150.000 Einberufenen die umfangreichste. Aber nach den medizinischen Tests wurde nur knapp die Hälfte tatsächlich mobilisiert. Mobilisierte wurden frühestens nach einem dreimonatigen Training in die ATO-Zone geschickt. Es gibt aber auch Berichte, dass die Dinge in der Praxis etwas anders gehandhabt wurden, etwa telefonische Einberufungen, nichterfolgte medizinische Untersuchungen was dazu führte, dass Kranke (Tuberkulose, Epilepsie) einberufen wurden. Einige sollen auch ohne die dreimonatige Vorbereitung in die ATO-Zone verlegt worden sein. Es gibt aber auch Berichte überbewusste Falschinformationen, die von Russland im Internetlanciert werden, um den Mobilisierungsprozess zu stören. Hatte es 2014 noch Beschwerden über die schlechte Ausrüstung gegeben, wurde dieses Problem 2015 gelöst. (BFA/OFPRA 5.2017).
Wehrpflichtige dienen hauptsächlich in der Einsatzunterstützung in rückwärtigen Diensten oder Depots, die aber auch innerhalb der ATO-Zone liegen können. Ihr Kampfeinsatz in der ATO-Zone wäre jedoch gesetzeswidrig. Viele Wehrpflichtige dienen in Marine und Luftwaffe, nur wenige hingegen in Nationalgarde (bewacht z.B. öffentliche Gebäude) und Armee (BFA/OFPRA 5.2017).
Merkmale wie Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Überzeugung spielen bei der Mobilisierung/Einberufung keine Rolle (AA 7.2.2017). Binnenvertriebene (IDPs) sind nicht ausgenommen, sie stellen für das Verteidigungsministerium aber keine Priorität dar, nicht zuletzt wegen etwaiger Sicherheitsbedenken (Gegenspionage) (BFA/OFPRA 5.2017).
Wehrpflichtige haben einen Wohnortwechsel binnen einer Woche zu melden. Im Fall einer Vollmobilisierung, wäre ein Wohnortwechsel durch die Wehrüberwachungsbehörde vorab zu genehmigen. Bei den bisherigen Mobilisierungswellen war die Vorgehensweise folgendermaßen: An den Wehrpflichtigen ergeht per Post ein Einberufungsbescheid des regional zuständigen Militärkommissariats. Bei Unzustellbarkeit wird der Bescheid persönlich zugestellt oder hinterlegt (etwa bei einem Concierge) (BFA/OFPRA 5.2017). Es gibt auch Berichte, dass die Einberufung an die Arbeitsstätte gesandt oder der Betreffende direkt an der Arbeitsstätte abgeholt wurde (AA 7.2.2017).
[...]
Der Betreffende muss zu einer Gesundheitsüberprüfung erscheinen und wird je nach Ergebnis für tauglich, teiltauglich oder untauglich befunden. Wer gesundheitlich untauglich ist, kann nach 6 Monaten zu einer erneuten Untersuchung geladen werden. Es ist ein Rechtsmittel gegen die Entscheidung der Tauglichkeitskommission möglich. Nicht mobilisiert werden u.a. bestimmte Funktionsträger, Väter mit fünf oder mehr Kindern unter 16 Jahren und Personen, die sich um Pflegefälle kümmern, Studenten, Lehrer usw. Im Falle einer allgemeinen Mobilisierung ist auch kein Ersatzdienst mehr möglich. Die Bezahlung ist geregelt. Wird ein Mobilisierter verwundet, ist eine Kompensation vorgesehen, die sich am Grad der Behinderung orientiert. Wir ein Soldat getötet, erhält die Familie eine Einmalzahlung von UAH 609.000. Die soziale Absicherung der Soldaten und ihrer Familien wurde legislativ abgesichert, wenn auch der ukrainische Sozialminister Mitte 2016 verlautbarte kaum mehr Mittel für die Kompensationszahlungen für die Einkommen der Mobilisierten zu haben (BFA/OFPRA 5.2017).
Durch die Attraktivierung des Dienstes als Zeitsoldat verpflichteten sich derart viele Personen, dass nach der 6. Mobilisierungswelle auf eine (bereits angekündigte) 7. Welle verzichtet werden konnte. Im November 2016 versicherte Präsident Poroschenko, dass es nach Abschluss der Demobilisierung der 6. Welle keine Mobilisierten mehr an der Front der ATO-Zone geben würde. Die Demobilisierten werden in die Reserve übernommen, wobei diejenigen mit einer guten Akte im Notfall auch als erste wieder mobilisiert würden (BFA/OFPRA 5.2017).
Im Juli 2016 verabschiedete das ukrainische Parlament ein umstrittenes Amnestiegesetz, das die in der ATO-Zone in der Ostukraine eingesetzten Kämpfer für minderschwere Verbrechen der Strafverfolgung ausnehmen würde. Präsident Poroschenko legte aber sein Veto gegen das Gesetz ein. Im Juli verhafteten die Behörden den Chef des Freiwilligenbataillons Aidar wegen Entführungen, Raub und anderen Gewaltverbrechen gegen Zivilisten. Bei der Anklage blockierten Bataillonsangehörige das Gerichtsgebäude und mehrere Parlamentsabgeordnete forderten seine Freilassung. Das Gericht setzte ihn schließlich zur weiteren Untersuchung auf freien Fuß (FH 1.2017; vgl. HRW 12.1.2017).
Wehrdienstverweigerung / Desertion
Die Entziehung vom Wehrdienst wird nach Art. 335 des ukrainischen Strafgesetzbuches mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft. Eine Mobilisierungsentziehung kann gemäß Art. 336 des ukrainischen Strafgesetzbuches mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft werden. Für Entziehung von der Wehrerfassung sieht Art. 337 eine Geldstrafe bis zu 50 Mindestmonatslöhnen oder Besserungsarbeit bis zu zwei Jahren oder Freiheitsentziehung bis zu sechs Monaten vor. Für Entziehung von einer Wehrübung ist Geldstrafe bis zu 70 Mindestmonatslöhnen oder Freiheitsentziehung bis zu sechs Monaten vorgesehen (AA 7.2.2017).
Desertion ist gemäß Art. 408 des ukrainischen Strafgesetzbuches mit Freiheitsstrafe von zwei bis fünf Jahren strafbar. Wenn sie organisiert in einer Gruppe oder mit Waffe erfolgt, liegt das Strafmaß bei fünf bis zehn Jahren. Wenn die Desertion unter der Geltung von Kriegsrecht oder im Gefecht erfolgt, liegt das Strafmaß bei fünf bis zwölf Jahren. Es gibt eigene Strafen für Soldaten im Falle von Selbstverstümmelung oder anderen Formen sich dem Dienst zu entziehen, die in Art. 409 beschrieben sind. Gemäß Art. 210 des Code of Ukraine ist Vermeidung der Mobilisierung durch Reservisten eine Straftat (BFA/OFPRA 5.2017).
Aufgrund des Problems der Wehrdienstverweigerung regeln seit Jänner 2015 Gesetzesänderungen die Auslandreisen von Personen, die unter die Teilmobilisierungen fallen. Ukrainische Bürger im wehrfähigen Alter müssen demnach ein Dokument eines Militärkommissariats vorweisen, wenn sie ins Ausland reisen wollen (GS 9.2.2017). Demgegenüber besagt der aktuelle Bericht des Auswärtigen Amts, dass derzeit keine Erkenntnisse vorliegen, dass bei männlichen Reisenden an der Grenze der Status ihrer Wehrpflicht überprüft wird (AA 7.2.2017).
Die Mobilisierungswellen waren in der Ukraine nicht sehr beliebt und die Ukrainer unternahmen einiges, um die Mobilisierung zu vermeiden. Viele Personen hatten legale Verweigerungsgründe, aber selbst wenn man diese nicht hatte, war/ist die Verweigerung auch innerhalb der Ukraine recht einfach. Das Ausmaß des Problems ist umstritten. Generell nennen offizielle Stellen eher geringere Zahlen, als andere Quellen. Im März und April 2014 wurde inoffiziellen Zahlen zufolge die Einberufung von 70 bis 95% der Reservisten in Kiew ignoriert. Hunderte ukrainische Männer sollen vor der Wehrpflicht ins Ausland geflohen sein. Es gibt sogar Berichte über Ukrainer die auf der Flucht vor der Mobilisierung in Sri Lanka gestrandet sind. Offiziellen Zahlen zufolge sind 2014 85.792 im Rahmen der Teilmobilisierung Einberufene, nicht erschienen und 9.969 haben erwiesenermaßen den Dienst verweigert. 2015 waren rund 40.000 Mobilisierungsbefehle nötig, um 1.000 Personen tatsächlich einzuziehen. Viele Verweigerer verstecken sich aktiv unter einer anderen als ihrer offiziellen Meldeadresse, während es Fälle geben mag, in denen die Betreffenden ohne Meldung unter einer anderen Adresse leben, verreist sind, etc. Um die Einberufung zu verweigern gibt es de facto viele Wege, zur Not Bestechung, welche in den Militärkommissariaten ein massives Problem darstellt. Es soll sogar Unternehmen möglich gewesen sein Mitarbeiter vom Dienst freizukaufen. Es gibt aber auch Berichte über Rigorose Kontrollen an Straßen, Grenzübergängen und Arbeitsplätzen bei der Suche nach Wehrdienstverweigerern (BFA/OFPRA 5.2017).
Es gibt Berichte über einen korrupten Handel mit medizinischen Untauglichkeitsbescheinigungen in dessen Zusammenhang es zur Verhaftung eines Militärbeamten kam (Reuters 3.2.2015).
Darüber hinaus haben 2014 bis zu 30% der Soldaten ihre Posten verlassen, was auf mangelnde Vorbereitung/Ausbildung oder mangelnde geistige Stabilität zurückgeführt wurde. Gegen diese Probleme wurde aber etwas unternommen und später sank die Rate der Soldaten, die den Dienst in der ATO-Zone verweigerten, auf unter 1%. Die ukrainische Armee wird heute als besser geführt und disziplinierter wahrgenommen, als früher. Die Furcht vor der Mobilisierung hat auch dazu geführt, dass sich viele männliche Binnenflüchtlinge nicht aktiv als IDPs registrierten (BFA/OFPRA 5.2017).
8.490 Soldaten wurden 2014 Wehrvermeidung strafverfolgt, 2.287 gemäß Art. 407 des Strafgesetzbuches (unerlaubte Abwesenheit), 4.880 wegen Desertion, (Art. 408) und 1.323 wegen Art. 409 (Selbstverstümmelung etc.). 2015 wurden bis Mitte April 7.560 Ermittlungen gegen Soldaten begonnen, davon 1.964 wegen Art. 407, 948 wegen Art. 408 und 107 wegen Art. 409. 2015 wurde ein 40 Jahre alter Mann aus der Ostukraine wegen Nichtbefolgung zweier Mobilisierungsbefehle gemäß Art. 336 zu 3 Jahren Haft verurteilt. 2016 gab es weitere Ermittlungen wegen Wehrdienstverweigerung. Die Gerichte bewerten jeden Fall gesondert, um die individuelle Schwere der Schuld zu bewerten. Wenn der Betreffende mit den Behörden zusammenarbeitet, sind die Gerichte geneigt Strafen zu verhängen, die den Betreffenden nicht von der Gesellschaft isolieren (BFA/OFPRA 5.2017).
Der 6. Mobilisierungswelle haben sich insgesamt 26.800 Personen entzogen, etwa 1.500 davon wurden strafverfolgt. Die Korruption im Militärapparat wird von Verweigerern immer wieder als Schlupfloch genützt. Menschenrechtsanwälte bezweifeln aufgrund der nie erfolgten Ausrufung des Kriegsrechtes generell die Legalität der Mobilisierungen. In Kiew liefen im August 2015 47 Verfahren gegen Wehrdienstverweigerer und ca. 400 Personen verbüßten deshalb Haftstrafen (KP 27.8.2015).
2015 hat die Regierung die Strafverfolgung bezüglich Wehrdienstverweigerung verstärkt, wobei sich das Strafmaß oft auf Bewährungsstrafen beschränkte (UNHCR 9.2015; VB 10.12.2015). Viel größer war aber das Problem der ukrainischen Behörden, die Verweigerer bzw. Deserteure aufzufinden. Es war für sie leicht, sich der Strafverfolgung zu entziehen. Die Polizei verabsäumte es schlichtweg, Deserteure zu Hause aufzuspüren und festzunehmen (die Ukraine verfügt über keine Militärpolizei, Anm.). Bei den Personen, die sich der Einberufung entziehen, ist es meist so, dass diese nach unbekannt verzogen sind oder das Land überhaupt verlassen haben. Auch medizinische Untauglichkeit war ein zunehmendes Problem (IBT 5.10.2015). Da die Einberufungen an den Ort der aufrechten Meldung gesendet werden, genügt es bereits, sich nicht zu melden und/oder schwarz zu arbeiten, um sich der Zustellung zu entziehen. Aber auch die Korruption ist ein Problem. Zum Teil fordern korrupte Militärbeamte Bestechungsgelder aktiv ein (WP 25.4.2015).
Grundsätzlich ist es möglich, dass Ukrainer bei Rückkehr aus dem Ausland strafverfolgt werden, weil sie sich der Mobilisierung entzogen haben, da diese Personen in ein Einheitliches Staatsregister der Personen, die sich der Mobilisierung entziehen, eingetragen wurden. Zugriff auf dieses Register haben der Generalstab der Streitkräfte der Ukraine und auch das Innenministerium. In der Praxis gibt es trotz zahlreicher Fahndungen jedoch nur wenige Anklagen und kaum Verurteilungen (VB 21.3.2017).
Grundversorgung und Wirtschaft
Die Ukraine erbte aus dem Restbestand der ehemaligen Sowjetunion bedeutende eisen- und stahlproduzierende Industriekomplexe. Neben der Landwirtschaft spielt die Rüstungs-, Luft- und Raumfahrt- sowie die chemische Industrie eine große Rolle im ukrainischen Arbeitsmarkt. Nachdem die durchschnittlichen Verdienstmöglichkeiten weit hinter den Möglichkeiten im EU-Raum, aber auch in Russland zurückbleiben, spielt Arbeitsmigration am ukrainischen Arbeitsmarkt eine nicht unbedeutende Rolle. Für das erste Quartal 2016 lag die Arbeitslosenquote in der Ukraine bei 10,3%. 2016 waren 688.200 Arbeitsmigranten, 423.800 langzeitig und 264.400 kurzzeitig, im Ausland beschäftigt. Der ukrainische Arbeitsmigrant verdient mit durchschnittlich 930 US-Dollar pro Monat rund dreimal mehr als der Durchschnittsukrainer daheim. Der Durchschnittslohn lag in der Ukraine im Jänner 2017 bei 6.008 Hrywnja (ca. 206 €). Dies ist eine Steigerung von 50 Euro zum Jahr davor. Das Nettogehalt beträgt etwa 166 Euro. In der Hauptstadt Kyiv liegt der Durchschnittslohn bei ca. 223 Euro und in den nordöstlichen Regionen sowie in Czernowitz und Ternopil bei etwa 160 Euro. Der Mindestlohn wurde mit 2017 verdoppelt und beträgt nun brutto 110 Euro, netto 88 Euro. Das Wirtschaftsministerium schätzt den Schattensektor der Wirtschaft derzeit auf 35%, anderen Schätzungen zufolge dürfte dieser Anteil aber eher gegen 50% liegen. Das Existenzminimum für eine alleinstehende Person wurde im Jänner 2017 mit 1.544 Hrywnja (aktuell ca. 53 Euro), ab 1. Mai 2017 mit 1.624 Hrywnja (ca. 56 Euro) und ab 1. Dezember 2017 mit 1.700 Hrywnja (ca. 59 Euro) festgelegt (ÖB 4.2017).
Die Wirtschaftslage konnte - auf niedrigem Niveau - stabilisiert werden, die makroökonomischen Voraussetzungen für Wachstum wurden geschaffen. 2016 ist die Wirtschaft erstmals seit Jahren wieder gewachsen (gut 1 %). Die Jahresinflation sank 2016 auf gut 12 % (nach ca. 43 % im Vorjahr). Die Realeinkommen sind um einige Prozent gestiegen, nachdem sie zuvor zwei Jahre lang jeweils um zweistellige Prozentzahlen gefallen waren. Der (freie) Wechselkurs der Hrywnja ist etwa seit dem Frühjahr 2015 weitgehend stabil, Zahlungsbilanzungleichgewichte nahmen deutlich ab. Ohne internationale Finanzhilfen durch IWF und andere wäre die Ukraine aber vermutlich weiterhin mittelfristig zahlungsunfähig. Regierung und Nationalbank bemühen sich bislang erfolgreich, die harten Auflagen, die mit den IWF-Krediten einhergehen, zu erfüllen (u. a. Sparhaushalt auch für 2017 verabschiedet; Abbau der Verbraucherpreissubventionen für Energie; erhebliche, Konsolidierung des Bankensektors, marktwirtschaftliche Reformen, Deregulierung) (AA. 7.2.2017).
Sozialsystem
Die Existenzbedingungen sind im Landesdurchschnitt knapp ausreichend. Die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln ist gesichert. Vor allem in ländlichen Gebieten stehen Strom, Gas und warmes Wasser z. T. nicht ganztägig zur Verfügung. Die Situation gerade von auf staatliche Versorgung angewiesenen älteren Menschen, Kranken, Behinderten und Kinder bleibt daher karg. Ohne zusätzliche Einkommensquellen bzw. private Netzwerke ist es insbesondere Rentnern und sonstigen Transferleistungsempfängern kaum möglich, ein menschenwürdiges Leben zu führen. Sozialleistungen und Renten werden zwar in der Regel regelmäßig gezahlt, sind aber größtenteils sehr niedrig (AA 7.2.2017).
Das ab der zweiten Hälfte der 1990er Jahre eingeführte ukrainische Sozialversicherungssystem umfasst eine gesetzliche Pensionsversicherung, eine Arbeitslosenversicherung und eine Arbeitsunfallversicherung. Aufgrund der Sparpolitik der letzten Jahre wurde im Sozialsystem einiges verändert, darunter Änderungen in den Anspruchsanforderungen, in der Finanzierung des Systems und der Versicherungsfonds. Die Ausgaben für das Sozialsystem im nicht-medizinischen Sektor sanken von 23% des BIP 2013 auf 18,5% 2015 weiter auf 17,8% vor allem wegen der Reduktion von Sozialleistungen besonders im Bereich der Pensionen. Alleinstehende Personen mit Kindern können in Form einer Beihilfe für Alleinerziehende staatlich unterstützt werden. Gezahlt wird diese für Kinder, die jünger als 18 Jahre alt sind (bzw. Studenten unter 23 Jahren). Die Zulage orientiert sich am Existenzminimum für Kinder (entspricht 80% des Existenzminimums für alleinstehende Personen) und dem durchschnittlichen Familieneinkommen. Außerdem existiert eine Hinterbliebenenrente. Der monatlich ausgezahlte Betrag beträgt 50% der Rente des Verstorbenen für eine Person, bei zwei oder mehr Hinterbliebenen werden 100% ausgezahlt. Für Minderjährige gibt es staatliche Unterstützungen in Form von Familienbeihilfen, die an arme Familien vergeben werden. Hinzu kommt ein Zuschuss bei der Geburt oder bei der Adoption eines Kindes sowie die oben erwähnte Beihilfe für Alleinerziehende. Der Geburtszuschuss beträgt ab Mai 2017 46.680 Hrywnja (ca. 1.400 Euro). Der Adoptionszuschuss (der sich nicht nur auf Adoption, sondern auch auf Kinder unter Vormundschaft bezieht) beläuft sich ab Mai 2017 auf bei Kindern von 0-5 Jahren auf monatlich 1.167 Hrywnja (ca. 40 Euro) und für Kinder von 6-18 Jahren auf 1.455 Hrywnja (ca. 50 Euro). Der Mutterschutz beginnt sieben Tage vor der Geburt und endet in der Regel 56 Tage danach. Arbeitende Frauen erhalten in dieser Periode 100% des Lohns. Bis das Kind 3 Jahre alt ist bekommt die Mutter zwischen 130 (ca. 4,5 Euro) und 1.450 Hrywnia (ca. 50 Euro). Eine Vaterschaftskarenz gibt es nicht. Versicherte Erwerbslose erhalten mindestens 975 Hrywnja (ca. 39 Euro) und maximal 4.872 Hryvnja (169 Euro) Arbeitslosengeld pro Monat. Nicht versicherte arbeitslose erhalten mindestens 544 Hryvnja (ca. 19 Euro). Das Arbeitslosengeld setzt sich wie folgt zusammen: mit weniger als zwei Beschäftigungsjahren vor dem Verlust der Arbeit beträgt die Berechnungsgrundlage 50% des durchschnittlichen Verdienstes; bei zwei bis sechs Jahren sind es 55%; bei sieben bis zehn Jahren 60% und bei mehr als zehn Jahren 70% des durchschnittlichen Verdienstes. In den ersten 90 Kalendertagen werden 100% der Berechnungsgrundlage ausbezahlt, in den nächsten 90 Tagen sind es 80%, danach 70%. Die gesetzlich verpflichtende Pensionsversicherung wird durch den Pensionsfonds der Ukraine verwaltet, der sich aus Pflichtbeiträgen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer, aus Budgetmitteln und diversen Sozialversicherungsfonds speist. Arbeitsmigranten können sich freiwillig an diesem Pensionsfonds beteiligen. Spezielle Pensionsschemata existieren u.a. für Öffentlich Bedienstete, Militärpersonal, Richter und verschiedene Berufsgruppen aus der Schwerindustrie. Neben der regulären Alterspension kommen Invaliditäts- und Hinterbliebenenrenten zur Auszahlung. Mit dem am 6. September 2011 im ukrainischen Parlament verabschiedeten "Gesetz zur Pensionsreform" wird sich das ursprüngliche Pensionsantrittsalter für Frauen von 55 Jahren in einem Übergangszeitraum auf das der Männer, welches bei 60 Jahren liegt, angleichen. Private Pensionsvereinbarungen sind seit 2004 gesetzlich möglich. Eine vor allem von internationalen Geldgebern geforderte neue Pensionsreform zur Reduzierung des großen strukturellen Defizits des staatlichen Pensionsfonds ist derzeit in Arbeit und wurde von der Regierung mehrmals versprochen, vorerst jedoch noch nicht angenommen. Im Jahr 2016 belief sich die Durchschnittspension auf 1699,5 Hrywnja (ca. 59 Euro), die Invaliditätsrente auf 1545,2 Hrywnja (ca. 53,5 Euro) und die Hinterbliebenenpension 1640,3 Hrywnja (ca. 57 Euro). Die meisten Pensionisten sind daher gezwungen weiter zu arbeiten. Die Ukraine hat mit 12 Millionen Pensionisten (entspricht knapp einem Drittel der Gesamtbevölkerung) europaweit eine der höchsten Quoten in diesem Bevölkerungssegment, was sich auch im öffentlichen Haushalt wiederspiegelt: 2009 wurde mit 18% des Bruttoinlandsprodukts der Ukraine, das für Pensionszahlungen aufgewendet wurde, ein Rekordwert erreicht. Zum Stand 2014 sank diese Zahl immerhin auf 17,2%, bleibt jedoch weiterhin exorbitant hoch (ÖB 4.2017).
Medizinische Versorgung
Die medizinische Versorgung ist der Regel nach kostenlos und flächendeckend.
Krankenhäuser und andere medizinische Einrichtungen, in denen überlebenswichtige Maßnahmen durchgeführt und chronische, auch innere und psychische Krankheiten behandelt werden können, existieren sowohl in der Hauptstadt Kiew als auch in vielen Gebietszentren des Landes. Landesweit gibt es ausgebildetes und sachkundiges medizinisches Personal. Dennoch ist gelegentlich der Beginn einer Behandlung korruptionsbedingt davon abhängig, dass der Patient einen Betrag im Voraus bezahlt oder Medikamente und Pflegemittel auf eigene Rechnung beschafft. Neben dem öffentlichen Gesundheitswesen sind in den letzten Jahren auch private Krankenhäuser beziehungsweise erwerbswirtschaftlich geführte Abteilungen staatlicher Krankenhäuser gegründet worden. Die Dienstleistungen der privaten Krankenhäuser sind jedoch für den größten Teil der ukrainischen Bevölkerung nicht bezahlbar. Fast alle gebräuchlichen Medikamente werden im Land selbst hergestellt. Die Apotheken führen teilweise auch importierte Arzneien. In den Gebieten Donezk und Lugansk (unter Kontrolle der ukrainischen Regierung) leidet die medizinische Versorgung jedoch unter kriegsbedingten Engpässen: so wurden einige Krankenhäuser beschädigt und/oder verloren wesentliche Teile der Ausrüstung; qualifizierte Ärzte sind nach Westen gezogen. Im Donezker Gebiet gibt es zurzeit keine psychiatrische Betreuung, da das entsprechende Gebietskrankenhaus vollständig zerstört ist. Das Gebietskrankenhaus des Lugansker Gebiets musste sämtliche Ausrüstung zurücklassen und konnte sich nur provisorisch in Rubeschne niederlassen. Eine qualifizierte Versorgung auf sekundärem Niveau (oberhalb der Versorgung in städtischen Krankenhäusern) ist dort zurzeit nicht gegeben (AA 7.2.2017).
Gemäß Verfassung haben ukrainische Bürger kostenlosen Zugang zu einem umfassenden Paket an Gesundheitsdienstleistungen in öffentlichen Gesundheitseinrichtungen. Es gibt kein beitragsgestütztes staatliches Krankenversicherungsschema. Das System wird durch allgemeine Steuern finanziert, aber es herrscht chronischer Geldmangel (BDA 13.7.2015).
Die öffentlichen Ausgaben für das Gesundheitswesen orientieren sich am Erhalt der Infrastruktur und der Belegschaft der Krankenhäuser, nicht aber an der notwendigen Behandlung. Da in der ukrainischen Verfassung zwar für alle Bürger der freie Zugang zur Gesundheitsfürsorge garantiert ist, jedoch keine spezifischen Verpflichtungen für den Staat und die Krankenhäuser genannt werden bzw. die Verteilung der zugewiesenen Budgetmittel den konkreten Gesundheitseinrichtungen obliegt, ist der Nährboden für Intransparenz und die Notwendigkeit für informelle Zuwendungen durch die Patienten gelegt. Die Patienten müssen somit in der Praxis die meisten Leistungen selbst bezahlen: Behandlungen, Medikamente, selbst das Essen und oft auch das Krankenbett. Patienten, die diese Kosten nicht aufbringen können, werden in der Regel schlecht oder gar nicht behandelt (ÖB 4.2017).
Aufgrund der wirtschaftlichen Lage hat die Regierung mehrere Versuche unternommen, den Umfang der garantierten medizinischen Leistungen einzuschränken. Hierzu wurde es staatlichen Gesundheitseinrichtungen erlaubt für bestimmte nicht lebensnotwendige Leistungen vom Patienten (oder dessen etwaiger privater Krankenversicherung) eine Gebühr zu verlangen. Die Entscheidung, welche Leistungen kostenlos erfolgen, obliegt dem Gesundheitsdienstleister. Dies führte zu mangelnder Transparenz des Systems und zu einer Erhöhung der bereits bestehenden informellen Zahlungen. Es gibt keine klare Linie zwischen kostenlosen und kostenpflichtigen medizinischen Leistungen. Zahlungen aus eigener Tasche machten 2012 42,3% der gesamten Gesundheitsausgaben aus, und sie nehmen in allen Bereichen zu: offizielle Servicegebühren, Medikamente und informelle Zahlungen.
Schätzungen zufolge sind zumindest 10% aller Geldflüsse im ukrainischen Gesundheitswesen unter dem Begriff "informelle Zahlungen" zu subsumieren. In der Regel werden derartige Zuwendungen vor der entsprechenden Behandlung geleistet. Die Höhe der Zuwendung bestimmt in der Folge die Qualität und die Schnelligkeit der Behandlung (BDA 13.7.2015; vgl. ÖB 4.2017).
Während die medizinische Versorgung in Notsituationen in den Ballungsräumen als befriedigend bezeichnet werden kann, bietet sich auf dem Land ein differenziertes Bild: jeder zweite Haushalt am Land hat keinen Zugang zu medizinischen Notdiensten. Die hygienischen Bedingungen vor allem in den Gesundheitseinrichtungen am Land sind oftmals schlecht. Aufgrund der niedrigen Gehälter und der starken Motivation gutausgebildeter Mediziner, das Land für bessere Verdienst- und Karrieremöglichkeiten im Ausland zu verlassen, sieht sich das ukrainische Gesundheitssystem mit einer steigenden Überalterung seines Personals und mit einer beginnenden Ausdünnung der Personaldecke, vor allem auf dem Land und in Bereichen der medizinischen Grundversorgung, konfrontiert (ÖB 4.2017).
Medikamente sollten grundsätzlich kostenlos sein, mit der Ausnahme spezieller Verschreibungen im ambulanten Bereich - und selbst hier gibt es gesetzliche Ausnahmen, die Angehörige bestimmter Gruppen und Schwerkranke (Tbc, Krebs, etc.) offiziell von Kosten befreien. In der Realität müssen Patienten die Medikamente aber meist selbst bezahlen. Dies trifft vor allem auf Verschreibungen nach stationärer Aufnahme in Spitälern zu. Viele Ukrainer zögern aus finanziellen Gründen Behandlungen hinaus bzw. verzichten ganz darauf. Andere verkaufen Eigentum oder leihen sich Geld, um eine Behandlung bezahlen zu können (BDA 13.7.2015; vgl. ÖB 4.2017).
Das Budget für den staatlichen Gesundheitssektor deckt z.B. die Behandlungskosten nur für 30% der Patienten mit HIV, für 37% der Patienten mit Tuberkulose, für 9% der Patienten mit Hepatitis, für 66% der Kinder mit Krebserkrankung und für 27% der erwachsenen Patienten mit Hämophilie. Die Finanzierung ist kompliziert, was zu Unterbrechungen und damit zu ernsthaften Risiken für die Patienten führen kann (OHCHR 3.6.2016).
Eine umfangreiche Reform des Gesundheitssystems ist derzeit in Planung bzw. befindet sich in einem sehr frühen Stadium der Umsetzung, schreitet jedoch nur langsam voran. Geplant sind unter anderem Schritte in Richtung einer stärkeren Dezentralisierung, eine gesetzliche Krankenversicherung, stärkere Autonomie von Kliniken, Krankenhäusern und Ärzten usw. (ÖB 4.2017).
Private medizinische Behandlung und private Krankenversicherungen sind vorhanden, vor allem in den urbanen Zentren. Diese sind teuer, die Qualität ist dafür oft höher als in öffentlichen Krankenhäusern. Der Privatsektor ist klein und besteht überwiegend aus Apotheken, stationären und ambulanten Diagnoseeinrichtungen, und privat praktizierenden
Ärzten. Beratungsgebühren variieren zwischen 180 UAH (Allgemeinmediziner) und 210 UAH (Spezialist). Private Krankenversicherungen werden üblicherweise von Personen mit gesundheitlichen Problemen abgeschlossen, um die Kosten der Behandlung in Bezug auf Direktzahlungen z