TE Bvwg Erkenntnis 2020/1/27 W238 2190981-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 27.01.2020
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Entscheidungsdatum

27.01.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art. 133 Abs4
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §31 Abs1

Spruch

W238 2190979-1/25E

W238 2190981-1/23E

Schriftliche Ausfertigung der am 13.01.2020 mündlich verkündeten Erkenntnisse und Beschlüsse

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Claudia MARIK über die Beschwerden von 1. XXXX , geboren am XXXX alias XXXX , 2. von XXXX , geboren am XXXX alias XXXX , beide Staatsangehörigkeit Afghanistan, beide vertreten durch den Magistrat der Stadt Wien als Kinder- und Jugendhilfeträger, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 23.02.2018, Zahlen XXXX und XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 13.01.2020

beschlossen:

A)

I. Hinsichtlich der Beschwerden gegen Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide werden die Verfahren wegen Zurückziehung der Beschwerden gemäß § 28 Abs. 1, § 31 Abs. 1 VwGVG eingestellt.

zu Recht erkannt:

II. Den Beschwerden gegen Spruchpunkt II. der angefochtenen Bescheide wird stattgegeben und XXXX sowie XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 jeweils der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf ihren Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX sowie XXXX jeweils eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 13.01.2021 erteilt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG jeweils nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE :

I. Verfahrensgang:

1. Die Beschwerdeführer, zwei Brüder mit afghanischer Staatsangehörigkeit, stellten am 02.12.2015 in Österreich Anträge auf internationalen Schutz.

Bei ihrer Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am selben Tag gaben die Beschwerdeführer im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Farsi an, dass sie afghanische Staatsangehörige sowie Angehörige der Volksgruppe Hazara mit schiitisch-islamischem Glauben seien. Sie hätten bislang keine Ehe geschlossen und seien kinderlos. Als Fluchtgrund gaben die Beschwerdeführer im Wesentlichen an, dass sie im Iran geboren worden seien und sich dort illegal aufgehalten hätten. Es habe immer wieder Probleme mit der iranischen Bevölkerung und den Behörden gegeben. Sie hätten nicht in die Schule gehen und arbeiten dürfen. Es habe die Gefahr der Abschiebung nach Afghanistan bestanden. Der Erstbeschwerdeführer brachte seine Angst vor den Taliban zum Ausdruck, zumal sein Vater vor mehreren Jahren in Afghanistan gewesen und von Taliban bedroht worden sei. Der Vater und die (Halb-)Geschwister der Beschwerdeführer würden nach wie vor im Iran leben. Der Zweitbeschwerdeführer betonte, dass er in Afghanistan niemanden habe.

Als Geburtsdatum des Erstbeschwerdeführers wurde der XXXX (umgerechnet: XXXX ) aufgenommen. Als Geburtsdatum des Zweitbeschwerdeführers wurde der XXXX aufgenommen.

2. Aufgrund von Zweifeln an der Minderjährigkeit der Beschwerdeführer wurden vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) entsprechende Untersuchungen veranlasst.

Aus einem Röntgenbefund vom 27.01.2016 geht hervor, dass sämtliche Epiphysenfugen an den Phalangen und den Metacarpalia beim Erstbeschwerdeführer geschlossen seien, am Radius zeige sich eine zarte Epiphysennarbe, das Ergebnis laute GP 31, Schmeling 4. Daraufhin wurde eine Altersfeststellungsuntersuchung beim Erstbeschwerdeführer durchgeführt. Aus dem darauf basierenden medizinischen Sachverständigengutachten vom 10.06.2016 geht ein Mindestalter zum Zeitpunkt der Asylantragstellung von 17,43 Jahren hervor. Das fiktive Geburtsdatum laute XXXX . Von diesem Geburtsdatum ging das BFA in weiterer Folge aus.

Aus einem Röntgenbefund vom 17.12.2015 geht hervor, dass sämtliche Epiphysenfugen an den Phalangen und den Metacarpalia beim Zweitbeschwerdeführer geschlossen seien, am Radius zeige sich eine zarte Epiphysennarbe, das Ergebnis laute GP 31, Schmeling 4. Daraufhin wurde auch eine Altersfeststellungsuntersuchung beim Zweitbeschwerdeführer durchgeführt. Aus dem darauf basierenden medizinischen Sachverständigengutachten vom 24.06.2016 geht ein Mindestalter zum Zeitpunkt der Asylantragstellung von 17,74 Jahren hervor. Das fiktive Geburtsdatum laute XXXX . Von diesem Geburtsdatum ging das BFA in weiterer Folge aus.

3. Mit Beschluss des Bezirksgerichts XXXX vom 13.01.2016 wurde der Magistrat der Stadt Wien als Kinder- und Jugendhilfeträger mit der Obsorge der Beschwerdeführer betraut. Das Bezirksgericht ging dabei von den ursprünglich angegebenen Geburtsdaten der Beschwerdeführer aus.

4. Im Rahmen der am 23.10.2017 im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari durchgeführten Einvernahme des Erstbeschwerdeführers vor dem BFA, Regionaldirektion Wien, wurde dieser mit dem von ihm angegebenen Geburtsdatum und dem Ergebnis des medizinischen Sachverständigengutachtens konfrontiert. Der Erstbeschwerdeführer gab dazu an, dass er im XXXX ( XXXX ) geboren worden sei. Weiters wiederholte und präzisierte er seine bisherigen Angaben zu Staatsangehörigkeit, Geburtsort, Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, Schulbesuch, Familienangehörigen sowie Familienstand. Er gab an, dass er an grauem Star im Anfangsstadium leide und ansonsten gesund sei. Als Fluchtgrund gab der Erstbeschwerdeführer im Wesentlichen an, dass er eine bessere Zukunft und eine schulische Ausbildung wolle. Er sei im Iran illegal aufhältig gewesen. Zudem bestehe die Gefahr, dass er vom Iran nach Afghanistan abgeschoben oder nach Syrien in den Krieg geschickt werde. Sein Bruder XXXX sei seit fünf Monaten abgängig. Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan fürchte er, ermordet zu werden, weil er Schiite sei. Der Erstbeschwerdeführer legte Unterlagen zum Beweis seiner Integration in Österreich sowie medizinische Befunde vor.

Anlässlich der ebenfalls am 23.10.2017 im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari durchgeführten Einvernahme vor dem BFA, Regionaldirektion Wien, wurde auch der Zweitbeschwerdeführer mit dem von ihm angegebenen Geburtsdatum und dem Ergebnis des medizinischen Sachverständigengutachtens konfrontiert. Der Zweitbeschwerdeführer führte aus, dass er sein genaues Geburtsdatum nicht sagen könne. Er sei im XXXX ( XXXX ) geboren und 16 Jahre alt. Weiters wiederholte und präzisierte auch er seine bisherigen Angaben zu Staatsangehörigkeit, Geburtsort, Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, Schulbesuch, Familienangehörigen sowie Familienstand. Er gab an, dass er gesund sei.

Als Fluchtgrund gab der Zweitbeschwerdeführer zusammenfassend an, dass er um Asyl angesucht habe, damit er in Sicherheit sei und die Schule besuchen könne. Im Iran sei er als Afghane beschimpft und um seinen Lohn betrogen worden. Er habe aufgrund seines illegalen Aufenthalts Probleme mit der iranischen Polizei gehabt. Es habe die Gefahr bestanden, nach Afghanistan abgeschoben zu werden und im Krieg in Syrien kämpfen zu müssen. Auch habe er im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan Angst vor den Taliban, weil diese Schiiten töten würden. Der Zweitbeschwerdeführer legte Unterlagen zum Beweis seiner Integration in Österreich sowie medizinische Befunde vor.

5. Am 30.10.2017 erstatteten die Beschwerdeführer eine Stellungnahme zu den Länderinformationen sowie zu den zwecks Altersfeststellung eingeholten Gutachten.

6. Am 21.02.2018 wurde eine weitere Stellungnahme der Beschwerdeführer zu den medizinischen Gutachten betreffend Altersfeststellung erstattet.

7. Mit den nunmehr angefochtenen Bescheiden des BFA vom 23.02.2018 wurden die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz vom 02.12.2015 hinsichtlich der Zuerkennung des Status von Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkte I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkte II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde den Beschwerdeführern gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkte III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurden gegen die Beschwerdeführer Rückkehrentscheidungen nach § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkte IV.). Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung der Beschwerdeführer nach Afghanistan gemäß 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkte V.). Weiters sprach das BFA aus, dass Beschwerden gegen diese Entscheidungen gemäß § 18 Abs. 1 Z 3 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt wird (Spruchpunkte VI.). Schließlich wurde ausgesprochen, dass gemäß § 55 Abs. 1a FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise besteht (Spruchpunkte VII.).

8. Gegen diese Bescheide des BFA richten sich die fristgerecht erhobenen Beschwerden, in denen u.a. Anträge auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung gestellt wurden. Diesbezüglich wurde insbesondere ausgeführt, dass die Beschwerdeführer erst 15 bzw. 16 Jahre alt seien. Es bestehe ein aufrechter Beschluss des Bezirksgerichts XXXX über die Übertragung der Obsorge an den zuständigen Kinder- und Jugendhilfeträger. Die Beschwerdeführer seien unbescholten und gut integriert. Eine Abschiebung würde jedenfalls eine Verletzung der Art. 2, 3 und 8 EMRK bewirken. Die Bedrohungen, denen die Beschwerdeführer in ihrem Heimatland ausgesetzt wären, würden eine reale Gefahr einer Gefährdung von Leib und Leben darstellen. Der Vorwurf des BFA, die Beschwerdeführer hätten versucht, die Behörde über ihre wahre Identität zu täuschen, sei nicht gerechtfertigt. Die Beschwerdeführer hätten im Verlauf des Asylverfahrens gleichbleibende Angaben zu ihrer Identität und Staatsangehörigkeit gemacht. Die aufschiebende Wirkung der Beschwerden sei alleine deshalb aberkannt worden, weil unschlüssige und nicht lege artis erstellte Sachverständigengutachten eingeholt worden seien, wonach die Beschwerdeführer volljährig seien. Tatsächlich seien die Beschwerdeführer minderjährig. Selbst wenn man aber den Altersgutachten folgen würde, sei zu bedenken, dass die Beschwerdeführer aus einem Kulturkreis kommen würden, in dem das Lebensalter einer Person kaum Bedeutung habe, zumal viele Menschen gar nicht wüssten, wie alt sie seien. Zudem sei die Interessenabwägung vom BFA nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden. Es sei nicht berücksichtigt worden, dass die unbescholtenen und gut integrierten Beschwerdeführer minderjährig seien, keinerlei Bezug zu ihrem Herkunftsland aufweisen würden und extrem vulnerabel seien. Insbesondere wurde betont, dass die Beschwerdeführer ohne ein soziales Netzwerk in Afghanistan auf sich alleine gestellt wären. Ihnen drohe ein vollständiger Entzug der Lebensgrundlage. Aufgrund ihres Alters, ihrer Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara und zur Bekenntnisgemeinschaft der Schiiten sowie ihres langjährigen Aufenthalts im Iran und in Europa wären die Beschwerdeführer zahlreichen Gefahren ausgesetzt. In diesem Zusammenhang wurde auch eine asylrelevante Verfolgung wegen Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der alleinstehenden (minderjährigen) Afghanen und zur Gruppe der schiitischen Hazara sowie wegen "westlicher" Lebensführung geltend gemacht. Eine Rückkehr der Beschwerdeführer wurde unter Verweis auf ihre Sozialisierung im Iran, die Annahme eines "westlichen" Lebensstils, ihren iranischen Akzent, die unzureichende (Fach-)Ausbildung, die Vermögenslosigkeit, das Fehlen eines sozialen Netzwerks und die schlechte Sicherheitslage in Afghanistan für unzumutbar erachtet.

9. Die Beschwerden und die Verwaltungsakten langten am 03.04.2018 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

10. Mit Teilerkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichtes vom 05.04.2018, W238 2190979-1/4E und W238 2190981-1/4E, wurde jeweils Spruchpunkt VI. der angefochtenen Bescheide gemäß § 28 Abs. 1 und 2 VwGVG ersatzlos behoben. Gemäß § 18 Abs. 5 BFA-VG wurde den Beschwerden die aufschiebende Wirkung zuerkannt. Die Revision wurde gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG jeweils für nicht zulässig erklärt.

11. Mit Schriftsätzen vom 04.11.2019 langten beim Bundesverwaltungsericht Fristsetzungsanträge gemäß Art. 133 Abs. 1 Z 2 B-VG wegen Verletzung der Entscheidungspflicht samt Anträgen auf Bewilligung der Verfahrenshilfe ein. Nach Vorlage der Anträge wurde dem Bundesverwaltungsgericht betreffend das Beschwerdeverfahren W238 2190979-1 mit verfahrensleitender Anordnung des Verwaltungsgerichtshofes vom 27.11.2019, Fr 2019/20/0044-3, gemäß § 38 Abs. 4 VwGG aufgetragen, binnen drei Monaten die Entscheidung zu erlassen und eine Ausfertigung derselben sowie eine Kopie des Nachweises der Zustellung der Entscheidung an die antragstellende Partei dem Verwaltungsgerichtshof vorzulegen oder anzugeben, warum eine Verletzung der Entscheidungspflicht nicht vorliegt. Mit Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes vom 27.11.2019, Fr 2019/20/0044-4, wurde die Verfahrenshilfe in Form der einstweiligen Entrichtung der Eingabengebühr nach § 24a VwGG bewilligt. Betreffend das Beschwerdeverfahren W238 2190981-1 wurde dem Bundesverwaltungsgericht mit verfahrensleitender Anordnung des Verwaltungsgerichtshofes vom 20.11.2019, Fr 2019/01/0034-3, gemäß § 38 Abs. 4 VwGG aufgetragen, binnen drei Monaten die Entscheidung zu erlassen und eine Ausfertigung derselben sowie eine Kopie des Nachweises der Zustellung der Entscheidung an die antragstellende Partei dem Verwaltungsgerichtshof vorzulegen oder anzugeben, warum eine Verletzung der Entscheidungspflicht nicht vorliegt. Mit Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes vom selben Tag, Fr 2019/01/0034-4, wurde die Verfahrenshilfe in Form der einstweiligen Entrichtung der Eingabengebühr nach § 24a VwGG bewilligt.

12. Am 20.12.2019 langte eine Stellungnahme des Beschwerdeführers zur Lage im Herkunftsland sowie zur spezifischen Situation der Beschwerdeführer beim Bundesverwaltungsgericht ein. Unter einem wurden die Einvernahme näher bezeichneter Zeugen in der Beschwerdeverhandlung beantragt und Unterlagen vorgelegt.

Am 08.01.2020 übermittelte der Erstbeschwerdeführer im Wege eines Hyperlinks eine Videobotschaft seiner Patin.

Am 09.01.2020 legten die Beschwerdeführer weitere Unterlagen zum Beweis ihrer Integration vor. Der Zweitbeschwerdeführer legte auch eine Bestätigung über eine psychotherapeutische Behandlung vor.

13. Am 13.01.2020 führte das Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der die Beschwerdeführer und ihre Rechtsvertreterinnen teilnahmen und der eine Dolmetscherin für die Sprachen Dari und Farsi beigezogen wurde. Die belangte Behörde entschuldigte sich unter Verweis auf dienstliche und personelle Gründe für die Nichtteilnahme an der Verhandlung und beantragte schriftlich die Abweisung der Beschwerden sowie die Übersendung des Verhandlungsprotokolls.

Die Beschwerdeführer wurden vom erkennenden Gericht eingehend zu ihrer Identität, Herkunft, zu den persönlichen Lebensumständen, zu ihren Fluchtgründen sowie zu ihrem Privat- und Familienleben in Österreich befragt. Im Zuge der Verhandlung wurden auch zwei Zeuginnen zum Beweis der Integration der Beschwerdeführer einvernommen. Weiters wurden vom erkennenden Gericht die Berichte über die allgemeine Lage im Herkunftsstaat der Beschwerdeführer in das Verfahren eingebracht. Die Rechtsvertretung der Beschwerdeführer übermittelte dazu bereits im Vorfeld der Verhandlung am 20.12.2019 eine schriftliche Stellungnahme, ergänzte diese mündlich und verzichtete auf eine gesonderte Äußerung zur Gesamtaktualisierung des Länderinformationsblattes vom 13.11.2019. Der Erstbeschwerdeführer legte eine Benachrichtigung der Staatsanwaltschaft Wien über die Einstellung eines Verfahrens wegen des Verdachts auf Körperverletzung vor. Der Zweitbeschwerdeführer brachte ein weiteres Empfehlungsschreiben in Vorlage.

Nach Schluss der mündlichen Verhandlung erfolgte eine mündliche Verkündung der im Spruch wiedergegebenen Erkenntnisse und Beschlüsse. Die Niederschrift der mündlichen Verhandlung wurde dem BFA im Anschluss an die Verhandlung übermittelt.

14. Am 16.01.2020 beantragte die belangte Behörde fristgerecht beim Bundesverwaltungsgericht die schriftliche Ausfertigung der mündlich verkündeten Entscheidungen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zu Person, Fluchtgründen und Rückkehrmöglichkeit der Beschwerdeführer

1.1.1. Die Beschwerdeführer, zwei Brüder mit afghanischer Staatsangehörigkeit, führen die im Spruch dieser Erkenntnisse angeführten Namen, gehören der Volksgruppe der Hazara an und bekennen sich zum schiitischen Islam. Ihre Muttersprache ist zwar Dari, sie sprechen aber viel besser Farsi. Sie beherrschen Dari nicht sehr gut, verwenden in Dari teilweise Begriffe aus Farsi und weisen einen deutlich hörbaren iranischen Akzent auf.

Die Eltern der Beschwerdeführer stammen ursprünglich aus der Provinz Helmand.

Die Beschwerdeführer wurden im Iran geboren und lebten dort bis zu ihrer Ausreise.

Sie stellten am 02.12.2015 in Österreich Anträge auf internationalen Schutz.

Die gesamte Familie (Kernfamilie und erweiterte Familie) der Beschwerdeführer lebt im Iran (Teheran). Ihr Vater arbeitet als Lastenträger und ernährt seine Frau sowie die Halbgeschwister (zwei Halbbrüder und eine Halbschwester) der Beschwerdeführer. Die Mutter der Beschwerdeführer ist verstorben. Der leibliche Bruder der Beschwerdeführer ist verschwunden.

In Afghanistan verfügen die Beschwerdeführer über keine sozialen oder familiären Anknüpfungspunkte.

Der Vater der Beschwerdeführer ist finanziell auch nicht dazu in der Lage, die Beschwerdeführer im Falle einer Ansiedelung in Afghanistan vom Iran aus zu unterstützen. Die Beschwerdeführer bzw. ihre Angehörigen verfügen in Afghanistan über keine Vermögenswerte mehr.

Die Beschwerdeführer besuchten ca. drei Jahre eine afghanische Abendschule im Iran. Sie können auf Farsi schlecht lesen und schreiben. Sie haben keine Berufsausbildung. Im Iran arbeiteten sie ca. drei Jahre in einer Schneiderei, wobei sie überwiegend in der Verpackung von Kleidung eingesetzt waren. In Österreich waren sie nie berufstätig. Sie besuchen derzeit Kurse zur Absolvierung des Pflichtschulabschlusses.

Bei ihren Einvernahmen gaben die Beschwerdeführer an, minderjährig zu sein.

Die vom BFA zwecks Altersdiagnose eingeholten medizinischen Sachverständigengutachten vom 10.06.2016 und vom 24.06.2016 ergaben als fiktives Geburtsdatum des Erstbeschwerdeführers den XXXX und des Zweitbeschwerdeführers den XXXX .

Mit Beschluss des Bezirksgerichts XXXX vom 13.01.2016 wurde der Magistrat der Stadt Wien als Kinder- und Jugendhilfeträger mit der Obsorge der Beschwerdeführer betraut. Das Bezirksgericht ging dabei von den ursprünglich angegebenen Geburtsdaten der Beschwerdeführer ( XXXX und XXXX ) aus.

Seitens des Bundesverwaltungsgerichtes wird festgestellt, dass die Beschwerdeführer spätestens im Jahr XXXX geboren wurden und derzeit ca. 21-22 Jahre alt sind, wobei der Erstbeschwerdeführer jünger ist als der Zweitbeschwerdeführer (zur Frage der Bindungswirkung des Obsorgebeschlusses im Asylverfahren wird auf die rechtlichen Ausführungen unter Pkt. II.3.1. verwiesen). Vom äußeren Erscheinungsbild her machen die Beschwerdeführer einen sehr jungen Eindruck. Sie sind beide auf Unterstützung bei Dingen des täglichen Lebens angewiesen.

Die Beschwerdeführer weisen physische und psychische Funktionsbeeinträchtigungen auf.

Beim Erstbeschwerdeführer besteht eine posttraumatische Belastungsstörung. Von Mai 2018 bis Oktober 2019 nahm er Psychotherapie in Anspruch; derzeit erhält er erneut eine psychotherapeutische Behandlung. Er nimmt das Antidepressivum Fluoxetin ein. Im Jahr 2016 wurde grauer Star bei ihm diagnostiziert. Im Dezember 2018 erfolgte eine Augenoperation. Seitdem kann der Erstbeschwerdeführer nicht mehr nah sehen. Er trägt eine Brille. Er leidet aufgrund der Augenerkrankung zudem an Kopfschmerzen, Konzentrationsschwierigkeiten und Schwindelanfällen. Seine rechte Schulter ist einmal ausgekugelt (luxiert). Sein rechter Daumen ist nach einer schlecht verheilten Schnittverletzung versteift.

Das linke Schultergelenk des Zweitbeschwerdeführers ist bereits dreimal ausgekugelt (luxiert), weshalb er im Juni 2019 eine Schulteroperation hatte; seitdem leidet er unter Schmerzen und Bewegungseinschränkungen im linken Schultergelenk. Der Zweitbeschwerdeführer leidet zudem unter posttraumatischer Belastungsstörung mit Konzentrationsschwäche und Albträumen. Von Februar bis Juli 2017 machte er eine Psychotherapie; diese wird seit 31.12.2019 fortgesetzt.

Die Beschwerdeführer sind zum Zeitpunkt dieser Entscheidungen strafrechtlich unbescholten

1.1.2. Im Zuge der mündlichen Verhandlung zogen die Beschwerdeführer ihre gegen Spruchpunkt I. der Bescheide erhobenen Beschwerden betreffend die Nichtzuerkennung des Status als Asylberechtigte mit Einverständnis ihrer gesetzlichen Vertretung ausdrücklich zurück.

1.1.3. Eine Rückkehr der Beschwerdeführer in die Herkunftsprovinz ihrer Eltern Helmand scheidet aus, weil ihnen dort aufgrund der vorherrschenden Sicherheitslage ein Eingriff in ihre körperliche Unversehrtheit drohen würde, zumal die Provinz für die Beschwerdeführer nicht sicher erreichbar wäre.

Den Beschwerdeführern ist es auch nicht möglich und zumutbar, sich stattdessen in den urbanen Gebieten Afghanistans, insbesondere in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif, oder an einem anderen Ort Afghanistans niederzulassen.

Weder haben die im Iran geborenen und aufgewachsenen Beschwerdeführer jemals an den genannten Orten gelebt noch verfügen sie dort über soziale oder familiäre Anknüpfungspunkte. Sie sind zwar in einem afghanischen Familienverband aufgewachsen, haben aber keine örtlichen Kenntnisse in Afghanistan und auch sonst keine aufrechten Bindungen mehr zu ihrem Herkunftsstaat. Auch ihr Vater könnte die Beschwerdeführer vom Iran aus nicht finanziell unterstützen. Die Familie hat weder im Iran noch in Afghanistan Vermögenswerte, über welche die Beschwerdeführer im Falle der Rückkehr verfügen könnten. Die Beschwerdeführer wären daher unter äußerst schwierigen Bedingungen völlig auf sich gestellt. Die Beschwerdeführer verfügen zwar über eine Schulbildung in Form eines Abendschulbesuchs. Sie können jedoch in Farsi kaum lesen und schreiben und haben (nach wie vor) keine Berufsausbildung. Überdies beherrschen sie ihre Muttersprache Dari schlecht, zumal sie mit deutlich hörbarem iranischem Akzent sprechen. Während ihrer ca. dreijährigen Tätigkeit in einer Schneiderei waren sie überwiegend in der Verpackung von Kleidung eingesetzt und haben den Beruf des Schneiders nicht erlernt. Im Iran lebten sie noch in der Obhut ihres Vaters. Weder im Iran noch in Österreich kamen die Beschwerdeführer jemals alleine für ihr Unterhalt auf. Weiters sind die Beschwerdeführer aufgrund des bei ihnen festgestellten Gesundheitszustandes nur eingeschränkt arbeitsfähig. Der Erstbeschwerdeführer kann in Folge Luxation des rechten Schultergelenks keine schweren Sachen heben bzw. tragen. Auch die weiterhin bestehende Sehschwäche führt dazu, dass er nicht jede Art von Arbeit ausüben kann. Der Zweitbeschwerdeführer müsste Arbeiten vermeiden, bei denen sein bereits mehrfach luxiertes linkes Schultergelenk belastet wird.

In Anbetracht der festgestellten individuellen Situation der Beschwerdeführer und der spezifischen Berichtslage betreffend Personen, die außerhalb Afghanistans geboren wurden oder lange außerhalb Afghanistans lebten, war seitens des Bundesverwaltungsgerichtes im Lichte einer ganzheitlichen Bewertung der zu gewärtigenden Rückkehrsituation festzustellen, dass die Beschwerdeführer bei einer Ansiedelung in Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif bzw. an einem anderen Ort Afghanistans einem realen Risiko ausgesetzt wären, in eine existenzbedrohende (Not-)Lage zu geraten.

1.2. Zur Lage in Afghanistan

1.2.1. Betreffend die Lage in Afghanistan werden die im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan vom 13.11.2019, die in den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs Afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 sowie die in Berichten von EASO - EASO Country Guidance Afghanistan von Juni 2018 und Juni 2019, EASO Afghanistan Security Situation von Juni 2019, EASO Country of Origin Information Report Afghanistan Key socio-economic indicators Focus on Kabul City, Mazar-e Sharif and Herat City von April 2019 - enthaltenen

Informationen wie folgt auszugsweise festgestellt:

Sicherheitslage:

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (LIB 13.11.2019, S. 12).

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (LIB 13.11.2019, S. 18). Diese ist jedoch regional und sogar innerhalb der Provinzen von Distrikt zu Distrikt sehr unterschiedlich (EASO Country Guidance Afghanistan, Juni 2019, S. 89ff; LIB 13.11.2019, S. 18ff).

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung. Die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, sodass Engpässe entstehen. Dadurch können manchmal auch Kräfte fehlen um Territorium zu halten. Die Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau (LIB 13.11.2019, S. 19).

Für das gesamte Jahr 2018 gab es gegenüber 2017 einen Anstieg in der Gesamtzahl ziviler Opfer und ziviler Todesfälle. Für das erste Halbjahr 2019 wurde eine niedrigere Anzahl ziviler Opfer registrierten, im Juli, August und September lag ein hohes Gewaltniveau vor. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren 2018 am stärksten vom Konflikt betroffen (LIB 13.11.2019, S. 24).

Sowohl im gesamten Jahr 2018, als auch in den ersten fünf Monaten 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion, weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele (High Profile Angiffe - HPA) aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen. Diese Angriffe sind jedoch stetig zurückgegangen. Zwischen 1.6.2018 und 30.11.2018 fanden 59 HPAs in Kabul statt, zwischen 1.12.2018 und 15.5.2019 waren es 6 HPAs (LIB 13.11.2019, S. 25).

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB 13.11.2019, S. 26).

Taliban

Zwischen 1.12.2018 und 31.5.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zum Ziel - die Taliban beschränken ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte (LIB 13.11.2019, S. 26; S. 29).

Die Gesamtstärke der Taliban betrug im Jahr 2017 über 200.000 Personen, darunter ca. 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan (LIB 13.11.2019, S. 27).

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten bestehen die Taliban bereits überwiegend aus Nicht-Paschtunen, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB 13.11.2019, S. 27).

Haqani-Netzwerk

Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida. Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt und ist für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich (LIB 13.11.2019, S. 27).

Islamischer Staat (IS/DaesH) - Islamischer Staat Khorasan Provinz

Die Stärke des ISKP variiert zwischen 1.500 und 3.000, bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern bzw. ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Der IS ist seit Sommer 2014 in Afghanistan aktiv. Durch Partnerschaften mit militanten Gruppen konnte der IS seine organisatorischen Kapazitäten sowohl in Afghanistan als auch in Pakistan stärken. Er ist vor allem im Osten des Landes in der Provinz Nangarhar präsent (LIB 13.11.2019, S. 27f).

Neben komplexen Angriffen auf Regierungsziele, verübte der ISKP zahlreiche groß angelegte Anschläge gegen Zivilisten, insbesondere auf die schiitische-Minderheit. Die Zahl der zivilen Opfer durch ISKP-Handlungen hat sich dabei 2018 gegenüber 2017 mehr als verdoppelt, nahm im ersten Halbjahr 2019 allerdings wieder ab. Die Taliban und der IS sind verfeindet. Während die Taliban ihre Angriffe überwiegend auf Regierungszeile bzw. Sicherheitskräfte beschränken, zielt der IS darauf ab konfessionelle Gewalt zu fördern und Schiiten anzugreifen (LIB 13.11.2019, S. 29).

Al-Qaida

Al-Qaida sieht Afghanistan auch weiterhin als sichere Zufluchtsstätte für ihre Führung, basierend auf langjährigen und engen Beziehungen zu den Taliban. Al-Qaida will die Präsenz in der Provinz Badakhshan stärken, insbesondere im Distrikt Shighnan, der an der Grenze zu Tadschikistan liegt, aber auch in der Provinz Paktika, Distrikt Barmal, wird versucht die Präsenz auszubauen (LIB 13.11.2019, S. 29).

Sicherheitsbehörden

Die afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF - Afghan National Defense and Security Forces) umfassen militärische, polizeiliche und andere Sicherheitskräfte. Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police) (LIB 13.11.2019, S. 249).

Die Afghanische Nationalarmee (ANA) ist für die externe Sicherheit verantwortlich, dennoch besteht ihre Hauptaufgabe darin, den Aufstand im Land zu bekämpfen. Das Verteidigungsministerium hat die Stärke der ANA mit 227.374 autorisiert (LIB 13.11.2019, S. 250). Die Afghan National Police (ANP) gewährleistet die zivile Ordnung und bekämpft Korruption sowie die Produktion und den Schmuggel von Drogen. Der Fokus der ANP liegt derzeit in der Bekämpfung von Aufständischen gemeinsam mit der ANA (LIB 13.11.2019, S. 250). Die Afghan Local Police (ALP) wird durch die USA finanziert und schützt die Bevölkerung in Dörfern und ländlichen Gebieten vor Angriffen durch Aufständische (LIB 13.11.2019, S. 251).

Helmand

Die Provinz Helmand liegt im Süden Afghanistans und grenzt an die Provinzen Nimroz und Farah im Westen, Ghor und Daikundi im Norden sowie Uruzgan und Kandahar im Osten. Im Süden teilt sich Helmand eine 162 Kilometer lange Grenze mit Pakistan entlang der Durandlinie. Helmand ist die größte Provinz Afghanistans und gliedert sich in die Distrikte Baghran, Dishu, Garm Ser, Kajaki, Lashkargah, Musa Qala, Nad Ali, Marja (ehemals Teil von Nad Ali, Nahr-i-Saraj (Nawa-i-Barikzayi, Nawamish, Nawzad, Reg-i-Khan Nishin, Sangin und Washer.

Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure

Helmand zählt zu den volatilen Provinzen Afghanistans. Ein Großteil der Gewalt in Helmand ist auf die Drogenwirtschaft zurückzuführen. Aufständische der Taliban sind in gewissen unruhigen Distrikten aktiv, in denen sie versuchen terroristische Aktivitäten gegen die Regierung und Sicherheitsinstitutionen durchzuführen.

Die Taliban können auf eine große Anzahl an Unterstützern aus der Bevölkerung zurückgreifen. Neben den Taliban soll auch Al-Qaida in Helmand präsent sein. Im August 2018 töteten afghanische Sicherheitskräfte sieben Al-Qaida-Mitglieder in Helmand. Einer Quelle zufolge sind keine Kämpfer des Islamischen Staats (IS) in Helmand aktiv.

Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung

Im Jahr 2018 dokumentierte UNAMA 880 zivile Opfer (281 Tote und 599 Verletzte) in Helmand. Dies entspricht einem Rückgang von 11% gegenüber 2017. Die Hauptursache für die Opfer waren Kämpfe am Boden, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordanschläge) und Selbstmord- oder komplexe Angriffe.

Laut einem Bericht des UN-Generalsekretärs war Helmand im Frühjahr 2019 eine der aktivsten Konfliktzonen Afghanistans. Während des Jahres 2018 und im ersten Halbjahr 2019 führten die US-amerikanischen und afghanischen Streitkräfte Operationen in der Provinz fort, einschließlich Luftangriffen, die Berichten zufolge Schäden unter der Zivilbevölkerung verursachten. Im Zeitraum von November 2018 bis Februar 2019 haben rund ein Drittel aller Luftangriffe in Afghanistan in der Provinz Helmand stattgefunden. Im Berichtszeitraum Februar bis Juni 2019 fand die Hälfte aller Luftangriffe in den Provinzen Helmand und Ghazni statt. Auch werden seit Juni 2018 Offensiven verstärkt in den strategisch wichtigen Distrikten Nad Ali, Nawa, Garm Ser, Nahr-i-Saraj, Sangin und Washer durchgeführt. Die Taliban wurden so zurückgedrängt und der Druck auf die Provinzhauptstadt konnte vermindert werden.

In der Provinz werden regelmäßig Sicherheitsoperationen durchgeführt, dabei wurden hochrangige Taliban getötet und Gefangene aus Taliban-Gefängnissen befreit. Die Taliban griffen wiederholt Sicherheitskontrollposten und Sicherheitskräfte an.

(LIB 13.11.2019, S. 98 ff.).

Kabul

Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans. Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Die Stadt Kabul ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, mit einer geschätzten Einwohnerzahl von 5.029.850 (LIB 13.11.2109, S. 36). Kabul ist Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt (LIB 13.11.2109, S. 38). Die Stadt Kabul ist über Hauptstraßen mit den anderen Provinzen des Landes verbunden und verfügt über einen internationalen Flughafen (LIB 13.11.2109, S. 37; S. 237).

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul. Nichtsdestotrotz, führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, im gesamten Jahr 2018, als auch in den ersten fünf Monaten 2019, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele durch, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen. Die Hauptursache für zivile Opfer in der Provinz Kabul (596 Tote und 1.270 Verletzte im Jahr 2018) waren Selbstmord- und komplexe Angriffe, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs) und gezielten Tötungen (LIB 13.11.2019, S. 38ff).

In Kabul leben 70.000 bis 80.000 Binnenvertriebene (LIB 13.11.219, S. 41).

Kabul ist das wichtigste Handels- und Beschäftigungszentrum Afghanistans und hat ein größeres Einzugsgebiet in den Provinzen Parwan, Logar und Wardak. Es gibt eine dynamischere Wirtschaft mit einem geringeren Anteil an Arbeitssuchenden, Selbständigen und Familienarbeitern. Menschen aus kleinen Dörfern pendeln täglich oder wöchentlich nach Kabul, um landwirtschaftliche Produkte zu handeln oder als Wachen, Hausangestellte oder Lohnarbeiter zu arbeiten. Die besten (Arbeits-)Möglichkeiten für Junge existieren in Kabul. Trotz der niedrigeren Erwerbsquoten ist der Frauenanteil in hoch qualifizierten Berufen in Kabul (49,6 %) am größten (LIB 13.11.2109, S. 335f).

Balkh

Die Provinzhauptstadt von Balkh ist Mazar-e Sharif. Die Provinz Balkh liegt im Norden Afghanistan und ist eine ethnisch vielfältige Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird. Es leben 1.475.649 Personen in der Provinz Balkh, davon geschätzte 469.247 in Mazar-e Sharif (LIB 13.11.2019, S. 61).

Balkh zählt zu den relativ stabilen und ruhigen Provinzen Nordafghanistans, in welcher die Taliban in der Vergangenheit keinen Fuß fassen konnten. In den letzten Monaten versuchten Aufständische der Taliban die Provinz Balkh aus benachbarten Regionen zu infiltrieren (LIB 13.11.2019, S. 62). Im Jahr 2018 227 zivile Opfer (85 Tote und 142 Verletzte) in Balkh dokumentiert. Dies entspricht einer Steigerung von 76% gegenüber 2017. Die Hauptursache für die Opfer waren Bodenkämpfe, gefolgt von improvisierten Bomben (IEDS; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen (LIB 13.11.2019, S. 63). Das Niveau an willkürlicher Gewalt ist in der Provinz Balkh sowie in der Stadt Mazar-e Sharif so gering, dass für Zivilisten an sich nicht die Gefahr besteht von erheblichen Eingriffen in die psychische oder physische Unversehrtheit betroffen zu sein (EASO - Country Guidance Afghanistan, Juni 2019, S. 89; S. 92f).

Mazar-e Sharif ist ein Import-/Exportdrehkreuz, ein regionales Handelszentrum sowie ein Industriezentrum mit großen Fertigungsbetrieben und einer Vielzahl von kleinen und mittleren Unternehmen. Mazar-e Sharif ist über die Autobahn sowie über einen Flughafen (mit nationalen und internationalen Anbindungen) zu erreichen (LIB 13.11.2019, S. 61; S. 336).

In der Stadt Mazar-e Sharif gibt es 10 - 15 - teils öffentliche, teils private - Krankenhäuser. In Mazar-e Sharif existieren mehr private als öffentliche Krankenhäuser. Private Krankenhäuser sind sehr teuer, jede Nacht ist kostenpflichtig. Zusätzlich existieren etwa 30-50 medizinische Gesundheitskliniken die zu 80% öffentlich finanziert sind (LIB 13.11.2019, S. 347).

Während Mazar-e Sharif im Zeitraum Juni 2019 bis September 2019 noch als IPC Stufe 1 "minimal" (IPC - Integrated Phase Classification) klassifiziert wurde, ist Mazar-e Sharif im Zeitraum Oktober 2019 bis Januar 2020 in Phase 2 "stressed" eingestuft. In Phase 1 sind die Haushalte in der Lage, den Bedarf an lebensnotwenigen Nahrungsmitteln und Nicht-Nahrungsmitteln zu decken, ohne atypische und unhaltbare Strategien für den Zugang zu Nahrung und Einkommen zu verfolgen. In Phase 2 weisen Haushalte nur einen gerade noch angemessenen Lebensmittelverbrauch auf und sind nicht in der Lage, sich wesentliche, nicht nahrungsbezogene Güter zu leisten, ohne dabei irreversible Bewältigungsstrategien anzuwenden (ACCORD, Sicherheitslage und sozio-ökonomische Lage in Herat und Mazar-e Sharif vom 02.10.2019).

Herat

Die Provinz Herat liegt im Westen Afghanistans und ist eine der größten Provinzen Afghanistans. Die Provinzhauptstadt von Herat ist Herat-Stadt (LIB 13.11.2019, S. 105). Die Provinz verfügt über 2.095.117 Einwohner, 556.205 davon in der Provinzhauptstadt. Die wichtigsten ethnischen Gruppen in der Provinz sind Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Turkmenen, Usbeken und Aimaqs, wobei Paschtunen in elf Grenzdistrikten die Mehrheit stellen. Umfangreiche Migrationsströme haben die ethnische Zusammensetzung der Stadt verändert, der Anteil an schiitischen Hazara ist seit 2001 durch Iran-Rückkehrer und Binnenvertriebene besonders gestiegen (LIB 13.11.2019, S. 106).

Herat ist durch die Ring-Road sowie durch einen Flughafen mit nationalen und internationalen Anbindungen erreichbar (LIB 13.11.2019, S. 106).

Herat gehört zu den relativ ruhigen Provinzen im Westen Afghanistans, jedoch sind Taliban-Kämpfer in einigen abgelegenen Distrikten aktiv und versuchen oft terroristische Aktivitäten. Je mehr man sich von Herat-Stadt (die als "sehr sicher" gilt) und den angrenzenden Distrikten Richtung Norden, Westen und Süden entfernt, desto größer wird der Einfluss der Taliban. In der Stadt Herat steigt die Kriminalität und Gesetzlosigkeit (LIB 13.11.2019, S. 106). Im Jahr 2018 gab es mit 259 zivile Opfer (95 Tote und 164 Verletzte) in Herat einen Rückgang von 48% gegenüber 2017. Die Hauptursache für die Opfer waren improvisierten Sprengkörper (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordanschläge), gefolgt von Kämpfen am Boden und gezielten Tötungen. Der volatilste Distrikt von Herat ist Shindand. Dort kommt es zu gewalttätigen Zusammenstößen zwischen rivalisierenden Taliban-Fraktionen, wie auch zwischen den Taliban und regierungsfreundlichen Kräften. Außerdem kommt es in unterschiedlichen Distrikten immer wieder zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen Taliban und Sicherheitskräften (LIB 13.11.2019, S. 108f). Das Niveau an willkürlicher Gewalt ist in der Stadt Herat so gering, dass für Zivilisten an sich nicht die Gefahr besteht von erheblichen Eingriffen in die psychische oder physische Unversehrtheit betroffen zu sein (EASO - Country Guidance Afghanistan, Juni 2019, S. 89, S. 99f).

Im Vergleich mit anderen Teilen des Landes weist Herat wirtschaftlich und sicherheitstechnisch relativ gute Bedingungen auf. Es gibt Arbeitsmöglichkeiten im Handel, darunter den Import und Export von Waren mit dem benachbarten Iran, wie auch im Bergbau und Produktion. Die Industrie der kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMUs) ist insbesondere im Handwerksbereich und in der Seiden- und Teppichproduktion gut entwickelt und beschäftigt Tagelöhner sowie kleine Unternehmer (LIB 13.11.2019, S. 336).

Herat ist im Zeitraum Oktober 2019 bis Januar 2020 als IPC Stufe 2 klassifiziert (IPC - Integrated Phase Classification). In Phase 2, auch "stressed" genannt, weisen Haushalte nur einen gerade noch angemessenen Lebensmittelverbrauch auf und sind nicht in der Lage, sich wesentlich, nicht nahrungsbezogenen Güter zu leisten, ohne dabei irreversible Bewältigungsstrategien anzuwenden (ACCORD, Sicherheitslage und sozio-ökonomische Lage in Herat und Mazar-e Sharif vom 02.10.2019, 3.1.).

Allgemeine Menschenrechtslage:

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, die durch die afghanische Verfassung und einschlägige völkerrechtliche Verträge garantierten Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (LIB 13.11.2019, S. 264).

Ethnische Minderheiten

In Afghanistan leben zwischen 32-35 Millionen Menschen. Es sind ca. 40-42% Pashtunen, rund 27-30% Tadschiken, ca. 9-10% Hazara und 9% Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Soziale Gruppen werden in Afghanistan nicht ausgeschlossen und kein Gesetz verhindert die Teilnahme von Minderheiten am politischen Leben. Es kommt jedoch im Alltag zu Diskriminierungen und Ausgrenzungen ethnischer Gruppen und Religionen sowie zu Spannungen, Konflikten und Tötungen zwischen unterschiedlichen Gruppen (LIB 13.11.2019, S. 287f).

Hazara

Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9 bis 10% der Bevölkerung aus. Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt; der Hazaradjat [zentrales Hochland] umfasst die Provinzen Bamyan, Ghazni, Daikundi und den Westen der Provinz (Maidan) Wardak sowie Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis, und Sar-e Pul. Jahrzehntelange Kriege und schwierige Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul, getrieben. Hazara leben hauptsächlich in den zentralen und westlichen Provinzen sowie in Kabul.

Die Stadt Kabul ist in den letzten Jahrzehnten rasant gewachsen und ethnisch gesehen vielfältig. Neuankömmlinge aus den Provinzen tendieren dazu, sich in Gegenden niederzulassen, wo sie ein gewisses Maß an Unterstützung ihrer Gemeinschaft erwarten können (sofern sie solche Kontakte haben) oder sich in jenem Stadtteil niederzulassen, der für sie am praktischen sie ist, da viele von ihnen - zumindest anfangs - regelmäßig zurück in ihre Heimatprovinzen pendeln. Die Auswirkungen neuer Bewohner auf die Stadt sind schwer zu evaluieren. Bewohner der zentralen Stadtbereiche neigen zu öfteren Wohnortwechseln, um näher bei ihrer Arbeitsstätte zu wohnen oder um wirtschaftlichen Möglichkeiten und sicherheitsrelevanten Trends zu folgen. Diese ständigen Wohnortwechsel haben einen störenden Effekt auf soziale Netzwerke, was sich oftmals in der Beschwerde bemerkbar macht "man kenne seine Nachbarn nicht mehr". Viele Hazara leben unter anderem in Stadtvierteln im Westen der Stadt, insbesondere in Kart-e Se, Dasht-e Barchi sowie in den Stadtteilen Kart-e Chahar, Deh Buri , Afshar und Kart-e Mamurin.

Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild. Ethnische Hazara sind mehrheitlich Zwölfer-Schiiten, auch bekannt als Jafari Schiiten. Eine Minderheit der Hazara, die vor allem im nordöstlichen Teil des Hazaradjat lebt, ist ismailitisch. Ismailische Muslime, die vor allem, aber nicht ausschließlich, Hazara sind, leben hauptsächlich in Kabul sowie den zentralen und nördlichen Provinzen Afghanistans.

Die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, hat sich grundsätzlich verbessert und Hazara bekleiden inzwischen auch prominente Stellen in der Regierung und im öffentlichen Leben, sind jedoch in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert. Hazara werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung. Nichtsdestotrotz, genießt die traditionell marginalisierte schiitische muslimische Minderheit, zu der die meisten ethnischen Hazara gehören, seit 2001 eine zunehmende politische Repräsentation und Beteiligung an nationalen Institutionen.

Die Hazara-Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan. Sollte der haushaltsvorstehende Mann versterben, wird die Witwe Haushaltsvorständin, bis der älteste Sohn volljährig ist. Es bestehen keine sozialen und politischen Stammesstrukturen.

Hazara neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, was im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter steht. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen führen weiterhin zu Konflikten und Tötungen. Berichten zufolge halten Angriffe durch den ISKP und andere aufständische Gruppierungen auf spezifische religiöse und ethno-religiöse Gruppen - inklusive der schiitischen Hazara - an.

Während des Jahres 2018 intensivierte der IS Angriffe gegen die Hazara. Angriffe gegen Schiiten, davon vorwiegend gegen Hazara, forderten im Zeitraum 1.1.2018 bis 30.9.2018 211 Todesopfer. Das von schiitischen Hazara bewohnte Gebiet Dasht-e Barchi in Westkabul ist immer wieder Ziel von Angriffen. Die Regierung hat Pläne zur Verstärkung der Präsenz der afghanischen Sicherheitskräfte verlautbart. Angriffe werden auch als Vergeltung gegen mutmaßliche schiitische Unterstützung der iranischen Aktivitäten in Syrien durchgeführt.

In Randgebieten des Hazaradjat kommt es immer wieder zu Spannungen und teilweise gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Nomaden und sesshaften Landwirten, oftmals Hazara.

Die Hazara sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 10% in der Afghan National Army und der Afghan National Police repräsentiert. NGOs berichten, dass Polizeibeamte, die der Hazara-Gemeinschaft angehören, öfter als andere Ethnien in unsicheren Gebieten eingesetzt werden oder im Innenministerium an symbolische Positionen ohne Kompetenzen befördert werden. (LIB 13.11.2019, S.290 f.).

Religionen

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon 80-89,7% Sunniten. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB 13.11.2019, S. 277).

Schiiten

Der Anteil schiitischer Muslime an der Bevölkerung wird auf 10 bis 19% geschätzt. Zuverlässige Zahlen zur Größe der schiitischen Gemeinschaft sind nicht verfügbar und werden vom Statistikamt nicht erfasst. Gemäß Gemeindeleitern sind die Schiiten Afghanistans mehrheitlich Jafari-Schiiten (Zwölfer-Schiiten), 90% von ihnen gehören zur ethnischen Gruppe der Hazara. Unter den Schiiten gibt es auch Ismailiten.

Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten sind in Afghanistan selten. Beobachtern zufolge ist die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit zurückgegangen; dennoch existieren Berichte zu lokalen Diskriminierungsfällen. Gemäß Zahlen von UNAMA gab es im Jahr 2018 19 Fälle konfessionell motivierter Gewalt gegen Schiiten, bei denen 223 Menschen getötet und 524 Menschen verletzt wurden; ein zahlenmäßiger Anstieg der zivilen Opfer um 34%. In den Jahren 2016, 2017 und 2018 wurden durch den Islamischen Staat (IS) und die Taliban 51 terroristischen Angriffe auf Glaubensstätten und religiöse Anführer der Schiiten bzw. Hazara durchgeführt. Im Jahr 2018 wurde die Intensität der Attacken in urbanen Räumen durch den IS verstärkt.

Die politische Repräsentation und die Beteiligung an den nationalen Institutionen seitens der traditionell marginalisierten schiitischen Minderheit, der hauptsächlich ethnische Hazara angehören, ist seit 2001 gestiegen. Obwohl einige schiitische Muslime höhere Regierungsposten bekleiden, behaupten Mitglieder der schiitischen Minderheit, dass die Anzahl dieser Stellen die demografischen Verhältnisse des Landes nicht reflektiert. Vertreter der Sunniten hingegen geben an, dass Schiiten im Vergleich zur Bevölkerungszahl in den Behörden überrepräsentiert seien. Einige Mitglieder der ismailitischen Gemeinschaft beanstanden die vermeintliche Vorenthaltung von politischen Posten; wenngleich vier Parlamentssitze für Ismailiten reserviert sind.

Im Ulema-Rat, der nationalen Versammlung von Religionsgelehrten, die u. a. dem Präsidenten in der Festlegung neuer Gesetze und Rechtsprechung beisteht, beträgt die Quote der schiitischen Muslime 25 bis 30%. Des Weiteren tagen regelmäßig rechtliche, konstitutionelle und menschenrechtliche Kommissionen, welche aus Mitgliedern der sunnitischen und schiitischen Gemeinschaften bestehen und von der Regierung unterstützt werden, um die interkonfessionelle Schlichtung zu fördern.

(LIB 13.11.2019, S. 279).

Wirtschaft und Grundversorgung:

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt (LIB 13.11.2019, S. 333 ff.). Trotz Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, erheblicher Anstrengungen der afghanischen Regierung und kontinuierlicher Fortschritte belegte Afghanistan 2018 lediglich Platz 168 von 189 des Human Development Index. Die Armutsrate hat sich laut Weltbank von 38% (2011) auf 55% (2016) verschlechtert. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant: Außerhalb der Hauptstadt Kabul und der Provinzhauptstädte gibt es vielerorts nur unzureichende Infrastruktur für Energie, Trinkwasser und Transport.

Die afghanische Wirtschaft ist stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Das Budget zur Entwicklungshilfe und Teile des operativen Budgets stammen aus internationalen Hilfsgeldern. Jedoch konnte die afghanische Regierung seit der Fiskalkrise des Jahres 2014 ihre Einnahmen deutlich steigern.

Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor (einschließlich illegaler Aktivitäten), der 80 bis 90 % der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tatsächliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft, wobei der landwirtschaftliche Sektor gemäß Prognosen der Weltbank im Jahr 2019 einen Anteil von 18,7% am Bruttoinlandsprodukt (BIP) hat (Industrie: 24,1%, tertiärer Sektor: 53,1%. Das BIP Afghanistans betrug im Jahr 2018 19,36 Mrd. US-Dollar. Die Inflation lag im Jahr 2018 durchschnittlich bei 0,6% und wird für 2019 auf 3,1% prognostiziert.

Afghanistan erlebte von 2007 bis 2012 ein beispielloses Wirtschaftswachstum. Während die Gewinne dieses Wachstums stark konzentriert waren, kam es in diesem Zeitraum zu Fortschritten in den Bereichen Gesundheit und Bildung. Seit 2014 verzeichnet die afghanische Wirtschaft ein langsames Wachstum (im Zeitraum 2014-2017 durchschnittlich 2,3%, 2003-2013: 9%) was mit dem Rückzug der internationalen Sicherheitskräfte, der damit einhergehenden Kürzung der internationalen Zuschüsse und einer sich verschlechternden Sicherheitslage in Verbindung gebracht wird. Im Jahr 2018 betrug die Wachstumsrate 1,8%. Das langsame Wachstum wird auf zwei Faktoren zurückgeführt: einerseits hatte die schwere Dürre im Jahr 2018 negative Auswirkungen auf die Landwirtschaft, andererseits verringerte sich das Vertrauen der Unternehmer und Investoren. Es wird erwartet, dass sich das Real-BIP in der ersten Hälfte des Jahres 2019 vor allem aufgrund der sich entspannenden Situation hinsichtlich der Dürre und einer sich verbessernden landwirtschaftlichen Produktion erhöht.

Arbeitsmarkt (LIB 13.11.2019, S. 334 f.)

Schätzungen zufolge sind 44% der Bevölkerung unter 15 Jahren und 54% zwischen 15 und 64 Jahren alt. Am Arbeitsmarkt müssten jährlich geschätzte 400.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden, um Neuankömmlinge in den Arbeitsmarkt integrieren zu können. Somit treten jedes Jahr sehr viele junge Afghanen in den Arbeitsmarkt ein, während die Beschäftigungsmöglichkeiten aufgrund unzureichender Entwicklungsressourcen und mangelnder Sicherheit nicht mit dem Bevölkerungswachstum Schritt halten können. In Anbetracht von fehlendem Wirtschaftswachstum und eingeschränktem Budget für öffentliche Ausgaben, stellt dies eine gewaltige Herausforderung dar. Letzten Schätzungen zufolge sind 1,9 Millionen Afghan/innen arbeitslos - Frauen und Jugendliche haben am meisten mit dieser Jobkrise zu kämpfen. Jugendarbeitslosigkeit ist ein komplexes Phänomen mit starken Unterschieden im städtischen und ländlichen Bereich. Schätzungen zufolge sind 877.000 Jugendliche arbeitslos; zwei Drittel von ihnen sind junge Männer (ca. 500.000).

Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Es gibt einen großen Anteil an Selbständigen und mithelfenden Familienangehörigen, was auf das hohe Maß an Informalität des Arbeitsmarktes hinweist, welches mit der Bedeutung des Agrarsektors in der Wirtschaft einhergeht. Im Rahmen einer Befragung an 15.012 Personen, gaben rund 36% der befragten Erwerbstätigen gaben an, in der Landwirtschaft tätig zu sein.

Fähigkeiten, die sich Rückkehrer/innen im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Bei der Arbeitssuche spielen persönliche Kontakte eine wichtige Rolle. Eine Quelle betont jedoch die Wichtigkeit von Netzwe

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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