TE Bvwg Erkenntnis 2020/2/3 W191 2100175-3

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 03.02.2020
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Entscheidungsdatum

03.02.2020

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §54
AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG 2005 §8
BFA-VG §9
B-VG Art. 133 Abs4

Spruch

W191 2100175-3/18E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Rosenauer als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch MigrantInnenverein St. Marx, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 13.07.2017, Zahl 1001910007-14115274, nach Durchführung von mündlichen Verhandlungen am 30.10.2017 und 04.11.2019 zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte I. und II. des angefochtenen Bescheides gemäß §§ 3 und 8 Asylgesetz 2005 als unbegründet abgewiesen.

II. Die Spruchpunkt III. und IV. des angefochtenen Bescheides werden behoben und die Rückkehrentscheidung in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 9 BFA-Verfahrensgesetz auf Dauer für unzulässig erklärt.

III. XXXX wird gemäß §§ 54, 55 Abs. 1 und § 58 Abs. 2 Asylgesetz 2005 der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

1. Verfahrensgang:

1.1. Der Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste am 18.02.2014 irregulär und schlepperunterstützt in Österreich ein und stellte am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG).

Eine EURODAC-Abfrage ergab, dass der BF am 17.01.2014 in Mytilini, Griechenland erkennungsdienstlich behandelt worden war.

1.2. In seiner Erstbefragung am 20.02.2014 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Polizeiinspektion (PI) Traiskirchen, Erstaufnahmestelle (EAST), und in seiner Einvernahme am 04.09.2014 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA), Regionaldirektion Graz, gab der BF jeweils im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari im Wesentlichen Folgendes an:

Er heiße XXXX , sei afghanischer Staatsangehöriger und am XXXX in XXXX , Distrikt Jaghori, Provinz Ghazni, Afghanistan, geboren. Als er 18 Jahre alt gewesen sei, wäre die Familie nach XXXX (später auch XXXX ) in der Stadt Ghazni übersiedelt. Zuletzt wäre der BF in den Jahren 2012/2013 in Kabul im Stadtteil XXXX wohnhaft gewesen. Sein Vater und sein Bruder wären vor ca. einem Jahr von den Taliban mitgenommen worden, im Heimatland seien noch seine Mutter, zwei minderjährige Brüder sowie zwei Schwestern aufhältig. Die Familie des Ehemannes der Schwester sorge nunmehr für die Familie.

Vor ca. drei Monaten wäre er von Ghazni nach Nimroz gefahren. Von dort wäre er über Pakistan, den Iran, die Türkei, Griechenland, Mazedonien, Serbien und Ungarn nach Österreich gelangt.

Als Fluchtgrund gab der BF an, dass er Angst vor den Taliban gehabt hätte. Vor ca. sechs Monaten wäre er in einem Bus von Kabul nach Ghazni gesessen, der von den Taliban angehalten worden wäre. Sie hätten den Bus durchsucht, und der BF und ein weiterer Fahrgast wären von ihnen zu einem verfallenen Haus gebracht worden, wo sie festgehalten worden wären. Man hätte ihn geschlagen und ihm die Unterarme verbrannt. Sie hätten von ihm verlangt, dass er für sie kämpfe. Nach einer Woche sei ihm dann die Flucht gelungen, da eine Wache geschlafen hätte. Aus Angst um sein Leben hätte er daraufhin Afghanistan verlassen. Als er in Griechenland gewesen wäre, hätte ihm seine Mutter mitgeteilt, dass das Haus von den Taliban in Brand gesteckt worden wäre.

Er habe sieben Klassen die Schule besucht und sei dann als Landwirt tätig gewesen, hätte jedoch gerne weiter die Schule besucht. Er spreche ein wenig Englisch. Sein Vater wäre Lehrer gewesen, sein Bruder hätte gearbeitet. Das letzte Mal hätte er in Griechenland Ende 2013 Kontakt mit seiner Familie gehabt, seitdem sei ihr Telefon ausgeschaltet.

1.3. Das BFA wies mit Bescheid vom 20.01.2015 den Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 20.02.2014 [richtig: 18.02.2014] gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm den Status eines Asylberechtigten ebenso wie gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zu (Spruchpunkt II.) und verband diese Entscheidung in Spruchpunkt III. gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-Verfahrensgesetz (in der Folge BFA-VG) mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (in der Folge FPG). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §§ 57 oder 55 AsylG wurde ihm nicht erteilt. Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.

Zum Fluchtvorbringen wurde beweiswürdigend unter anderem ausgeführt (Auszug aus dem Bescheid, Schreibfehler teilweise korrigiert):

"Zum Fluchtgrund befragt gaben Sie im Wesentlichen an, dass Sie befürchten, in Afghanistan von den Taliban verfolgt zu werden. Der Sachverhalt wurde vage geschildert und beschränkte sich auf Gemeinplätze. Sie waren nicht in der Lage, konkrete und detaillierte Angaben über etwaige Erlebnisse zu machen.

Ein Indiz für ihre persönliche Unglaubwürdigkeit zeigt der Umstand, dass es zwischen Ihrer Erstbefragung und Ihrer Einvernahme in Graz zu Widersprüchen gekommen ist. So haben Sie bei ihrer Erstbefragung angegeben, dass von der Entführung Ihres Vaters und Ihres Bruders sechs Monate bis zu ihrer eigenen Entführung vergangen wären (Aussage bei Erstbefragung: Vater und Bruder, vor ca. einem Jahr entführt, eigene Entführung vor ca. sechs Monaten). Bei ihrer Einvernahme in Graz haben Sie dagegen vorgebracht, gleich nach der Entführung Ihrer Angehörigen davon in Kenntnis gesetzt und bei ihrer darauffolgenden Heimreise selbst entführt worden zu sein. Weiters haben Sie bei ihrer Erstbefragung angegeben, dass drei Monate von Ihrer Ausreise aus Afghanistan bis zu Ihrer Einreise in Österreich vergangen wären. Noch in dieser Erstbefragung haben Sie weiters gesagt, dass Sie vor ca. sechs Monaten entführt worden wären und schon nach einer Woche wieder flüchten konnten. Danach hätten Sie Afghanistan verlassen. Sie konnten diese Widersprüche nicht plausibel darlegen.

Es ist weder glaubhaft noch nachvollziehbar, dass Sie von den Taliban gefangen genommen wurden, von den Taliban aufgefordert wurden, sich ihnen anzuschließen, Sie dieser Aufforderung bzw. Drohung lapidar entgegneten, dass Sie das nicht tun könnten und dass das nicht in Ihrer Religion so festgehalten wäre, um dann nach ein paar Tagen problemlos, weil nur schlecht bewacht und angehalten, von den Taliban flüchten zu können. [...]"

1.4. In Erledigung des gegen diesen Bescheid eingebrachten Rechtsmittels der Beschwerde behob das Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) mit Beschluss vom 11.03.2015, W191 2100175-1/2E, diesen Bescheid gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (in der Folge VwGVG) und verwies die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das BFA zurück.

In der Begründung führte das BVwG im Wesentlichen aus, dass das BFA in Bezug auf die Ermittlung der Sachlage sowohl bezüglich des Fluchtvorbringens als auch bezüglich der Frage des Refoulementschutzes nicht mit der ihr gebotenen Genauigkeit und Sorgfalt vorgegangen sei und die Sachlage nicht ausreichend erhoben habe.

So hätte sich das Vorgehen der Erstbehörde in der kurzen Einvernahme auf die Stellung von wenigen Fragen beschränkt, die nicht ausreichen würden, ein umfassendes Bild der konkreten Ereignisse und der dem BF möglicherweise widerfahrenen Widrigkeiten darzustellen. Es wären mehrere wichtige Punkte des Vorbringens unerörtert geblieben, beispielsweise hinsichtlich der angeblich erlittenen Verbrennungen an den Unterarmen (welche in der Einvernahme begutachtet werden hätten können) oder hinsichtlich des Umstandes, weshalb die sunnitischen Taliban ausgerechnet den BF, einen schiitischen Hazara und somit Angehörigen einer Volksgruppe, die in einem Spannungsverhältnis zu den Taliban stehe, zwingen hätten sollen, sich ihnen anzuschließen. Ferner würden die in der relativ kurz gehaltenen Beweiswürdigung aufgezeigten Unplausibilitäten für sich alleine nicht ausreichen, dem Vorbringen des BF die Glaubhaftigkeit ohne Zweifel abzusprechen.

Bezüglich der Frage der Gewährung von subsidiärem Schutz wurde festgehalten, dass die Ausführungen des BFA, der BF könnte sich - sollte ihm eine Rückkehr zu seinem Familienverband nach Ghazni nicht möglich sein - wie bereits vor seiner Ausreise in Kabul niederlassen, keine Deckung in den aktuellen Länderfeststellungen finden würde, zumal aus diesen nicht ersichtlich sei, inwieweit es für alleinstehende Rückkehrer in Kabul Möglichkeiten gäbe, sich in dieser Stadt ohne jeglichen familiären Anschluss eine ausreichende Lebensgrundlage zu schaffen.

1.5. Im fortgesetzten Verfahren wurde der BF am 08.06.2015 vor dem BFA, Regionaldirektion Graz, im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari erneut einvernommen.

Dabei gab der BF im Wesentlichen an, dass er in Afghanistan niemanden habe und seit seiner Ankunft in Griechenland nichts Näheres über seine Familie wisse. Er stehe aber mit namentlich genannten Schulfreunden in Kontakt, diese würden in Jaghori leben.

In der Folge wurde das Mobiltelefon des BF mit dessen Einverständnis einer Durchsicht unterzogen, wobei Telefonnummern von Verwandten und Bekannten des BF vorgefunden wurden. Das BFA rief diese Nummern an, konnte aber keine Kontakte mit genannten Personen herstellen bzw. meldeten sich andere Personen, die den BF angeblich nicht kannten.

Weiters wurde der BF zu den genaueren Umständen seines Englischkurses in Kabul befragt, und machte er dazu sowie zur Schule, an der sein Vater unterrichtet habe, nähere Angaben.

1.6. Mit Bescheid vom 10.06.2015, 1001910007-14115274, wie das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 20.02.2014 [richtig: 18.02.2014] erneut gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm den Status eines Asylberechtigten ebenso wie gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zu (Spruchpunkt II.) und verband diese Entscheidung in Spruchpunkt III. gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-VG mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §§ 57 oder 55 AsylG wurde ihm nicht erteilt. Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.

Sein Fluchtvorbringen wurde als nicht glaubhaft beurteilt und dies im Wesentlichen damit begründet, dass der BF vage und undetaillierte sowie unstimmige Angaben gemacht habe. Die vorgenommenen Anrufe bei vom BF in seinem Mobiltelefon gespeicherten Nummern ließen das BFA annehmen, dass die angerufenen Personen, vermutlich Familienangehörige, nicht die Wahrheit gesprochen hätten, um so das Fluchtvorbringen des BF nicht unglaubwürdig erscheinen zu lassen.

Subsidiärer Schutz wurde ihm nicht zuerkannt, da keine individuellen Umstände vorliegen würden, die dafür sprechen würden, dass der BF im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat in eine derart extreme Notlage gelange, die eine unmenschliche Behandlung im Sinne des Art. 2 oder 3 EMRK darstellen könnte. Ihm stehe zudem eine innerstaatliche Fluchtalternative in Kabul zur Verfügung.

1.7. Aufgrund der Beschwerde vom 09.07.2015 behob das BVwG mit Beschluss vom 05.11.2015, W191 2100175-2/2E, auch diesen Bescheid gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG und verwies die Angelegenheit erneut zur Erlassung eines neuen Bescheides an das BFA zurück.

In der Beschlussbegründung führte das BVwG im Wesentlichen aus, dass das vom BFA durchgeführte Ermittlungsverfahren auch im gegenständlichen fortgesetzten Verfahren relevante Mängel aufweise.

So sei der BF zwar einer weiteren Einvernahme unterzogen worden, doch habe es das BFA erneut verabsäumt, den Sachverhalt ausreichend detailliert und genau zu erörtern. Die Ermittlungstätigkeit des BFA habe sich im Wesentlichen lediglich darauf beschränkt, die im Mobiltelefon des BF gefundenen Telefonnummern anzurufen. Die im gegenständlichen Bescheid aufgezeigten Unstimmigkeiten reichten für sich alleine nicht aus, dem Vorbringen des BF die Glaubhaftigkeit ohne Zweifel abzusprechen.

Bezüglich der Frage der Gewährung von subsidiärem Schutz (Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides) sei nach der anzuwendenden Rechtslage und der dazu ergangenen Judikatur (sowohl des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte - EuGH als auch der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts, des Asylgerichtshofes (AsylGH), des BVwG und der - zwar nicht immer einheitlichen, aber in der Linie jedenfalls übereinstimmenden - Judikatur der entsprechenden deutschen Gerichte) zusätzlich zu objektiven Kriterien (Lage im Land) das Vorliegen von subjektiven bzw. individuellen Kriterien (Situation des Antragstellers) für die Erlangung des Status als subsidiär Schutzberechtigter zu prüfen.

Bezüglich des BF sei daher neben seinen persönlichen Umständen in Prüfung seiner Lebensumstände zu klären, woher er stamme, wo sich seine Familie nun aufhalte, ob der BF daher über ein soziales Netzwerk in seinem Herkunftsland verfüge und wie die Lage in diesen Regionen aktuell sei bzw. über seine diesbezüglichen Angaben hinreichend beweiswürdigend abzusprechen.

Das BFA hätte erneut - ungeachtet der Ausführungen des BVwG im Beschluss vom 15.03.2015 - ausgeführt, dass es dem BF - sollte ihm eine Rückkehr nach Ghazni nicht möglich sein - freistehe, sich, wie bereits vor seiner Ausreise, in Kabul niederzulassen.

Dazu sei erneut darauf hinzuweisen, dass weder aus den Länderfeststellungen ersichtlich sei, inwieweit es für alleinstehende Rückkehrer in Kabul Möglichkeiten gäbe, sich in dieser Stadt ohne jeglichen familiären Anschluss eine ausreichende Lebensgrundlage zu schaffen, noch das BFA nähere Ausführungen dazu tätigte, auf welche Weise der als relativ kurz anzusehende viermonatige Aufenthalt des BF in Kabul Ende 2012 bzw. das Vorliegen von entfernten "Bekanntschaften" (ein Studienfreund) in dieser Stadt eine Grundlage dafür bilden könnten, dort ohne die Unterstützung durch den Familienverband ein Auskommen zu finden.

Die Ausführungen des BFA entsprächen nicht der vom Verfassungsgerichtshof (VfGH) geforderten Auseinandersetzung mit der Sicherheitslage in seiner Heimatprovinz, zumal diese (wie der AsylGH festgestellt habe) von Provinz zu Provinz variiere (siehe Erkenntnisse des VfGH 21.09.2012, U 883/12-15, VfGH 11.10.2012, U 677/12-17). Dieses Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidungswesentlichen Punkt führe dazu, dass der BF im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt werde.

1.8. Da das BFA das Verfahren zunächst nicht wieder fortsetzte, erhob der BF mit Schreiben seines Vertreters vom 13.04.2017 "Säumnisbeschwerde" und beantragte, dass das BFA binnen der Frist von drei Monaten gemäß § 16 Abs. 1 VwGVG über den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz entscheide oder ansonsten die Beschwerde dem BVwG vorzulege.

1.9. Bei seiner Einvernahme im fortgesetzten Verfahren am 30.06.2017 im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari befragte das BFA den BF neuerlich zu seinem Fluchtvorbringen und zu seinen Lebensumständen.

Der BF antwortete auf diese Fragen und legte Belege zu seiner Integration vor.

1.10. Nach Durchführung des fortgesetzten Ermittlungsverfahrens wies das BFA den Antrag des BF vom 20.02.2014 [richtig: 18.02.2014] mit gegenständlich angefochtenem Bescheid vom 13.07.2017, 1001910007-14115274, neuerlich gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm den Status eines Asylberechtigten ebenso wie gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zu (Spruchpunkt II.) und verband diese Entscheidung in Spruchpunkt III. gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-VG mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde ihm nicht erteilt. Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF "2" [zwei] Wochen [richtig: 14 Tage] ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.

In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in seinem Herkunftsstaat. Eine asylrelevante Verfolgung liege nicht vor, das Vorbringen des BF sei unglaubhaft. Er habe keine Verfolgung im Sinne des AsylG glaubhaft gemacht und es bestünden keine stichhaltigen Gründe gegen eine Abschiebung des BF nach Afghanistan. Im Falle der Rückkehr drohe ihm keine Gefahr, die eine Erteilung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würde.

Der BF erfülle nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung stehe sein Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens angesichts der kurzen Aufenthaltsdauer und des Fehlens von familiären oder privaten Bindungen im Inland nicht entgegen. Angesichts der abweisenden Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz ergebe sich die Zulässigkeit einer Abschiebung des BF nach Afghanistan. Die Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ergebe sich aus § 55 FPG, da besondere Umstände, die der BF bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen habe, nicht gegeben seien.

Beweiswürdigend führte das BFA (zusammengefasst) aus, dass der BF bezüglich seiner behaupteten Herkunftsregion, Volks- und Staatsangehörigkeit aufgrund seiner Sprach- und Lokalkenntnisse - im Gegensatz zu seinem Fluchtvorbringen - glaubwürdig wäre. Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan wären glaubhaft, weil sie verlässlichen, seriösen, aktuellen und unbedenklichen Quellen entstammten, deren Inhalt schlüssig und widerspruchsfrei sei.

Sein Fluchtvorbringen beurteilte das BFA erneut als unglaubhaft.

Subsidiärer Schutz wurde ihm nicht zuerkannt, da im Falle einer Rückkehr des BF in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 oder 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 zur GFK oder eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt oder im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes nicht bestehe. Der BF verfüge über ein familiäres Netzwerk im Herkunftsstaat.

1.11. Auch gegen diesen Bescheid brachte der BF mit Schreiben seines Vertreters vom 25.07.2017 fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde beim BVwG wegen unrichtigen Feststellungen, "Mangelhaftigkeit des Verfahrens" und unrichtiger rechtlicher Beurteilung ein.

In der Beschwerdebegründung wurde im Wesentlichen moniert, dass die belangte Behörde keine ordnungsgemäße und zutreffende Beweiswürdigung vorgenommen habe. Der BF verfüge über kein adäquates soziales Auffangnetz in seiner Heimat und sei dort entwurzelt. Die Lage in Afghanistan habe sich massiv verschlechtert

Beantragt wurde unter anderem die Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung.

1.12. Das BFA legte die Beschwerde samt Verwaltungsakt vor, verzichtete im Vorhinein auf die Teilnahme an einer mündlichen Beschwerdeverhandlung und beantragte nicht, die Beschwerde abzuweisen.

1.13. Das BVwG führte am 30.10.2017 eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari durch, zu der der BF in Begleitung seines gewillkürten Vertreters persönlich erschien.

Der BF legte seine Tazkira (afghanisches Personaldokument) sowie Belege zu seiner Integration vor und machte auf Befragung Angaben zu seinen Lebensumständen und zu seinem Fluchtvorbringen.

1.14. Mit ergänzender Stellungnahme seines Vertreters vom 23.11.2017 zitierte der BF aus diversen Berichten zu Afghanistan und tätigte Rechtsausführungen.

Mit Eingabe vom 29.11.2017 übermittelte der BF ein Sprachzertifikat Deutsch A2 und ein weiteres Empfehlungsschreiben.

Mit Eingabe vom 05.02.2019 übermittelte der BF eine Arbeitsplatzzusage vom 23.01.2019.

1.15. Mit Schreiben des BVwG vom 03.04.2019 wurde dem BF die Möglichkeit eingeräumt, zu konkreten Fragen zu seinen Lebensumständen in Österreich aktuell Stellung zu nehmen, dem dieser mit Schreiben vom 17.04.2019 nachkam.

1.16. Mit weiterer Eingabe des BF wurden mehrere weitere Einstellungszusagen bei diversen Betrieben sowie ein Sprachzertifikat Deutsch A2 vorgelegt.

Mit Eingabe vom 15.07.2019 wurde ein Bescheid des Arbeitsmarktservice (AMS) vom 15.07.2019 vorgelegt, wonach dem BF eine befristete Beschäftigungsbewilligung für eine berufliche Tätigkeit als Landwirtschaftlicher Hilfsarbeiter erteilt wurde.

1.17. Am 04.11.2019 führte das erkennende Gericht eine ergänzende Verhandlung im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari durch, zu der der BF in Begleitung seines Vertreters und zweier Vertrauenspersonen erschien.

Der Quartiergeber des BF wurde bezüglich der Integration des BF in Österreich als Zeuge einvernommen. Er gab dabei an, dass er den BF außerordentlich hoch schätze und dieser viele soziale Kontakte zu anderen jungen Leuten, auch zu seinem Sohn, habe, und dass der BF vielfach und gerne Hilfstätigkeiten in Haus und Garten durchführe. Er verfüge über mehrere Einstellungszusagen in gewerblichen Unternehmen, auch er selbst wolle ihn gerne offiziell in seinem Betrieb anstellen.

Der BF sprach gut Deutsch.

1.18. Mit Schreiben seines Vertreters vom 20.12.2019 legte der BF sein Zeugnis über die bestandene Integrationsprüfung gemäß § 11 Integrationsgesetz vom 06.12.2019 vor.

Dem BFA wurden alle Schreiben des BVwG sowie Eingaben des BF im gerichtlichen Verfahren in Kopie zur Information übermittelt. Es hat dazu keine Stellungnahme abgegeben.

2. Beweisaufnahme:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:

* Einsicht in den dem BVwG vorliegenden Verwaltungsakt des BFA, beinhaltend u.a. die Niederschriften der Erstbefragung am 20.02.2014 und der Einvernahmen vor dem BFA am 04.09.2014, 08.06.2015 und 30.06.2017, die Tazkira des BF, die drei vom BFA im Verfahren erlassenen Bescheide sowie die gegenständliche Beschwerde vom 25.07.2017 gegen den Bescheid vom 30.10.2017

* Einsicht in Dokumentationsquellen betreffend den Herkunftsstaat des BF im erstbehördlichen Verfahren (offenbar Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Aktenseiten 398 bis 430)

* Einvernahme des BF als Partei sowie seines Quartiergebers als Zeugen im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlungen vor dem BVwG am 30.10.2017 und 04.11.2019 sowie Einsichtnahme in die vom BF im Beschwerdeverfahren vorgelegten Belege zu seiner Integration (Empfehlungsschreiben, Deutschzertifikat A2, Zeugnis über bestandene Integrationsprüfung gemäß § 11 Integrationsgesetz, mehrere Einstellungszusagen)

* Einsichtnahme in folgende in den öffentlichen mündlichen Verhandlungen vor dem BVwG zusätzlich in das Verfahren eingebrachte Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF:

o Feststellungen und Berichte über die allgemeine Lage im Herkunftsstaat sowie in der Provinz Ghazni (Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 02.03.2017, zuletzt aktualisiert am 25.09.2017)

o Zusammenfassung der UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs Afghanischer Asylsuchender vom April 2016 und Anmerkungen von UNHCR zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Innern vom Dezember 2016

o Artikel in Asylmagazin 3/2017 "Überleben in Afghanistan? Zur humanitären Lage von Rückkehrenden und ihren Chancen auf familiäre Unterstützung" von Friederike Stahlmann

o Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) vom 12.04.2017, "Notiz Afghanistan, Alltag in Kabul", festgehalten von der Schweizer Migrationsbehörde vom 20.06.2017

o Feststellungen und Berichte über die allgemeine Lage im Herkunftsstaat sowie in der Provinz Ghazni (Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 29.06.2018, zuletzt aktualisiert am 04.06.2019)

o Auszug aus einer gutachterlichen Stellungnahme des Ländersachverständigen Dr. Sarajuddin Rasuly (in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem Asylgerichtshof am 13.06.2012 im Verfahren C15 410.319-1/2009) zum Vorbringen des BF, er werde von den Taliban verfolgt

Der BF hat keine Beweismittel oder sonstige Belege für sein Fluchtvorbringen vorgelegt.

3. Ermittlungsergebnis (Sachverhaltsfeststellungen):

Das BVwG geht auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens von folgendem für die Entscheidung maßgeblichen, glaubhaft gemachten Sachverhalt aus:

3.1. Zur Person des BF:

3.1.1. Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und bekennt sich zur schiitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache des BF ist Dari, er spricht auch Farsi und etwas Englisch. Der BF besuchte mehrere Jahre lang die Schule. Er ist gesund, ledig und hat keine Kinder.

3.1.2. Lebensumstände:

Der BF lebte nach seinen Angaben bis zu seinem 19. Lebensjahr in einem Dorf in Distrikt Jaghori, Provinz Ghazni, und übersiedelte dann mit seiner Familie in die Stadt Ghazni.

In den Jahren 2012/13 lebte er ca. vier Monate lang in Kabul und besuchte dort einen Englischkurs.

Der BF hat nach seinen Angaben nach seiner Ausreise aus angegebenen Gründen keinen Kontakt mehr zu seiner Mutter und seinen Geschwistern. Dass sein Vater und ein Bruder von den Taliban entführt worden und nicht mehr zurückgekommen seien, hat er nicht glaubhaft gemacht.

3.1.3. Der BF verließ Afghanistan ca. im November 2013 und reiste nach Europa, wo er am 18.02.2014 gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

3.2. Zu den Fluchtgründen des BF:

3.2.1. Der BF wurde nach eigenen Angaben in seinem Herkunftsstaat nicht inhaftiert, ist nicht vorbestraft und hatte mit den Behörden seines Herkunftsstaates weder auf Grund seines Religionsbekenntnisses oder seiner Volksgruppenzugehörigkeit noch sonst Probleme. Er war nicht politisch tätig und gehörte nicht einer politischen Partei an.

3.2.2. Der BF hat nicht glaubhaft gemacht, dass sein Vater und sein Bruder, und in weiterer Folge auch er selbst, von den Taliban entführt worden seien.

3.2.3. Der BF hat nicht glaubhaft gemacht, dass ihm als Angehörigem der Volksgruppe der Hazara konkret und individuell Verfolgung drohe, und konnten somit asylrelevante Gründe des BF für das Verlassen seines Heimatstaates nicht glaubhaft gemacht werden.

3.3. Zu einer möglichen Rückkehr des BF in den Herkunftsstaat:

3.3.1. Es konnte vom BF nicht glaubhaft vermittelt werden, dass er im Falle der Rückkehr in den Herkunftsstaat einer Verfolgung aus asylrelevanten Gründen ausgesetzt wäre.

3.3.2. Dem BF würde derzeit bei einer Rückkehr in seine Herkunftsprovinz Ghazni ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen.

3.4. Zur Integration des BF in Österreich:

3.4.1. Der BF ist seit Februar 2014 in Österreich aufhältig. Er wohnt in einer Einrichtung für Asylwerber und führt dort regelmäßig Tätigkeiten in Haus und Garten durch. Er wird von seinem Quartiergeber außerordentlich hoch geschätzt. Der BF hat sich für Tätigkeiten im Dienste des Roten Kreuzes zur Verfügung gestellt.

Der BF ist als junger Mann (Anfang 20) nach Österreich gekommen und hat nach seinen Angaben seit ca. fünf Jahren keine Kontakte mehr zu seiner Familie im Herkunftsland. Der BF hat viele und gute soziale Kontakte mit anderen jungen Menschen in seinem Wohnort, insbesondere auch zur Quartiergeberfamilie.

Der BF verfügt über mehrere Einstellungszusagen für Erwerbstätigkeiten in regionalen Betrieben.

Der BF hat die Deutschprüfung A2 sowie die Integrationsprüfung abgelegt.

Der BF ist irregulär in das Bundesgebiet eingereist. Er ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten. Das Vorliegen schwerwiegender Verwaltungsübertretungen ist nicht bekannt.

3.5. Zur Lage im Herkunftsstaat des BF:

3.5.1. Dass der BF einem real bestehenden Risiko unterliegen würde, der Todesstrafe unterzogen zu werden, hat sich auf Grund der Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens nicht ergeben und wurde vom BF auch nicht behauptet.

3.5.2. Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat (Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan ("Gesamtaktualisierung am 13.11.2019", Schreibfehler teilweise korrigiert):

"[...] 2. Politische Lage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.04.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.05.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.01.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.02.2015), und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.05.2019).

In Folge der Präsidentschaftswahlen 2014 wurde am 29.09.2014 Mohammad Ashraf Ghani als Nachfolger von Hamid Karzai in das Präsidentenamt eingeführt. Gleichzeitig trat sein Gegenkandidat Abdullah Abdullah das Amt des Regierungsvorsitzenden (CEO) an - eine per Präsidialdekret eingeführte Position, die Ähnlichkeiten mit der Position eines Premierministers aufweist. Ghani und Abdullah stehen an der Spitze einer Regierung der nationalen Einheit (National Unity Government, NUG), auf deren Bildung sich beide Seiten in Folge der Präsidentschaftswahlen verständigten (AA 15.04.2019; vgl. AM 2015, DW 30.9.2014). Bei der Präsidentenwahl 2014 gab es Vorwürfe von Wahlbetrug in großem Stil (RFE/RL 29.05.2019). Die ursprünglich für den 20.04.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.09.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019).

Parlament und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für fünf Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.04.2019).

Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.04.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.03.2019).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.01.2017; vgl. USDOS 13.03.2019, Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 02.09.2019).

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (AA 15.04.2019; vgl. USDOS 13.03.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.09.2019 statt; ein vorläufiges Ergebnis wird laut der unabhängigen Wahlkommission (IEC) für den 14.11.2019 erwartet (RFE/RL 20.10.2019).

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. In der Provinz Kandahar musste die Stimmabgabe wegen eines Attentats auf den Provinzpolizeichef um eine Woche verschoben werden, und in der Provinz Ghazni wurde die Wahl wegen politischer Proteste, welche die Wählerregistrierung beeinträchtigten, nicht durchgeführt (s.o.). Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen. Durch Wahl bezogene Gewalt kamen 56 Personen ums Leben, und 379 wurden verletzt. Mindestens zehn Kandidaten kamen im Vorfeld der Wahl bei Angriffen ums Leben, wobei die jeweiligen Motive der Angreifer unklar waren (USDOS 13.03.2019).

Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 06.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.05.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als "Katastrophe" und die beiden Wahlkommissionen als "ineffizient" (AAN 17.05.2019).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.05.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.01.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.01.2004, USDOS 29.05.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.01.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 02.09.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.03.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 02.09.2019; vgl. AAN 06.05.2018, DOA 17.03.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 02.09.2019).

Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert, und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht, und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.03.2019).

Die Hezb-e Islami wird von Gulbuddin Hekmatyar, einem ehemaligen Warlord, der zahlreicher Kriegsverbrechen beschuldigt wird, geleitet. Im Jahr 2016 kam es zu einem Friedensschluss, und Präsident Ghani sicherte den Mitgliedern der Hezb-e Islami Immunität zu. Hekmatyar kehrte 2016 aus dem Exil nach Afghanistan zurück und kündigte im Jänner 2019 seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen 2019 an (CNA 19.01.2019).

Im Februar 2018 hat Präsident Ghani in einem Plan für Friedensgespräche mit den Taliban diesen die Anerkennung als politische Partei in Aussicht gestellt (DP 16.06.2018). Bedingung dafür ist, dass die Taliban Afghanistans Verfassung und einen Waffenstillstand akzeptieren (NZZ 27.01.2019). Die Taliban reagierten nicht offiziell auf den Vorschlag (DP 16.06.2018; s. folgender Abschnitt, Anm.).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Hochrangige Vertreter der Taliban sprachen zwischen Juli 2018 (DZ 12.08.2019) - bis zum plötzlichen Abbruch durch den US-amerikanischen Präsidenten im September 2019 (DZ 08.09.2019) - mit US-Unterhändlern über eine politische Lösung des nun schon fast 18 Jahre währenden Konflikts. Dabei ging es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan nicht zu einem sicheren Hafen für Terroristen wird. Die Gespräche sollen zudem in offizielle Friedensgespräche zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban münden. Die Taliban hatten es bisher abgelehnt, mit der afghanischen Regierung zu sprechen, die sie als "Marionette" des Westens betrachten - auch ein Waffenstillstand war Thema (DZ 12.08.2019; vgl. NZZ 12.08.2019; DZ 08.09.2019).

Präsident Ghani hatte die Taliban mehrmals aufgefordert, direkt mit seiner Regierung zu verhandeln, und zeigte sich über den Ausschluss der afghanischen Regierung von den Friedensgesprächen besorgt (NYT 28.01.2019; vgl. DP 28.01.2019, MS 28.01.2019). Bereits im Februar 2018 hatte Präsident Ghani die Taliban als gleichberechtigte Partner zu Friedensgesprächen eingeladen und ihnen eine Amnestie angeboten (CR 2018). Ein für Mitte April 2019 in Katar geplantes Dialogtreffen, bei dem die afghanische Regierung erstmals an den Friedensgesprächen mit den Taliban beteiligt gewesen wäre, kam nicht zustande (HE 16.05.2019). Im Februar und Mai 2019 fanden in Moskau Gespräche zwischen Taliban und bekannten afghanischen Oppositionspolitikern, darunter der ehemalige Staatspräsident Hamid Karzai und mehrere Warlords, statt (Qantara 12.02.2019; vgl. TN 31.05.2019). Die afghanische Regierung war weder an den beiden Friedensgesprächen in Doha, noch an dem Treffen in Moskau beteiligt (Qantara 12.02.2019; vgl. NYT 07.03.2019), was Unbehagen unter einigen Regierungsvertretern auslöste und die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Regierungen beeinträchtigte (REU 18.03.2019; vgl. WP 18.03.2019).

Vom 29.04.2019 bis 03.05.2019 tagte in Kabul die "große Ratsversammlung" (Loya Jirga). Dabei verabschiedeten deren Mitglieder eine Resolution mit dem Ziel, einen Friedensschluss mit den Taliban zu erreichen und den innerafghanischen Dialog zu fördern. Auch bot Präsident Ghani den Taliban einen Waffenstillstand während des Ramadan von 06.05.2019 bis 04.06.2019 an, betonte aber dennoch, dass dieser nicht einseitig sein würde. Des Weiteren sollten 175 gefangene Talibankämpfer freigelassen werden (BAMF 06.05.2019). Die Taliban nahmen an dieser von der Regierung einberufenen Friedensveranstaltung nicht teil (HE 16.05.2019).

3. Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 03.09.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison - was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.04.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.06.2019; vgl. AJ 12.04.2019; NYT 12.04.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.04.2019; vgl. NYT 12.04.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.06.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt - dies hatte zum Ziel, die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.07.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.01.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss, als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten - als Reaktion auf einen Anschlag - absagte (DZ 08.09.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 6.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.04.2019; vgl. NYT 19.07.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 03.09.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 07.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.08. - 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. (SIGAR 30.04.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte, die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren, und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran, ihr Ziel zu erreichen (USDOD 6.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 03.09.2019).

So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich es keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 03.09.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 07.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 07.12.2018; vgl. ARN 23.06.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit - insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan (UNGASC 03.09.2019).

Für das gesamte Jahr 2018 registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.02.2019).

[...]

Für den Berichtszeitraum 10.05. - 08.08.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevante Vorfälle - eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 03.09.2019). Für den Berichtszeitraum 08.02 - 09.05.2019 registrierte die UN insgesamt 5249 sicherheitsrelevante Vorfälle - ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.06.2019).

Für den Berichtszeitraum 10.05 - 08.08.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle, bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet - 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UNGASC 03.09.2019).

Im Gegensatz dazu registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit

29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).

[...]

Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56% auf 54% der Distrikte ab, die Kontrolle bzw. Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15% auf 12%. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29% auf 34%. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5% zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6% der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast zwei Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.01.2019).

Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39% der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37% von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20% der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4% der Distrikte (MA 14.01.2019).

Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation (SIGAR 30.04.2019). Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.07.2019). Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet (SIGAR 30.04.2019; vgl. NYT 19.07.2019).

Zivile Opfer

Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 01.01. - 30.09.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) - dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41% der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September - im Gegensatz zu 2019 - von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 17.10.2019).

Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) (SIGAR 30.04.2019) berichtet, bzw. dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5% bzw. 11% bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die meisten zivilen Opfer wurden im Jahr 2018 in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab verzeichnet, wobei die beiden Provinzen mit der höchsten zivilen Opferanzahl - Kabul (1.866) und Nangarhar (1.815) - 2018 mehr als doppelt so viele Opfer zu verzeichnen hatten wie die drittplatzierte Provinz Helmand (880 zivile Opfer) (UNAMA 24.02.2019; vgl. SIGAR 30.04.2019). Im Jahr 2018 stieg die Anzahl an dokumentierten zivilen Opfern aufgrund von Handlungen der regierungsfreundlichen Kräfte um 24% gegenüber 2017. Der Anstieg ziviler Opfer durch Handlungen regierungsfreundlicher Kräfte im Jahr 2018 wird auf verstärkte Luftangriffe, Suchoperationen der ANDSF und regierungsfreundlicher bewaffneter Gruppierungen zurückgeführt (UNAMA 24.02.2019).

[...]

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl im gesamten Jahr 2018 (USDOD 12.2018), als auch in den ersten fünf Monaten 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 6.2019; vgl. USDOD 12.2018). Diese Angriffe sind stetig zurückgegangen (USDOD 6.2019). Zwischen 01.06.2018 und 30.11.2018 fanden 59 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 73) (USDOD 12.2018), zwischen 01.12.2018 und 15.05.2019 waren es 6 HPAs (Vorjahreswert: 17) (USDOD 6.2019).

Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten

Die Zahl der Angriffe auf Gläubige, religiöse Exponenten und Kultstätten war 2018 auf einem ähnlich hohen Niveau wie 2017: bei 22 Angriffen durch regierungsfeindliche Kräfte, meist des ISKP, wurden 453 zivile Opfer registriert (156 Tote, 297 Verletzte), ein Großteil verursacht durch Selbstmordanschläge (136 Tote, 266 Verletzte) (UNAMA 24.02.2019).

Für das Jahr 2018 wurden insgesamt 19 Vorfälle konfessionell motivierter Gewalt gegen Schiiten dokumentiert, bei denen es insgesamt zu 747 zivilen Opfern kam (223 Tote, 524 Verletzte). Dies ist eine Zunahme von 34% verglichen mit dem Jahr 2017. Während die Mehrheit konfessionell motivierter Angriffe gegen Schiiten im Jahr 2017 auf Kultstätten verübt wurden, gab es im Jahr 2018 nur zwei derartige Angriffe. Die meisten Anschläge auf Schiiten fanden im Jahr 2018 in anderen zivilen Lebensräumen statt, einschließlich in mehrheitlich von Schiiten oder Hazara bewohnten Gegenden. Gezielte Attentate und Selbstmordangriffe auf religiöse Führer und Gläubige führten zu 35 zivilen Opfern (15 Tote, 20 Verletzte) (UNAMA 24.02.2019).

Angriffe im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen im Oktober 2018

Die afghanische Regierung bemühte sich, Wahllokale zu sichern, was mehr als 4 Millionen afghanischen Bürgern ermöglichte zu wählen (UNAMA 11.2018). Und auch die Vorkehrungen der ANDSF zur Sicherung der Wahllokale ermöglichten eine Wahl, die weniger gewalttätig war als jede andere Wahl der letzten zehn Jahre (USDOS 12.2018). Die Taliban hatten im Vorfeld öffentlich verkündet, die für Oktober 2018 geplanten Parlamentswahlen stören zu wollen. Ähnlich wie bei der Präsidentschaftswahl 2014 warnten sie Bürger davor, sich für die Wahl zu registrieren, verhängten "Geldbußen" und/oder beschlagnahmten Tazkiras und bedrohten Personen, die an der Durchführung der Wahl beteiligt waren (UNAMA 11.2018; vgl. USDOS 13.03.2019). Von Beginn der Wählerregistrierung (14.04.2018) bis Ende des Jahres 2018 wurden 1.007 Opfer (226 Tote, 781 Verletzte) sowie 310 Entführungen aufgrund der Wahl verzeichnet (UNAMA 24.02.20

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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