Entscheidungsdatum
08.04.2020Norm
AsylG 2005 §5Spruch
W239 2229735-1/3E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Theresa BAUMANN als Einzelrichterin über die Beschwerde der XXXX , geb. XXXX , StA. Iran, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 11.03.2020, Zl. XXXX , zu Recht erkannt:
A) Die Beschwerde wird gemäß § 5 AsylG 2005 und § 61 FPG als
unbegründet abgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Die Beschwerdeführerin, eine iranische Staatsangehörige, stellte im österreichischen Bundesgebiet am 12.12.2019 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.
Zu ihrer Person liegt kein EURODAC-Treffer vor. Eine VIS-Abfrage ergab, dass die Beschwerdeführerin über ein von der italienischen Vertretungsbehörde in Teheran/Iran ausgestelltes Schengen-Visum Typ C, gültig von 30.11.2019 bis 26.12.2019, verfügte.
Im Zuge der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am selben Tag (12.12.2019) gab die Beschwerdeführerin befragt nach ihren Angehörigen an, ihre Mutter sei bereits verstorben, ihr Vater und zwei Schwestern würden im Iran leben. Eine Schwester und ein Bruder seien in der Türkei wohnhaft. Ihr Onkel lebe in der Schweiz und ihr Mann sei in Österreich aufenthaltsberechtigt.
Den Entschluss zur Ausreise habe die Beschwerdeführerin vor elf Monaten gefasst. Sie kenne ihren Mann seit Jahren, weil sie familiäre Beziehungen gehabt hätten, und so seien sie sich nähergekommen. Ihr Ziel sei Österreich gewesen, weil ihr Mann hier lebe. Sie habe die Heimat Anfang Dezember 2019 verlassen; ob sie legal oder illegal ausgereist sei, wisse sie nicht. Sie sei mit einem iranischen Reisepass über Katar bis nach Italien gereist, dann habe der Schlepper ihr alles abgenommen. Zum Aufenthalt in Italien könne sie nicht besonders viel sagen; am Flughafen sei ihr der Reisepass weggenommen worden. Sie habe dort nicht um Asyl angesucht und auch keinen Kontakt zu den dortigen Behörden gehabt. Von Italien sei sie weiter mit dem Bus gefahren. Im Iran sei es ihr wirtschaftlich sehr gut gegangen. Sie sei nur wegen ihres Mannes hier in Österreich und wolle deshalb auch bleiben.
Betreffend das italienische Visum erklärte die Beschwerdeführerin über Nachfrage, dass dieses bei der italienischen Botschaft ausgestellt worden sei. Der Schlepper sei mit ihr mitgegangen und habe ihr erklärt, was sie zu tun habe, um das Visum zu erhalten.
Als Fluchtgrund brachte die Beschwerdeführerin zusammengefasst vor, dass sie schön öfters probiert habe, hierher nach Österreich zu ihrem Mann zu reisen. Sie hätten sich dann in der Türkei getroffen und die Beschwerdeführerin sei anschließend zurück in den Iran gefahren. Nachdem sie zurückgereist sei, habe sie der Behörde hinsichtlich der Reise viele Fragen beantworten müssen. Da ihre Eltern und auch sie selbst nicht so gelebt hätten wie die Mehrheit der Bevölkerung, seien sie immer kontrolliert worden und hätten es schwer gehabt. Die Polizei habe einem Jungen vor den Augen der Beschwerdeführerin in die Brust geschossen und einem anderen in den Fuß. Die Situation habe sich verschlechtert und der Vater der Beschwerdeführerin habe ihr geraten, sie solle weggehen. Wenn sie in die Heimat zurückkehre, habe sie dort keine Sicherheit; sie habe Angst um ihr Leben. Ihre Familie sei auch nicht sicher, da die Behörde nun wisse, dass sie ihren Mann geheiratet habe, und dieser gesucht werde. Die Beschwerdeführerin habe immer versucht, ihr Leben ruhig und mit Respekt zu leben.
2. Am 17.12.2019 richtete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) ein auf Art. 12 Abs. 2 oder Abs. 3 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates (Dublin-III-VO) gestütztes Aufnahmeersuchen an die italienische Dublin-Behörde. Italien ließ das Ersuchen unbeantwortet. Mit Schreiben vom 18.02.2020 setzte das BFA die italienische Dublin-Behörde daher davon in Kenntnis, dass gemäß Art. 12 Abs. 2 iVm Art. 22 Abs. 7 Dublin-III-VO Verfristung eingetreten und die Zuständigkeit zur Führung des Verfahrens auf Italien übergegangen sei.
Aus einem Vermerk vom 18.12.2019 ist ersichtlich, dass die Beschwerdeführerin freiwillig auf Leistungen aus der Grundversorgung verzichtete und über die Einstellung der Grundversorgung belehrt wurde; Grund dafür war der Privatverzug zu ihrem Lebensgefährten, wo die Beschwerdeführerin seit 20.12.2019 mit Hauptwohnsitz gemeldet ist.
Vorgelegt wurden die Geburtsurkunde (Duplikat) der Beschwerdeführerin, die Geburtsurkunde des Lebensgefährten, die Heiratsurkunde und die Abschrift der Heiratsurkunde; eine Übersetzung der vorgelegten Dokumente aus dem Persischen (Farsi) ins Deutsche wurde seitens des BFA veranlasst und befinden sich die Übersetzungen im Akt.
3. Nach durchgeführter Rechtsberatung fand am 06.03.2020 im Beisein einer Rechtsberaterin die niederschriftliche Einvernahme der Beschwerdeführerin vor dem BFA statt. Die Beschwerdeführerin gab zu Beginn über Nachfrage an, sie sehe sich psychisch und physisch dazu in der Lage, die Befragung zu absolvieren. Körperlich sei sie gesund und mental werde sie ihr Bestens geben. Zu ihrem Gesundheitszustand gab sie weiter an, es gehe ihr gut, sie habe aber Stress, weil es um ihr Leben gehe. Die Frage, ob sie an irgendwelchen Krankheiten leide, Medikamente benötige oder in ärztlicher Behandlung stehe, verneinte sie.
Betreffend etwaiger Dokumente gab die Beschwerdeführerin an, dass sie ihren Personalausweis [gemeint: die Geburtsurkunde] schon vorgelegt habe. Sie lege nunmehr auch ihre nationale ID-Karte vor; diese wurde in Kopie zum Akt genommen. Als sie in Italien angekommen sei, habe man ihr den Reisepass abgenommen. Sie habe dann Kontakt mit dem Iran aufgenommen und ein Freund ihres Mannes, der im Iran auf Urlaub gewesen sei, habe ihr die Dokumente mitgebracht. Nähere Angaben zu dem Mann könne sie nicht machen; es sei ein Freund ihres Mannes gewesen. Sie sei mit ihrem eigenen richtigen Reisepass ausgereist. Die Heiratsurkunde, den Personalausweis [gemeint: die Geburtsurkunde] ihres Mannes sowie eine Bestätigung mit einem Stempel eines Notars [gemeint: die Abschrift der Heiratsurkunde] habe sie auch bereits vorgelegt.
Hinsichtlich der Erstbefragung erklärte die Beschwerdeführerin über Nachfrage, dass sie die Wahrheit gesagt habe, aber einiges korrigieren wolle, da es Probleme bei der Übersetzung gegeben habe. Die Namen ihrer Familienmitglieder seien falsch geschrieben worden. Ihr Onkel mütterlicherseits sei in Schweden und nicht in der Schweiz. Sie habe nicht vor 17 Monaten versucht, den Iran zu verlassen, sondern vor zwei Monaten. Mit dem Schleppergehilfen in Italien habe sie keinen telefonischen Kontakt gehabt; er habe ihr den Pass abgenommen. Die Wohnadresse in der Heimat sei auch falsch geschrieben worden. Den Rest wisse sie nicht. Die Angaben seien ihr nicht wortwörtlich rückübersetzt worden, sondern es sei ihr nur eine Kurzfassung gegeben worden, deshalb habe sie nicht alles verstanden. Nachgefragt, ob Fehler beim Reiseweg passiert seien, gab die Beschwerdeführerin an, dass die Reiseroute richtig dokumentiert worden sei.
Betreffend etwaige Familienangehörige oder Verwandte in Österreich erklärte die Beschwerdeführerin, dass sie abgesehen von ihrem Ehemann hier niemanden habe. Die Dokumente, die sie vorgelegte habe würden belegen, dass sie verheiratet seien. Sie hätten am XXXX 1397 ( XXXX 2018) geheiratet. Sie hätten den Tag, an dem sie sich in der Türkei getroffen hätten, in Anhängern eingravieren lassen. Nachgefragt, wie die Heirat abgelaufen sei, schilderte die Beschwerdeführerin, dass es eine Heirat in Abwesenheit gewesen sei. Ihr Mann habe ein Video am Handy über die Heirat. Die Beschwerdeführerin sei von ihrem Mann durch ein Schreiben bevollmächtigt geworden. Es sei kein amtliches Schreiben gewesen, aber es sei anerkannt worden. Sie hätten keine andere Möglichkeit gehabt; ihr Mann habe nicht in den Iran zurückkehren können, da er dort politische Probleme habe. Nachgefragt, wie der Eheantrag in seinen Personalausweis komme, erklärte die Beschwerdeführerin, dass ihr das Personaldokument zugeschickt worden sei und sie es beim Notar vorgelegt habe; der habe es eingetragen. Die Seriennummer sei nachvollziehbar; man könne das abfragen. Im Iran werde eine Ehe in Abwesenheit anerkannt, wenn die Ehefrau bevollmächtigt worden sei.
Zur Frage, wie lange sie ihren Mann kenne, antwortete die Beschwerdeführerin, sie kenne ihn seit vielen Jahren, seit etwa 15 Jahren. Sie hätten sich dadurch kennen gelernt, dass ihre Familien miteinander befreundet gewesen seien. Befragt, seit wann sie eine Beziehung führen würden, antwortete die Beschwerdeführerin, sie hätten mehrere Jahre keinen Kontakt gehabt; es habe viele Hürden gegeben. Sie seien offiziell seit XXXX 1397 vermählt. Davor habe keine (sexuelle) Beziehung bestanden. Es sei ein Heiratsprozess gewesen. Es habe 15 Jahre gedauert, bis sie zueinander gefunden hätten. Nachgefragt, wann sie beschlossen hätten, zu heiraten, erklärte die Beschwerdeführerin, sie denke, dass das im Jahr 1386 (2007/2008) gewesen sei. Sie hätten vorgehabt, zu heiraten, da die Mutter der Beschwerdeführerin an Brustkrebs erkrankt gewesen sei. Der Mann der Beschwerdeführerin sei damals Student gewesen; er sei politisch aktiv gewesen, sie habe aber nicht gewusst wie. Seit 1386 hätten sie also heiraten wollen. Sie seien dann auseinandergegangen; es habe eine große Kluft gegeben. Er sei ausgereist und sie habe keinen Kontakt mehr zu ihm gehabt, da sie weder Adresse noch Telefonnummer gehabt habe. Nicht einmal seine Familie habe etwas von ihm gewusst.
Zur Frage, wann sie sich dann wieder getroffen hätten, schilderte die Beschwerdeführerin, sie hätten sich in der Türkei wieder getroffen, am XXXX 1397 ( XXXX 2019). Er sei wegen ihr in die Türkei gekommen. Sie sei während all der Jahre, in denen er nicht da gewesen sei, in Kontakt mit seiner Familie gestanden. Irgendwann habe sie erfahren, dass er seit etwa vier bis fünf Jahren wieder Kontakt zu seiner Familie gehabt habe. Sie denke, er sei 2016 nach Europa gekommen. Nachgefragt, seit wann sie nun selbst wieder Kontakt zu ihm gehabt habe, antwortete die Beschwerdeführerin, sie habe zuerst Kontakt zu seiner Familie gehabt. Über Wiederholung der Frage gab sie an, es habe damals nicht die Möglichkeiten wie heute gegeben; es habe nicht so viele Mobiltelefone gegeben. Man habe nicht so leicht Kontakt aufnehmen können. Im Iran habe es viele Beschränkungen gegeben. Die Frage wurde abermals wiederholt, die Beschwerdeführerin dachte nach und meinte schließlich, sie könne es nicht genau sagen, sie habe von ihm über seine Familie erfahren.
Vorgehalten, dass sie doch ungefähr angeben können müsse, wann sie den Kontakt zu ihrem Verlobten wiederaufgenommen habe, der zuvor das Land verlassen habe, entgegnete die Beschwerdeführerin, dass sie nicht lügen wolle. Man müsse sich das so vorstellen: Er sei auf der Flucht gewesen und habe auch keinen Kontakt zu seiner Familie gehabt, weil diese auch gefährdet gewesen sei. Als sie den Iran verlassen habe, habe sie seine Familie auch nicht davon in Kenntnis gesetzt. Der Vorhalt wurde wiederholt, sodass die Beschwerdeführerin angab, sie habe auch über Facebook Kontakt gehabt.
Nachgefragt, seit wann sie wisse, dass ihr Mann in Österreich lebe, erklärte sie, dass sie das wisse, seit er hier sei. Im Jahr 2016 sei er nach Europa gekommen und dann habe sie erfahren, dass er in Österreich lebe. Sie habe über seine Familie erfahren, dass er hier sei. Sie wisse das also seit er in Europa angekommen gewesen sei und nicht mehr in Lebensgefahr gewesen sei und sie Kontakt zu ihm aufnehmen habe können; seit ein paar Jahren sei es einfacher, über Social Media den Kontakt zu halten. Sie habe sieben Monate lang nichts über seinen Verbleib gewusst.
Zur Frage, wie sie nach Österreich gekommen sei, erklärte die Beschwerdeführerin, das sei eine lange Geschichte. Ihr wurde erklärt, dass es nur darum gehe, wie sie den Iran verlassen habe, und nicht warum. Dazu führte sie aus, der Schlepper habe ihre Unterlagen genommen und ihr einen Helfer geschickt, der mit ihr zur italienischen Botschaft gegangen sei und die Unterlagen dort abgegeben habe. Es habe nicht lange gedauert und sie habe das Visum bekommen. Es habe etwa einen Monat gedauert; dann sei sie über Katar nach Italien geflogen. Nachgefragt, ob sie zuvor schon einmal ein Visum beantragt habe, verneinte die Beschwerdeführerin das. Sie sei ausschließlich einige Male in die Türkei gereist und da habe sie kein Visum gebraucht. Einmal habe sie versucht, ein Visum für Österreich zu bekommen, aber ihr Antrag sei abgelehnt worden. Sie habe ihren Mann besuchen wollen.
Nachgefragt, weshalb sie einen Schlepper beauftragt habe, erklärte die Beschwerdeführerin, sie sei dazu gezwungen gewesen. Sie hätte das Visum nicht ohne Schlepper beantragen können; sie wünschte, dass das so leicht wäre. Das österreichische Visum habe sie damals ohne Schlepper beantragt; das habe nur den Zweck gehabt, ihren Mann zu besuchen. Aber das italienische Visum jetzt sei lebensnotwendig gewesen; sie habe es kurzfristig benötigt und deshalb mit einem Schlepper beantragt. Vorgehalten, weshalb sie aber in Italien ihren Pass hergegeben habe, gab die Beschwerdeführerin an, dass sie gezwungen gewesen sei, den Iran zu verlassen. Über Wiederholung der Frage ergänzte sie, dass der Schlepper, der sich im Iran aufhalte, ihr gesagt habe, dass sie bei der Ankunft in Italien den Anweisungen seines Hintermanns folgen solle, und das habe sie getan.
Vorgehalten, dass sie laut den dem BFA vorliegenden Unterlagen im Dezember 2018 ein Visum für Österreich beantragt habe und als Zweck der Reise der Besuch einer Messe angegeben worden sei, erklärte die Beschwerdeführerin, dass das eine Tourismusmesse in Wien gewesen sei, die sie besuchen habe wollen. Der Hauptgrund der geplanten Reise sei aber gewesen, dass sie ihren Mann besuchen könne.
Der Beschwerdeführerin wurde sodann mitgeteilt, dass geplant sei, ihren Antrag auf internationalen Schutz zurückzuweisen, da Konsultationen mit Italien geführt worden seien; die Zustimmung durch Verfristung seitens Italiens liege bereits vor. Dazu entgegnete die Beschwerdeführerin, man möge bedenken, dass man im Iran nur beschränkt richtige Informationen über das Asylverfahren [in Europa] erhalte. Sie hätten in Abwesenheit geheiratet und seien [fälschlicherweise] davon ausgegangen, dass die Beschwerdeführerin rechtmäßig in Österreich einreisen dürfe. Nach der Heirat habe die Beschwerdeführerin nicht gewusst, wie sie zu ihrem Mann gelangen könne. Sie habe eine Nachricht an den Herrn Bundespräsidenten Van der Bellen geschickt und ihn um Hilfe gebeten. Ihr sei mitgeteilt worden, "dass es in der österreichischen Gesetzgebung verankert wäre und er [ihr] nicht helfen könne." Ihr sei auch die Internet-Adresse der Österreichischen Botschaft genannt worden und geraten worden, sie solle mit der Botschaft Kontakt aufnehmen. Weiter schilderte die Beschwerdeführerin: "Ich habe mich grundlegend informiert und ich wusste, dass wenn ich offiziell nach Österreich müsste, müsste ich noch andere Hürden nehmen. So müsste mein Mann gewisse Quadratmeter [an] Wohnfläche nachweisen, [sowie, dass er] auch eine ordentliche Arbeit braucht und genug verdient. Mein Mann ist Student und arbeitet. Dadurch ist er nicht fähig, mehr als 1.100,-- Euro zu verdienen, nach dem Aufenthaltsgesetz sollte er zwischen 1.300,-- und 1.400,-- Euro verdienen. Ich habe solange gewartet, bis er mit seinem Studium fertig ist, damit er mehr arbeiten kann und die Einkommenshöhe erreicht. Um alles offiziell durchführen zu können, habe ich gewartet. Bedauerlicherweise - nachdem wir uns in der Türkei trafen - am XXXX 1398 ( XXXX 2019) kehrten wir wieder zurück; er nach Österreich, ich in den Iran. Obwohl ich nichts in der Türkei verbrochen habe, wurde ich bei der Rückreise befragt."
Vorgehalten, dass ihre Ehe in Österreich nicht anerkannt werde, und nochmals erklärt, dass sie legal mit einem italienischen Visum in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten eingereist sei und daher Italien für ihren Antrag auf internationalen Schutz zuständig sei, antwortete die Beschwerdeführerin: "Für mich gab es keinen anderen Grund, mein Land zu verlassen. Ich bin wegen meines Mannes hier, ich kann nicht nach Italien." Nachgefragt, weshalb sie nicht nach Italien könne, entgegnete sie, es sei nirgends geschrieben; ihr einziges Ziel sei ihr Ehemann gewesen. Mit dieser Tat habe sie sich in Verlegenheit gebracht. Es könne sein, dass sie ihre Familie nie wiedersehe. Noch einmal nachgefragt, ob es irgendwelche Gründe gebe, warum sie nicht nach Italien könne, gab sie abschließend an: "Ich kann nirgendwo hin."
Zu den aktuellen Länderberichten zu Italien gab die Beschwerdeführerin keine Stellungnahme ab. Die anwesende Rechtsberaterin stellte keine weiteren Fragen und erstattete kein Vorbringen. Abschließend erklärte die Beschwerdeführerin, sie habe den wichtigsten Teil, nämlich warum sie in Lebensgefahr sei, nicht erzählen können. Dazu wurde ihr abermals mitgeteilt, dass das BFA nicht für die inhaltliche Prüfung ihres Antrages auf internationalen Schutz zuständig sei. Die Beschwerdeführerin wiederholte daraufhin, dass sie 15 Jahre lang gewartet habe, um zu ihrem Liebsten zu gelangen. Aufgrund der Lebensgefahr sei sie dazu gezwungen gewesen, mit einem italienischen Visum auszureisen.
Nach erfolgter Rückübersetzung gab die Beschwerdeführerin an, dass sie sieben Monate lang nicht gewusst habe, wo ihr Ehemann sei; ansonsten habe sie keine Einwände gegen die Niederschrift.
4. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des BFA vom 11.03.2020 wurde der Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und ausgesprochen, dass Italien gemäß Art. 12 Abs. 2 oder Abs. 3 Dublin-III-VO (gültiges Visum) für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig sei (Spruchpunkt I.). Zudem wurde gemäß § 61 Abs. 1 Z 1 FPG gegen die Beschwerdeführerin die Außerlandesbringung angeordnet und festgestellt, dass demzufolge gemäß § 61 Abs. 2 FPG ihre Abschiebung nach Italien zulässig sei (Spruchpunkt II.).
Zur Lage in Italien traf das BFA folgende Feststellungen (Länderinformationsblatt Italien, Gesamtaktualisierung am 09.10.2019; unkorrigiert, gekürzt):
Allgemeines zum Asylverfahren
In Italien existiert ein rechtsstaatliches Asylverfahren mit gerichtlichen Beschwerdemöglichkeiten. Im Oktober 2018 gab es mit Einführung von Gesetzesdekret Nr. 113 vom 4.10.2018 (in Verbindung mit dem Umwandlungsgesetz Nr. 132 vom 1.12.2018 (auch als "Salvini-Dekret" bzw. "Salvini-Gesetz" bekannt) einige legislative Änderungen (siehe dazu insbesondere Abschnitte 6. und 7. in diesem LIB, Anm.):
(...)
(AIDA 4.2019; für ausführliche Informationen siehe dieselbe Quelle).
Mit Stand 27. September 2019 waren in Italien 49.014 Personen in einem Asylerfahren, davon haben 26.240 Personen ihren Asylantrag im Jahr 2019 gestellt (MdI 27.9.2019).
Im Jahre 2019 haben die italienischen Asylbehörden bis zum 7. Juni
42.916 Asylentscheidungen getroffen, davon erhielten 4.605 Personen Flüchtlingsstatus, 2.790 subsidiären Schutz, 672 humanitären Schutz,
2.340 waren unauffindbar und 32.304 wurden negativ entschieden (MdI 7.6.2019). Mit Anfang Oktober 2019 waren in Italien 50.298 Asylanträge anhängig (SN 2.10.2019).
Die Asylverfahren nehmen, inklusive Beschwerdephase, bis zu zwei Jahre in Anspruch (USDOS 13.3.2019).
Quellen:
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AIDA - Asylum Information Database (4.2019): Association for Legal Studies on Immigration (ASGI) / European Council on Refugees and Exiles (ECRE): Country Report: Italy, http://www.asylumineurope.org/sites/default/files/report-download/aida_it_2017update.pdf, Zugriff 27.8.2019
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MdI - Ministero dell'Interno (27.9.2019): Commissione Nazionale per il Diritto di Asilo, per E-Mail
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MdI - Ministero dell'Interno (7.6.2019): Commissione Nazionale per il Diritto di Asilo,
https://www.camera.it/application/xmanager/projects/leg18/attachments/upload_file_doc_acquisiti/pdfs/000/001/795/REPORT_FINO_AL_07.06.2019_.pdf, Zugriff 24.9.2019
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SN - Salzburger Nachrichten (2.10.2019): Zahl der Migrantenankünfte in Italien 2019 stark rückläufig, https://www.sn.at/politik/weltpolitik/zahl-der-migrantenankuenfte-in-italien-2019-stark-ruecklaeufig-77097958, Zugriff: 9.10.2019
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USDOS - US Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 - Italy, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004308.html, Zugriff 23.9.2019
Dublin-Rückkehrer
Wenn Italien einer Überstellung ausdrücklich zustimmt, wird der Flughafen angegeben, welcher der für das konkrete Asylverfahren zuständigen Quästur am nächsten liegt. Wenn Italien durch Fristablauf zustimmt, landen Rückkehrer üblicherweise auf den Flughäfen Rom-Fiumicino und Mailand-Malpensa. Ihnen wird am Flughafen von der Polizei eine Einladung (verbale di invito) ausgehändigt, der zu entnehmen ist, welche Quästur für ihr Asylverfahren zuständig ist. Mit dieser ist dann ein Termin zu vereinbaren. Die Quästuren sind oft weit von den Ankunftsflughäfen entfernt und die Asylwerber müssen auf eigene Faust und oft auch auf eigene Kosten innerhalb weniger Tage dorthin reisen, was bisweilen problematisch sein kann (AIDA 4.2019).
Die Situation von Dublin-Rückkehrern hängt vom Stand ihres Verfahrens in Italien ab:
1. Wenn ein Rückkehrer noch keinen Asylantrag in Italien gestellt hat, kann er dies tun, so wie jede andere Person auch. Der Rückkehrer könnte aber auch als illegaler Migrant betrachtet und mit einer Anordnung zur Außerlandesbringung konfrontiert werden. Derartige Fälle wurden 2018 vom Flughafen Mailand Malpensa berichtet (AIDA 4.2019).
2. Wenn das Verfahren eines Antragstellers suspendiert wurde, weil er sich dem Verfahren vor dem Interview entzogen hat, kann der Rückkehrer binnen 12 Monaten ab Suspendierung einen neuen Interviewtermin beantragen. Sind mehr als 12 Monate vergangen und das Verfahren wurde beendet, kann nur ein Folgeantrag gestellt werden, für den seit Oktober 2018 verschärfte Regelungen gelten (AIDA 4.2019).
3. Wurde das Verfahren des Antragstellers in der Zwischenzeit negativ entschieden und ihm dies zur Kenntnis gebracht, ohne dass er Beschwerde eingelegt hätte, ist für den Rückkehrer eine Anordnung zur Außerlandesbringung und Schubhaft möglich. Wenn dem Antragsteller die negative Entscheidung nicht zur Kenntnis gebracht werden konnte, gilt diese seit Oktober 2018 nach 20 Tagen als zugestellt und ist für den Rückkehrer eine Anordnung zur Außerlandesbringung und Schubhaft möglich (AIDA 4.2019). (Für weitere Informationen, siehe Kapitel 6.2. "Dublin-Rückkehrer", Anm.)
Mit Gesetz 132/2018 wurde der humanitäre Schutzstatus stark überarbeitet und der Zugang zu dieser Schutzform eingeschränkt. Abgelaufene (alte) Aufenthaltstitel aus humanitären Gründen, werden nicht erneuert (VB 22.2.2019) und können auch nicht mehr verlängert werden. Sie können jedoch bei rechtzeitiger Antragstellung und Erfüllung der Voraussetzungen in einen anderen Titel umgewandelt werden (Aufenthaltstitel für Arbeit, Familienzusammenführung, etc. oder in einen humanitären Titel neuer Rechtslage) (VB 25.2.2019). Ansonsten läuft der Titel ab und der Aufenthalt in Italien ist nicht mehr rechtmäßig (VB 22.2.2019). (für nähere Informationen zu diesem Thema siehe Abschnitt 7. "Schutzberechtigte", Anm.) Wenn Dublin-Rückkehrer im Besitz eines humanitären Aufenthaltes waren, der nicht fristgerecht in einen der neuen Aufenthaltstitel umgewandelt wurde, sind sie zum Aufenthalt in Italien nicht mehr berechtigt und damit von der Versorgung ausgeschlossen (SFH 8.5.2019).
Quellen:
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AIDA - Asylum Information Database (4.2019): Association for Legal Studies on Immigration (ASGI) / European Council on Refugees and Exiles (ECRE): Country Report: Italy, http://www.asylumineurope.org/sites/default/files/report-download/aida_it_2017update.pdf, Zugriff 27.8.2019
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SFH - Schweizerische Flüchtlingshilfe (8.5.2019): Aktuelle Situation für Asylsuchende in Italien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2008993/190508-auskunft-italien.pdf, Zugriff 25.9.2019
VB des BM.I Italien (25.2.2019): Auskunft des VB, per E-Mail
VB des BM.I Italien (22.2.2019): Bericht des VB, per E-Mail
(...)
Non-Refoulement
Medienberichten zufolge wurden 2018 über 100 auf See aufgelesene Migranten nach Libyen zurückgebracht. Italienische Gerichte haben Überstellungen von afghanischen Asylwerbern in EU-Mitgliedsstaaten, in denen Asylverfahren der besagten Afghanen bereits negativ erledigt worden waren, unter Verweis auf ein Ketten-Refoulement-Risiko nach Afghanistan annulliert (AIDA 4.2019).
Mit Gesetz 132/2018 wurde auch das Prinzip der sicheren Herkunftsstaaten in Italien eingeführt. Da aber bislang keine entsprechende Liste sicherer Herkunftsstaaten beschlossen wurde, wird das Konzept in der Praxis derzeit nicht angewendet (AIDA 4.2019).
Es gibt Berichte über ignorierte Versuche Asyl zu beantragen und kollektive Kettenabschiebung nach Slowenien und weiter bis nach Bosnien-Herzegowina (AI 1.3.2019).
Quellen:
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AI - Amnesty International (1.3.2019): Italy: Refugees and migrants' rights under attack: Amnesty International submission for the UN Universal Periodic Review, 34th Session of the UPR Working Group,
https://www.ecoi.net/en/file/local/2007541/EUR3002372019ENGLISH.pdf, Zugriff 30.9.2019
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AIDA - Asylum Information Database (4.2019): Association for Legal Studies on Immigration (ASGI) / European Council on Refugees and Exiles (ECRE): Country Report: Italy, http://www.asylumineurope.org/sites/default/files/report-download/aida_it_2017update.pdf, Zugriff 29.8.2019
Versorgung
Mit der Einführung von Gesetzesdekret Nr. 113 vom 4.10.2018 (in Verbindung mit dem Umwandlungsgesetz Nr. 132 vom 1.12.2018 auch als "Salvini-Dekret" bzw. "Salvini-Gesetz" bekannt) gibt es auch weitgehende Änderungen im Unterbringungssystem. Das bisherige System (CARA als Erstaufnahme, SPRAR als kommunal organisierte Unterbringung und Integration für Asylwerber und Schutzberechtigte, CAS als Notmaßnahme für Bootsflüchtlinge) wird völlig neu organisiert und nur noch zwischen einer Erstaufnahme und einer sekundären Versorgungsschiene unterschieden (VB 19.2.2019; vgl. AIDA 4.2019).
Erstaufnahmeeinrichtungen ("prima accoglienza") werden CAS und CARA ersetzen. Zielgruppe dieser Einrichtungen sind Asylwerber (auch in einem Beschwerdeverfahren oder in Dublin-out-Verfahren bis zur Überstellung), ausdrücklich auch Dublin-Rückkehrer (VB 19.2.2019) und Vulnerable (mit Ausnahme von UMA) (SFH 8.5.2019). Fremde, die in Italien bereits einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt haben, werden in jener Region untergebracht, in welcher der Antrag ursprünglich eingebracht wurde. In allen anderen Fällen ist jene Region zuständig, in der sich der Flughafen befindet, an dem der Fremde ankommt. Für diese Erstaufnahmeeinrichtungen wurden seitens des italienischen Innenministeriums neue Ausschreibungsspezifikationen ausgearbeitet, die bereits durch den italienischen Rechnungshof genehmigt und an die Präfekturen übermittelt wurden. Die Ausschreibung und staatliche Verwaltung/Kontrolle der Einrichtungen obliegt nach wie vor den Präfekturen. Seitens des italienischen Innenministers wurde betont, dass die Einhaltung sämtlicher europarechtlicher Bestimmungen (hier insbesondere die Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU) unter Wahrung der menschlichen Würde jedenfalls sichergestellt ist. Herkunft, religiöse Überzeugung, Gesundheitszustand, Vulnerabilität sowie die Familieneinheit finden Berücksichtigung. Bei den Kernleistungen (Sozialbetreuung, Information, soziokulturelle Mediation, sanitäre Einrichtungen sowie Startpaket, Taschengeld und Telefonkarte) soll es zu keiner Kürzung oder Streichung kommen. Integrationsmaßnahmen werden im neuen System nur noch Schutzberechtigten zukommen. Bei den Ausschreibungsspezifikationen wird zwischen kollektiven und individuellen (z.B. Selbstversorger) Unterbringungsplätzen unterschieden. Die Versorgung sieht unter anderem folgende Leistungen vor:
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Unterbringung, Verpflegung
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Sozialbetreuung, Information, linguistisch-kulturelle Mediation
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notwendige Transporte
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medizinische Betreuung: Erstuntersuchung, ärztliche Betreuung in den Zentren zusätzlich zum allgemeinen Zugang zum nationalen Gesundheitsdienst
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Hygieneprodukte
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Wäschedienst oder Waschprodukte
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Erstpaket (Kleidung, Bettzeug, Telefonkarte)
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Taschengeld (€ 2,50/Tag/Person bis zu € 7,50/Tag für eine Kernfamilie)
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Schulbedarf
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usw.
Nach Auskunft des italienischen Innenministeriums sind Plätze für Familien sowie allein reisende Frauen (mit Kindern) vorgesehen. In den Spezifikationen sind Personalschlüssel, Reinigungsintervalle, Melde- und Aufzeichnungsverpflichtungen des Betreibers in Bezug auf Leistungen an die Bewohner, An-/Abwesenheiten etc. festgelegt. Die Präfekturen sind zu regelmäßigen, unangekündigten Kontrollen berechtigt und verpflichtet (VB 19.2.2019).
Ende 2018 wurden amtliche Ausschreibungsvorgaben für die Unterbringungseinrichtungen veröffentlicht, die die Standards für die Unterbringung im gesamten Land vereinheitlichen sollen. Die Vorgaben garantieren persönliche Hygiene, Taschengeld (Euro 2,50/Tag in der Erstaufnahme) und Euro 5,- für Telefonwertkarten, jedoch keine Integrationsmaßnahmen mehr (Italienisch-Kurse, Orientierungskurse, Berufsausbildungen oder Freizeitaktivitäten). Ebenso eingespart wird psychologische Betreuung, welche nur noch in Hotspots und Schubhaftzentren verfügbar ist. Rechtsberatung und kulturelle Mediation werden reduziert (AIDA 4.2019; vgl. SFH 8.5.2019).
Die sekundären Aufnahmeeinrichtungen (früher SPRAR) heißen ab sofort SIPROIMI ("Sistema di protezione per titolari di protezione internazionale e per minori stranieri non accompagnati" - Schutzsystem für international Schutzberechtigte und unbegleitete minderjährige Fremde). Asylwerber, mit Ausnahme unbegleiteter Minderjähriger, haben dort keinen Zugang mehr (AIDA 4.2019). SIPROIMI stehen nur noch Personen mit internationalem Schutz, unbegleiteten Minderjährigen, sowie Personen zur Verfügung, die nach der neuen Rechtslage einen Aufenthaltstitel wegen besonders berücksichtigungswürdiger Umstände haben ("neue" humanitäre Titel; siehe dazu mehr in Abschnitt 7. "Schutzberechtigte", Anm.). In diesen Einrichtungen werden zusätzlich zu den oben beschrieben Leistungen auch Maßnahmen mit dem Ziel einer umfassenden Integration (Gesellschaft, Arbeitsmarkt, Sprache, etc.) geboten (VB 19.2.2019).
Nur diejenigen asylsuchenden Personen und Inhaber eines humanitären Status, denen vor dem 4. Oktober 2018 ein Platz in einem SPRAR-Zentrum zugesagt wurde, werden noch in einem SPRAR-Zentrum untergebracht (SFH 8.5.2019). Personen mit humanitärem Schutz nach alter Rechtslage, die sich mit Stichtag 05.10.2018 noch in einem SPRAR/SIPROIMI befanden, können dort für den vorgesehenen Zeitraum bzw. bis zum Ende des Projektzeitraumes weiterhin bleiben. Jene Fremde mit humanitärem Schutz nach alter Rechtslage, die sich noch in einer Erstaufnahmeeinrichtung befinden, verbleiben dort so lange, bis ihnen von der Quästur der Aufenthaltstitel ("permesso di soggiorno") übergeben wurde und werden danach aus dem Aufnahmesystem entlassen (VB 19.2.2019).
In den letzten Jahren war das italienische Aufnahmesystem angesichts der zahlreichen Anlandungen von Migranten von Überforderung und dem Versuch geprägt, möglichst viele Unterbringungsplätze in möglichst kurzer Zeit zu schaffen. Dabei entstanden verschiedene Arten von Unterbringungszentren auf Projektbasis in Gemeinden, Regionen und zentraler Ebene mit nur grob festgelegt Zielgruppen. Mit der Neustrukturierung wurde ein differenziertes Aufnahmesystem geschaffen, das auch der Kritik des italienischen Rechnungshofes Rechnung trägt, der die undifferenzierte Unterbringung bzw. Erbringung insbesondere von kostspieligen Integrationsmaßnahmen an Migranten ohne dauerhaften Aufenthaltstitel bemängelt hat. So werden Asylwerber zukünftig in den Erstaufnahmeeinrichtungen untergebracht. Personen mit Schutzstatus bzw. einer der neuen Formen des humanitären Schutzes sowie allein reisende Minderjährige erhalten Zugang zu den sekundären Aufnahmeeinrichtungen, in denen zusätzlich integrative Leistungen angeboten werden (VB 19.2.2019). Ende 2018 wurden amtliche Ausschreibungsvorgaben für Unterbringungseinrichtungen veröffentlicht, die die Standards für die Unterbringung im gesamten Land vereinheitlichen sollen. Durch die neuen Vergabekriterien wurde auch auf den Vorwurf reagiert, dass die Aufnahmeeinrichtungen außerhalb des SPRAR keine einheitlichen Standards sicherstellen. Durch die Staffelung der Strukturen nach Unterbringungsplätzen mit entsprechend angepasstem Personalstand und Serviceleistungen kann seitens der Präfekturen im Rahmen der Vergabeverfahren auf den Bedarf und die Gegebenheiten vor Ort im jeweiligen Fall eingegangen werden, wodurch sich die Kosten von €
35/Person/Tag auf € 21/Person/Tag senken sollen. Die Vorgaben garantieren persönliche Hygiene, Taschengeld (Euro 2,50/Tag in der Erstaufnahme) und Euro 5,- für Telefonwertkarten, jedoch keine Integrationsmaßnahmen mehr (VB 19.2.2019; vgl. AIDA 4.2019). Dass eine solche Restrukturierung ohne Einbußen bei der Qualität oder dem Leistungsangebot (so der Vorwurf bzw. die Befürchtung der Kritiker) machbar ist, scheint angesichts der vorliegenden Unterlagen aus Sicht des VB nachvollziehbar (VB 19.2.2019). Kritiker meinen hingegen, die neuen Vorgaben würden zu einem Abbau von Personal in den Unterbringungseinrichtungen und zur Reduzierung der gebotenen Leistungen führen. Kleinere Zentren würden unwirtschaftlich und zur Schließung gezwungen, stattdessen würden größere, kostensenkende Kollektivzentren geschaffen (SFH 8.5.2019).
Asylwerber dürfen zwei Monate nach Antragstellung legal arbeiten (AIDA 4.2019; vgl. USDOS 13.3.2019). In der Praxis haben Asylwerber jedoch Schwierigkeiten beim Zugang zum Arbeitsmarkt, etwa durch Verzögerungen bei der Registrierung ihrer Asylanträge (die damit einhergehende Aufenthaltserlaubnis ist für den Zugang zum Arbeitsmarkt wichtig), oder durch die anhaltende Wirtschaftskrise, die Sprachbarriere, oder die geografische Abgelegenheit der Unterbringungszentren usw. (AIDA 4.2019).
Es gibt Berichte über Diskriminierung und Ausbeutung von Migranten durch Arbeitgeber. Die hohe Arbeitslosigkeit schmälert die Chancen von Migranten auf legale Anstellung (USDOS 13.3.2019).
Quellen:
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AIDA - Asylum Information Database (4.2019): Association for Legal Studies on Immigration (ASGI) / European Council on Refugees and Exiles (ECRE): Country Report: Italy, http://www.asylumineurope.org/sites/default/files/report-download/aida_it_2017update.pdf, Zugriff 19.9.2019
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SFH - Schweizerische Flüchtlingshilfe (8.5.2019): Aktuelle Situation für Asylsuchende in Italien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2008993/190508-auskunft-italien.pdf, Zugriff 25.9.2019
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USDOS - US Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 - Italy, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004308.html, Zugriff 23.9.2019
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VB des BM.I Italien (19.2.2019): Bericht des VB, per E-Mail
Unterbringung
Grundsätzlich sind bedürftige Fremde zur Unterbringung in Italien berechtigt, sobald sie den Willen erkennbar machen, um Asyl ansuchen zu wollen. Das Unterbringungsrecht gilt bis zur erstinstanzlichen Entscheidung bzw. dem Ende der Rechtsmittelfrist. Bei Rechtsmitteln mit automatischer aufschiebender Wirkung besteht das Unterbringungsrecht auch bis zur Entscheidung des Gerichts. Bei Rechtsmitteln ohne automatische aufschiebende Wirkung kann diese vom Gericht zuerkannt werden und in einen solchen Fall besteht auch das Unterbringungsrecht weiter. Seit Ende 2018 haben einige Rechtsmittel keine aufschiebende Wirkung mehr. Gemäß der Praxis in den Vorjahren erfolgt der tatsächliche Zugang zur Unterbringung erst mit der formellen Registrierung des Antrags (verbalizzazione), die bis zu einige Monate nach der Antragstellung stattfinden kann, abhängig von Region und Antragszahlen. In dieser Zeit müssen Betroffene alternative Unterbringungsmöglichkeiten finden, was problematisch sein kann. Zum Ausmaß dieses Phänomens gibt es allerdings keine statistischen Zahlen. Betroffene Asylwerber ohne ausreichende Geldmittel sind daher auf Freunde oder Notunterkünfte angewiesen, oder es droht ihnen Obdachlosigkeit. In ganz Italien gibt es auch informelle Siedlungen oder besetzte Häuser, in denen Fremde leben, unter ihnen Asylwerber und Schutzberechtigte (AIDA 4.2019).
Das offizielle italienische Unterbringungssystem für erwachsene Asylwerber stellt sich folgendermaßen dar:
CPSA (Centri di primo soccorso e accoglienza) / Hotspots
Es handelt sich dabei um Zentren an den Hauptanlandungspunkten der Migranten, die über das Mittelmeer nach Italien kommen. Die CPSA wurden 2006 gegründet und fungieren seit 2016 formell als "Hotspots" (gemäß dem sogenannten "Hotspot-approach" der Europäischen Kommission). Diese dienen der raschen erkennungsdienstlichen Behandlung, Trennung von Asylwerbern und Migranten und ihrer entsprechenden weiteren Behandlung. Ende 2018 gab es in Italien vier Hotspots in Apulien (Taranto) und Sizilien (Lampedusa, Pozzalo, Messina), die zusammen 453 Migranten beherbergten. Zu Identifikationszwecken werden Migranten in den Hotspots oft wochenlang festgehalten, was Kritiker als ungesetzlich bezeichnen (AIDA 4.2019).
Erstaufnahme
Diese soll in den bereits existierenden Zentren (Centri d'accoglienza richiedenti asilo, CARA und Centri di accoglienza, CDA) und in neu festzulegenden Einrichtungen umgesetzt werden. Die Zentren sind meist groß, geografisch isoliert und der Standard der Unterbringungsbedingungen schwankt zum Teil erheblich. Derzeit gibt es 14 Erstaufnahmezentren, aber Anfang 2019 hat das Innenministerium verlautbart, die großen Zentren schließen und durch kleinere ersetzen zu wollen, weil diese leichter zu kontrollieren seien. Im Falle von Platzmangel kann auch auf temporäre Strukturen (Centri di accoglienza straordinaria, CAS) zurückgegriffen werden, das sind Notunterkünfte der Präfekturen. Die Unterbringung in einem CAS soll so kurz als möglich dauern, bis zur Unterbringung des Betreffenden in einem Erstaufnahmezentrum. Doch es gibt derzeit über 9.000 CAS in ganz Italien und sie bilden damit die Mehrheit der im Land verfügbaren Unterbringungsplätze. Auch in den CAS ist der Unterbringungsstandard stark von der betreibenden Präfektur abhängig. In der Vergangenheit wurden einige CAS stark für die dortigen Zustände kritisiert. In Zukunft sollen die Ende 2018 veröffentlichten amtlichen Ausschreibungsvorgaben für Unterbringungseinrichtungen die Standards für die Unterbringung im gesamten Land vereinheitlichen (AIDA 4.2019).
Die Erstaufnahmezentren müssen seit Oktober 2018 alle Asylsuchenden, einschliesslich Vulnerabler, mit Ausnahme von UMA, aufnehmen. Die Aufnahmezentren der ersten Stufe haben infolge der neuen Vorschriften für das öffentliche Auftragswesen mit erheblichen Budgetkürzungen zu kämpfen. Diese Kürzungen führen zu einer Verringerung des Personalbestands und somit einer Verschlechterung der Betreuung der Asylsuchenden (SFH 8.5.2019).
Die Integration der Asylsuchenden beginnt erst nach Zuerkennung eines Schutztitels und Verlegung in ein SIPROIMI. Die Erstaufnahmeeinrichtungen bieten keine Integrationsprojekte, wie Berufsorientierung, etc. (AIDA 4.2019).
(Für Informationen zu SIPROIMI siehe Abschnitt 7. "Schutzberechtigte", Anm.)
Private Unterbringung / NGOs
Außerhalb der staatlichen Strukturen existiert noch ein Netzwerk privater Unterbringungsmöglichkeiten, betrieben von karitativen Organisationen bzw. Kirchen. Ihre Zahl ist schwierig festzumachen. Interessant sind sie speziell in Notfällen oder als Integrationsmittel. Im April 2017 beherbergten außerdem über 500 Familien in Italien einen Fremden. In einer Initiative der Caritas waren im Mai 2017 rund 500 weitere Migranten privat untergebracht (AIDA 4.2019).
Im Feber 2018 waren in ganz Italien geschätzt mindestens 10.000 Personen von der Unterbringung faktisch ausgeschlossen, darunter Asylwerber und Schutzberechtigte. Sie leben nicht selten in besetzen Gebäuden, von denen mittlerweile durch Involvierung von Regionen oder Gemeinden aber auch viele legalisiert wurden (MSF 8.2.2018). Informelle Siedlungen gibt es im ganzen Land, wenn auch Ende 2018 einige von den Behörden geräumt wurden (AIDA 4.2019). Auch Vertreter von UNHCR, IOM und anderer humanitärer Organisationen und NGOs, berichteten über tausende von legalen und illegalen Migranten und Flüchtlingen, die in verlassenen Gebäuden und in unzulänglichen und überfüllten Einrichtungen in Rom und anderen Großstädten leben und nur eingeschränkten Zugang zu medizinischer Versorgung, Rechtsberatung, Bildung und anderen öffentlichen Dienstleistungen haben (USDOS 13.3.2019).
Mit Stand 30.9.2019 befanden sich in Italien 99.599 Migranten in staatlicher Unterbringung (VB 30.9.2019).
CPR (Centri di Permanenza per il Rimpatrio)
Italien verfügt außerdem über sieben Schubhaftzentrum (CPR) mit zusammen 751 Plätzen. Unbegleitete Minderjährige und Vulnerable dürfen nicht in CPR untergebracht werden, Familien hingegen schon. In der Praxis werden aber nur sehr selten Kinder in CPR untergebracht. Wenn Migranten in den Hotspots die Abgabe von Fingerabdrücken verweigern, können sie zu Identifikationszwecken für max. 180 Tage in CPR inhaftiert werden (AIDA 4.2019).
Quellen:
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AIDA - Asylum Information Database (4.2019): Association for Legal Studies on Immigration (ASGI) / European Council on Refugees and Exiles (ECRE): Country Report: Italy, http://www.asylumineurope.org/sites/default/files/report-download/aida_it_2017update.pdf, Zugriff 19.9.2019
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MSF - Médecins Sans Frontières (8.2.2018): "Out of sight" - Second edition, https://www.ecoi.net/de/dokument/1424506.html, Zugriff 8.10.2019
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USDOS - US Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 - Italy, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004308.html, Zugriff 23.9.2019
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SFH - Schweizerische Flüchtlingshilfe (8.5.2019): Aktuelle Situation für Asylsuchende in Italien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2008993/190508-auskunft-italien.pdf, Zugriff 25.9.2019
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VB des BM.I Italien (30.9.2019): Bericht des VB, per E-Mail
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VB des BM.I Italien (19.2.2019): Bericht des VB, per E-Mail
Dublin-Rückkehrer
Mit der Einführung von Gesetzesdekret Nr. 113 vom 4.10.2018 (in Verbindung mit dem Umwandlungsgesetz Nr. 132 vom 1.12.2018; auch als "Salvini-Dekret" bzw. "Salvini-Gesetz" bekannt) wird festgelegt, dass die Erstaufnahmeeinrichtungen ("prima accoglienza"), welche CAS und CARA ersetzen sollen, ausdrücklich auch die reguläre Unterbringungsmöglichkeit für Dublin-Rückkehrer sind (VB 19.2.2019), da für Asylwerber kein Zugang zu den Zentren der zweiten Stufe (SIPROIMI-Zentren) vorgesehen ist (AIDA 4.2019).
Im Sinne des Tarakhel-Urteils stellte Italien im Februar 2015 in einem Rundbrief eine Liste von Einrichtu