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001 Verwaltungsrecht allgemeinNorm
B-VG Art133 Abs4Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Köhler, Hofrätin Mag.a Merl und Hofrat Dr. Schwarz als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, in der Revisionssache des Bundesministers für Inneres gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom 2. Dezember 2019, VGW-151/064/6347/2019-26, betreffend Dokumentation des Aufenthaltsrechts (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Wien; mitbeteiligte Partei: I B-A, vertreten durch Dr. Peter Philipp, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Graben 17), den Beschluss gefasst:
Spruch
Die Revision wird zurückgewiesen.
Der Bund hat der mitbeteiligten Partei Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
2 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.
3 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Auch bei Erhebung einer vom Verwaltungsgericht zugelassenen Revision hat die revisionswerbende Partei von sich aus die Zulässigkeit der Revision (gesondert) darzulegen, sofern sie der Ansicht ist, dass die Begründung des Verwaltungsgerichts für die Zulässigkeit der Revision nicht ausreicht oder sie eine andere Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung für relevant erachtet (siehe VwGH 29.1.2020, Ro 2019/09/0001, Rn. 4, mwN).
4 Der Mitbeteiligte, ein algerischer Staatsangehöriger, verfügte aufgrund seiner Ehe mit einer ungarischen Staatsangehörigen, die ihr Recht auf Freizügigkeit in Anspruch genommen hatte, über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht, das durch Ausstellen einer Aufenthaltskarte dokumentiert wurde. Nachdem ihm diese Aufenthaltskarte gestohlen worden war, beantragte er am 26. Juli 2018 unter Vorlage einer Anzeigebestätigung der Landespolizeidirektion Wien die Neuausstellung einer Aufenthaltskarte.
5 Der Landeshauptmann von Wien (Behörde) verständigte am 5. Oktober 2018 gemäß § 37 Abs. 4 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) die Landespolizeidirektion Wien (LPD) von ihrem Verdacht betreffend das Vorliegen einer Aufenthaltsehe gemäß § 30 NAG. Nach Durchführung von Ermittlungen teilte die LPD am 14. Februar 2019 der Behörde mit, dass eine Aufenthaltsehe nicht bewiesen werden könnte.
6 Mit Schriftsatz vom 7. Mai 2019 erhob der Mitbeteiligte Säumnisbeschwerde an das Verwaltungsgericht Wien (VwG).
7 Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das VwG der Säumnisbeschwerde statt und stellte fest, dass die Behörde eine neue Aufenthaltskarte auszustellen habe. Eine ordentliche Revision wurde für zulässig erklärt.
In seinen rechtlichen Ausführungen begründete das VwG zunächst die - vor dem Verwaltungsgerichtshof nicht bekämpfte - Zulässigkeit der Säumnisbeschwerde. Zum Antrag auf Neuausstellung der Aufenthaltskarte verwies das VwG auf § 19 Abs. 11 NAG, wonach die Dokumente mit der ursprünglichen Geltungsdauer und im ursprünglichen Berechtigungsumfang - allenfalls mit neuen Identitätsdaten - neuerlich auszustellen seien. Zu Aufenthaltskarten gemäß § 54 NAG führte das VwG aus, diese hätten nur deklaratorische Wirkung; bei Wegfall des durch die Aufenthaltskarte dokumentierten unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts würde nicht automatisch der rechtmäßige Aufenthalt im Bundesgebiet beendet, die Behörde hätte in diesem Fall die in § 55 NAG vorgesehenen Schritte zu setzen. Ein Drittstaatsangehöriger bleibe somit selbst bei Wegfall des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts bis zum Abschluss des nach § 55 NAG vorgesehenen Verfahrens rechtmäßig aufhältig (Hinweis auf VwGH 18.6.2013, 2012/18/0005). Die Wirkungen einer ausgestellten Aufenthaltskarte seien so lange aufrecht, als keine rechtskräftige Aufenthaltsbeendigung erlassen oder die Aufenthaltskarte nicht in einem Verfahren gemäß § 3 Abs. 5 NAG für nichtig erklärt worden sei. § 19 Abs. 11 NAG setze für eine Neuausstellung einer Aufenthaltskarte nur voraus, dass die Wirkung der bereits ausgestellten Dokumentation noch aufrecht seien.
Im vorliegenden Fall sei die ausgestellte Aufenthaltskarte weder für nichtig erklärt worden, noch sei eine rechtskräftige Aufenthaltsbeendigung ergangen. Die Behörde sei daher zur Neuausstellung der Aufenthaltskarte verpflichtet. Das VwG sei darüber hinaus zur amtswegigen Einleitung eines Verfahrens gemäß § 55 Abs. 3 NAG nicht zuständig.
Die Zulässigkeit einer Revision an den Verwaltungsgerichtshof begründete das VwG damit, dass „eindeutige Rechtsprechung zur Frage, ob die Verpflichtung zur Neuausstellung einer Aufenthaltskarte nach § 19 Abs. 11 NAG auch besteht, wenn begründete Zweifel am (weiteren) Bestehen des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts gegeben sind, fehlt.“
8 Der Revisionswerber führte in seiner Zulässigkeitsbegründung aus, das VwG sei von der hg. Rechtsprechung abgewichen, und begründet dies mit der Systematik des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts nach dem 4. Hauptstück des NAG. Die Ausstellung einer Aufenthaltskarte stelle nur eine Momentaufnahme dar; das Verwaltungsgericht müsse daher befugt sein, bei Fehlen der Voraussetzungen eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts die im NAG vorgesehenen Verfahrensschritte zu treffen. Ungeachtet dessen, dass in § 55 Abs. 3 NAG nur von der „Behörde“ die Rede sei, müsse auch das VwG - sofern die Voraussetzungen gemäß §§ 51 und 52 NAG nicht mehr gegeben seien - das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) hinsichtlich einer möglichen Aufenthaltsbeendigung befassen (Hinweis auf VwGH 25.4.2019, Ra 2018/22/0059; 27.1.2011, 2008/21/0249, beide ergangen zu § 25 NAG). Jedenfalls könne keine Verpflichtung zur Neuausstellung einer Aufenthaltskarte vorliegen, wenn begründete Zweifel am weiteren Bestehen des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts bestünden. Das VwG sei mit seiner Beurteilung, es sei zur amtswegigen Einleitung eines Verfahrens nach § 55 Abs. 3 NAG nicht zuständig, von der hg. Rechtsprechung abgewichen.
9 Zunächst wird angemerkt, dass ein vermeintliches Abweichen von der hg. Rechtsprechung zur Auslegung des § 55 Abs. 3 NAG hinsichtlich der Frage, ob in einer Konstellation wie der vorliegenden eine Verpflichtung zur Neuausstellung einer Aufenthaltskarte gegeben ist, nicht mit Entscheidungen aufgezeigt werden kann, die zu einer anderen Bestimmung - gegenständlich zu § 25 NAG - ergingen. Die fehlerhafte Bezeichnung (Abweichen von der hg. Rechtsprechung statt Fehlen derselben) schadet jedoch nicht.
10 Das VwG stützte seine Entscheidung tragend auf die Überlegung, § 19 Abs. 11 NAG lasse keinen Raum für eine Überprüfung, ob die Voraussetzungen für ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht nach wie vor vorlägen; diesbezügliche Zweifel müssten im Rahmen eines Verfahrens gemäß § 55 Abs. 3 NAG geklärt werden. Dies begründete das VwG einerseits mit der Unabhängigkeit eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts vom Vorliegen einer deklarativen Aufenthaltskarte und andererseits mit dem Wortlaut des § 19 Abs. 11 letzter Satz NAG, wonach die Dokumente mit der ursprünglichen Geltungsdauer und im ursprünglichen Geltungsumfang neuerlich auszustellen seien.
11 Gegen diese, das angefochtene Erkenntnis tragende Begründung, aufgrund derer das VwG eine ordentliche Revision für zulässig erklärte, bringt der Revisionswerber in der Zulässigkeitsbegründung inhaltlich nichts vor. Auf eine Rechtsfrage, die das VwG bei der Zulassung der ordentlichen Revision als grundsätzlich ansah, ist vom Verwaltungsgerichtshof allerdings nicht einzugehen, wenn diese Rechtsfrage in der Revision nicht angesprochen wird (vgl. VwGH 27.3.2020, Ro 2019/05/0029, Rn. 7, mwN).
12 Zu den in Rn. 8 dargestellten Zulässigkeitsausführungen des Revisionswerbers ist Folgendes auszuführen:
Der Wortlaut des § 19 Abs. 11 letzter Satz NAG enthält keine Hinweise darauf, dass vor der neuerlichen Ausstellung eines Dokumentes das Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen zu prüfen sei. Hätte der Gesetzgeber eine solche Prüfung vor der neuerlichen Ausstellung eines Aufenthaltstitels oder einer Aufenthaltskarte vorsehen wollen, hätte er dies zum Ausdruck bringen müssen; ob die Verwaltungsbehörde nach anderen Bestimmungen des NAG ein Verfahren einleiten könnte, berührt die Sache des Verfahrens gemäß § 19 Abs. 11 NAG nicht. Dass hingegen das Dokument mit gleicher Geltungsdauer und gleichem Geltungsumfang wie das verlorene oder unbrauchbar gewordene Dokument neuerlich auszustellen ist, weist darauf hin, dass ein Recht nicht neu verliehen oder dessen Vorliegen nicht neu dokumentiert, sondern lediglich ein verlorenes oder unbrauchbar gewordenes Dokument physisch ersetzt werden soll.
Angesichts dessen erweist sich das Vorbringen des Revisionswerbers in seiner Zulässigkeitsbegründung, die hg. Rechtsprechung zu § 25 Abs. 1 NAG, wonach auch das VwG zur Einleitung eines aufenthaltsbeendenden Verfahrens durch das BFA zuständig sei, sei auf § 55 Abs. 3 NAG zu übertragen, als nicht entscheidungsrelevant. Zur Lösung abstrakter Rechtsfragen ist der Verwaltungsgerichtshof auf Grund von Revisionen gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zuständig (vgl. VwGH 4.3.2019, Ro 2018/14/0003, mwN).
Die Argumentation des Revisionswerbers zur Systematik des 4. Hauptstückes (gemeint wohl: des 2. Teiles) des NAG ist schon deshalb nicht zielführend, weil sich der hier relevante § 19 NAG im 6. Hauptstück des ersten Teiles befindet.
13 In der Revision wird somit keine Rechtsfrage aufgeworfen, der im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme; sie war daher zurückzuweisen.
14 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 11. Mai 2020
Schlagworte
Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Bindung an den Wortlaut des Gesetzes VwRallg3/2/1European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2020:RO2020220002.J00Im RIS seit
09.07.2020Zuletzt aktualisiert am
14.07.2020