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41/02 Passrecht FremdenrechtNorm
AsylG 2005 §3 Abs1Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer, den Hofrat Dr. Sutter und die Hofrätin Dr.in Sembacher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des O Ö, vertreten durch Mag. Taner Önal, Rechtsanwalt in 8020 Graz, Kärntner Straße 7B, 1. OG, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 28. Juni 2019, L509 2131912-1/27E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von 1.346,40 EUR binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein türkischer Staatsangehöriger, stellte am 14. April 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz im Bundesgebiet. Zu den Gründen für seine Flucht brachte er - zusammengefasst - vor, in der Türkei als Kurde und eingetragenes Mitglied der "Demokratischen Partei der Völker" (HDP) verfolgt worden zu sein. Er sei mehrmals festgenommen und bei den Festnahmen misshandelt und gedemütigt worden.
2 Mit Bescheid vom 18. Juli 2016 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung sowohl des Status eines Asylberechtigten als auch eines subsidiär Schutzberechtigten ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung und stellte die Zulässigkeit der Abschiebung in die Türkei fest. Die Frist für die freiwillige Ausreise legte es mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest. 3 Im Zuge des Verfahrens über die Beschwerde gegen diesen Bescheid legte der Revisionswerber Dokumente zum Beweis dafür vor, dass in der Türkei ein Ermittlungsverfahren gegen ihn eingeleitet worden sei, weil er auf Facebook einen Beitrag geteilt habe, aus dem sich seine Sympathie für die kurdischen "Volksverteidigungseinheiten" (YPG) ergebe. Derartige Beiträge seien in der Türkei nunmehr verboten, weshalb gegen ihn auch ein Haftbefehl aufgrund des Tatbestands des "Propagierens für eine Terrororganisation" erlassen worden sei.
4 In der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) brachte der Revisionswerber vor, sich für ein unabhängiges Kurdistan einzusetzen, und auch in Österreich die YPG unterstützende Beiträge auf Facebook zu teilen und gegen den türkischen Staat zu protestieren. Zum Beweis dafür legte er einen Zeitungsbericht vor, in dem eine Fotografie von ihm abgebildet ist, die ihn mit einem Transparent zeigt, auf dem "Stoppt den türkischen Terror in Afrin" zu lesen ist.
5 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 28. Juni 2019 wies das BVwG die Beschwerde des Revisionswerbers als unbegründet ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.
6 Begründend führte es - zusammengefasst und soweit entscheidungserheblich - aus, die vom Revisionswerber vorgebrachten Verfolgungshandlungen seien nicht mehr beachtlich, weil sie längere Zeit vor der Ausreise lägen. Zudem seien sie nicht konkret gegen ihn gerichtet gewesen, sondern habe es sich dabei um polizeiliche Einsätze zur Auflösung von Demonstrationen gehandelt. Nach einer Entscheidung des Verwaltungsgerichts Berlin aus dem Jahr 2008 komme eine Verfolgung von Rückkehrern in die Türkei, die sich im Ausland exilpolitisch betätigt hätten, nur in Frage, wenn diese politisch exponiert seien, was auf den Revisionswerber nicht zutreffe. Auch wenn die Tätigkeiten des Revisionswerbers in Österreich "auffällig regimekritisch" seien, sei nicht anzunehmen, dass die türkischen Behörden über diese Tätigkeit Bescheid wüssten. Der vorgelegte Haftbefehl sei nicht authentisch.
7 Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision. In der Zulässigkeitsbegründung macht der Revisionswerber zusammengefasst geltend, das BVwG weiche von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Verfolgung aufgrund exilpolitischer Tätigkeiten ab. Entgegen der Ansicht des BVwG sei demnach eine besondere Exponiertheit regimekritischer Tätigkeiten nämlich nicht notwendig, sondern komme es maßgeblich darauf an, wie die Behörden des Heimatlandes die Aktivitäten des Revisionswerbers wahrnähmen und mit ihnen vor dem Hintergrund der aktuellen Situation im Herkunftsstaat umgingen. Mit seinen exilpolitischen Tätigkeiten habe sich das BVwG jedoch nur mangelhaft auseinandergesetzt, obwohl sich aus den vom BVwG selbst herangezogenen Länderberichten Festnahmen von Personen ergäben, die in den sozialen Medien die Offensive der Türkei gegen die YPG in Syrien kritisiert hätten. Hätte das BVwG den realen Hintergrund des Fluchtvorbringens auf Basis aktueller Quellen zur politischen Lage in die Entscheidung einbezogen, wäre das Vorbringen des Revisionswerbers als stichhaltig zu qualifizieren gewesen.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
8 Die Revision ist zulässig und berechtigt.
9 Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits wegen Unzuständigkeit Österreichs (§§ 4, 4a oder 5) zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) droht.
10 Gemäß Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist als Flüchtling anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen.
11 Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt es für die Asylgewährung auf die Flüchtlingseigenschaft im Sinn der GFK zum Zeitpunkt der Entscheidung an. Es ist demnach für die Zuerkennung des Asylstatus zum einen nicht zwingend erforderlich, dass bereits in der Vergangenheit Verfolgung stattgefunden hat, zum anderen ist eine solche "Vorverfolgung" für sich genommen auch nicht hinreichend. Entscheidend ist, ob die betroffene Person vor dem Hintergrund der zu treffenden aktuellen Länderfeststellungen im Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungshandlungen rechnen müsste (vgl. VwGH 3.5.2016, Ra 2015/18/0212, mwN).
12 Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits mehrmals festgehalten, dass eine exilpolitische Betätigung im Ausland einen asylrelevanten Nachfluchtgrund bilden kann (vgl. VwGH 19.1.2016, Ra 2015/01/0070, mwN).
13 Dabei hat der Verwaltungsgerichtshof bereits darauf hingewiesen, dass es bei der Beurteilung der Gefährdungssituation von "Rückkehrern" regelmäßig entscheidend darauf ankommt, ob der Asylwerber infolge seiner exilpolitischen Tätigkeit ins Blickfeld der zuständigen Behörden seines Herkunftsstaates geraten konnte. Bei Beurteilung dieser Frage sind zwei Gesichtspunkte auseinander zu halten. Zunächst geht es darum, ob der Asylwerber so in Erscheinung getreten ist, dass er als auffällig regierungskritisch identifizierbar war. Die Bejahung führt zur zweiten Frage, ob die Behörden des Herkunftsstaates in irgendeiner Form - zB durch Informanten oder Medienberichte - von seinem Auftreten Notiz genommen haben oder nehmen könnten. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Asylwerber aus der Sicht dieser Behörden eine ernst zu nehmende politische Gefahr darstellen könne. Eine derartige subjektive Einschätzung kann nämlich nicht ohne weiteres extern vorweg genommen werden, insbesondere dann, wenn der Asylwerber schon in seinem Heimatland politisch tätig gewesen ist (vgl. VwGH 22.5.2001, 2000/01/0076). Entscheidend ist vielmehr, wie die exilpolitische Tätigkeit von den Behörden des Herkunftsstaates bewertet würde und welche Konsequenzen sie für den Asylwerber hätte (VwGH 17.9.2003, 2002/20/0562; vgl. ferner VwGH 8.9.2015, Ra 2015/18/0080).
14 Eine solche hinreichende Auseinandersetzung mit den vom Revisionswerber vorgebrachten Tätigkeiten, die vorbringlich vom Teilen von regierungskritischen Beiträgen in den "sozialen Medien" bis zur Teilnahme an einer Demonstration gegen das Vorgehen der Türkei in Afrin reichen, lässt das vorliegende Erkenntnis vermissen.
15 Die negative Gefährdungsprognose des BVwG betreffend den Revisionswerber beschränkt sich vielmehr zum einen auf den Verweis auf ein über zehn Jahre altes Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin aus dem Jahr 2008 zu einer naturgemäß gänzlich anderen Berichtslage, laut dem eine "Gefährdung" wegen exilpolitischer Betätigung bei Rückkehr in die Türkei nur dann in Betracht komme, wenn die Person "politisch exponiert" sei. Zum anderen wird der Demonstrationsteilnahme in Graz die Aussage in einem österreichischen Zeitungsbericht entgegen gehalten, wonach "eine Nachfrage des Grazer Polizeikommandos beim Landesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (...) keine Nachweise über Tätigkeiten der AKP oder des türkischen Geheimdienstes in Graz ergeben" habe.
16 Wie die Revision zutreffend ausführt, reicht diese Auseinandersetzung des BVwG mit dem vorgebrachten Nachfluchtgrund einer exilpolitischen Tätigkeit des Revisionswerbers fallbezogen nicht aus, um die Wahrscheinlichkeit einer allfälligen drohenden "Verfolgung" im Sinne der hg. Rechtsprechung im Falle einer Rückkehr hinreichend beurteilen zu können, zumal die Einschätzung des BVwG im angefochtenen Erkenntnis, dass nur politisch exponierte Personen im Interesse der türkischen Behörden stünden, im Widerspruch zu den eigenen Länderfeststellungen des BVwG im angefochtenen Erkenntnis steht (vgl. etwa S. 30 zu Social Media-Nutzern, die von der türkischen "Internetbehörde" überwacht würden, und zu Festnahmen und Anklagen gegen diese aufgrund von Kritik am Vorgehen der Türkei in Afrin; S. 33 f zur Situation politisch Oppositioneller und zur Inhaftierung oder Stigmatisierung auch vieler "einfacher" Mitglieder der HDP; S 36 zur Beobachtung exilpolitischer Tätigkeiten zur Unterstützung kurdischer Belange durch türkische Stellen).
17 Vor dem Hintergrund der vom BVwG im angefochtenen Erkenntnis selbst herangezogenen Länderberichte, wonach die türkischen Behörden seit dem Putschversuch im Jahr 2016 verstärkt gegen Personen mit oppositioneller Gesinnung vorgingen, regierungskritische öffentliche Äußerungen - wie insbesondere auch Beiträge in sozialen Netzwerken mit u.a. Kritik am türkischen Vorgehen in Afrin oder Beteiligungen an Demonstrationen - beobachteten und diese in der Türkei strafbar seien, wenn sie als Propaganda für eine terroristische Organisation gewertet würden, hätte es sohin genauerer Feststellungen bedurft, welche konkreten "exilpolitischen" Tätigkeiten der Revisionswerber tatsächlich unternommen hat und welche rechtlichen Folgen diese in der Türkei nach sich ziehen, um beurteilen zu können, ob dem Asylwerber bei Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine asylrelevante Verfolgung droht (vgl. zum Erfordernis der maßgeblichen Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung VwGH 15.12.2015, Ra 2015/18/0100 - 0101 sowie 6.9.2018, Ra 2018/18/0121, mwN). 18 Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben. 19 Von der beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.
20 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 20
14.
Wien, am 18. Mai 2020
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019180503.L00Im RIS seit
23.06.2020Zuletzt aktualisiert am
23.06.2020