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10/07 VerwaltungsgerichtshofNorm
AsylG 2005 §3 Abs1Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer, den Hofrat Dr. Sutter und die Hofrätin Dr.in Sembacher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision der S A, vertreten durch Dr. Andreas Schuster, Rechtsanwalt in 1090 Wien, Liechtensteinstr. 22A Stiege I Tür 12, dieser vertreten durch Mag. Alexander Tupy, Rechtsanwalt in 1090 Wien, Währinger Straße 18, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. August 2019, W250 2144580-1/22E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von 1.106,40 EUR binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Die Revisionswerberin, eine afghanische Staatsangehörige, stellte am 27. Juli 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz, den sie im Wesentlichen mit der Bedrohung durch zwei Männer wegen der Tätigkeit ihres Ehemannes sowie mit einer drohenden Verfolgung aufgrund ihrer westlichen Orientierung und ihrer Volksgruppenzugehörigkeit der Hazara begründete.
2 Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 7. Dezember 2016 wurde der Antrag der Revisionswerberin auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt I.), ihr der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt (Spruchpunkt III.). 3 Gegen Spruchpunkt I. erhob die Revisionswerberin Beschwerde. 4 In der mündlichen Verhandlung vom 9. Juli 2019 vor dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) gab sie u.a. auf die Frage, wie sich ihr Leben als Frau im Vergleich zu Afghanistan verändert habe, an: "Es hat sich so stark verändert, dass man es nicht einmal glauben kann. In Afghanistan kann ich nicht einmal selber auswählen, was ich anziehe. Einmal pro Jahr, zum Ide-Fest mussten wir zuhause meinen Schwiegervater und meine Schwiegermutter anbeten, dass sie uns erlauben, Gewand zu kaufen. Hier kann ich einkaufen gehen und ich habe meine Freiheit, ich muss niemanden fragen und um Erlaubnis bitten. Ich besuche auch einen Kurs."
5 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das BVwG die Beschwerde als unbegründet ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.
6 Begründend führte es aus, dass eine asylrelevante Verfolgung der Revisionswerberin durch unbekannte Männer wegen der Tätigkeit ihres Ehemannes nicht glaubwürdig vorgebracht worden sei und eine konkret sowie individuell gegen die Revisionswerberin gerichtete Bedrohung aufgrund der Familienzugehörigkeit zu ihrem Ehemann nicht vorliege. Auch sei die Revisionswerberin keiner Verfolgung aufgrund ihres Geschlechts und als alleinstehende Frau keiner Gefährdung ausgesetzt, zumal ihre persönliche Wertehaltung und Lebensweise nicht an einem als westlich bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert, sondern weiterhin in afghanischen Gepflogenheiten verhaftet seien. Die Revisionswerberin habe keine selbstbestimmte und selbstverantwortliche Lebensweise verinnerlicht sowie in ihrer alltäglichen Lebensführung verankert. Auch drohe ihr im Falle einer Rückkehr keine Gefährdung durch ihren verschollenen Ehemann oder durch dessen Familie. Des Weiteren bestehe keine Verfolgung aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit.
7 Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, welche zu ihrer Zulässigkeit vorbringt, das BVwG habe widersprüchliche Feststellungen dahingehend getroffen, ob die Revisionswerberin im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan als alleinstehende Frau einer Gefährdung ausgesetzt sei. Eine solche würde sich - entgegen der Ansicht des BVwG - sehr wohl aus den herangezogenen Länderfeststellungen ergeben. 8 Die belangte Behörde erstattete keine Revisionsbeantwortung.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
9 Die Revision ist zulässig und auch begründet. 10 Unter Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ein ungerechtfertigter Eingriff in erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen (vgl. zB VwGH 24.3.2011, 2008/23/1443).
11 Nicht jede diskriminierende Maßnahme gegen eine Person ist als "Verfolgung" iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK anzusehen, sondern nur solche, die in ihrer Gesamtheit zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen führen (vgl. Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU, Statusrichtlinie). Ob dies der Fall ist, haben die Asylbehörde bzw. das BVwG im Einzelfall zu prüfen und in einer die nachprüfende Kontrolle ermöglichenden Begründung darzulegen.
12 Im gegenständlichen Fall ging das BVwG davon aus, dass die Revisionswerberin keiner Verfolgung aufgrund ihres Geschlechts ausgesetzt sei und ihr als alleinstehender Frau keine Gefährdung drohe. Das BVwG begründete dies damit, dass es zwar für viele Frauen nicht vorstellbar oder aufgrund der Gegebenheiten nicht möglich sei, ein alleinstehendes Leben außerhalb des Familienverbandes zu führen; eine Verfolgung der Revisionswerberin sei allein aufgrund dieses Umstandes jedoch nicht erkennbar. Zudem könne die Revisionswerberin mit ihrem kurz vor der Volljährigkeit stehenden Sohn, welcher ebenfalls von der Entscheidung umfasst sei, zurückkehren und gelte somit nicht mehr als alleinstehende Frau.
13 Die Ausführungen des BVwG, wonach der Revisionswerberin im Falle einer Rückkehr als alleinstehender Frau keine Gefährdung drohe, stehen jedoch - wie die Revision zu Recht aufzeigt - mit den vom BVwG selbst herangezogenen Länderfeststellungen in Widerspruch.
14 Aus diesen Länderberichten ergibt sich zur Lage von (alleinstehenden) Frauen in Afghanistan nämlich, dass Frauen ein alleinstehendes Leben außerhalb ihres Familienverbandes kaum möglich und ein solches unvorstellbar oder gänzlich unbekannt sei. Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt sei weit verbreitet und kaum dokumentiert. Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen würden zu über 90% innerhalb der Familienstrukturen stattfinden und die Gewalttaten würden von Körperverletzung und Misshandlung über Zwangsehen bis hin zu Vergewaltigung und Mord reichen.
15 Vor dem Hintergrund dieser Länderfeststellungen hätte das BVwG nähere Feststellungen zur Lage der Revisionswerberin bei einer Rückkehr nach Afghanistan treffen und sich konkret mit der Situation, in welche sie als alleinstehende Frau zurückkehren würde, auseinandersetzen müssen. Im angefochtenen Erkenntnis bleibt dazu offen, ob etwa die Möglichkeit besteht, in einen Familienverband zurückzukehren, wo sich dieser befindet und ob bzw. wie die Revisionswerberin gefahrlos dorthin gelangen könnte bzw. wie sich ihr Leben als alleinstehende Frau in Zukunft gestalten würde.
16 Der schlichte Hinweis, dass der Sohn der Revisionswerberin kurz vor der Volljährigkeit stehe, mit ihr zurückkehren könne und sie somit nicht mehr als alleinstehende Frau gelte, ersetzt solche Überlegungen nicht. So war der Sohn im Entscheidungszeitpunkt zum einen eben noch minderjährig und galt daher sogar als besonders vulnerable Person, was das BVwG nicht berücksichtigte. Zum anderen wären auch bei Erreichen der Volljährigkeit des Sohnes nähere Erörterungen betreffend eine wahrscheinliche konkrete Rückkehrsituation der alleinstehenden Revisionswerberin und ihres Sohnes anzustellen.
17 Hinsichtlich der im Verfahren vorgebrachten "westlichen Orientierung" der Revisionswerberin ist im Übrigen auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hinzuweisen, wonach Frauen Asyl beanspruchen können, die aufgrund eines gelebten "westlich" orientierten Lebensstils bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat verfolgt würden. Gemeint ist damit eine von ihnen angenommene Lebensweise, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt. Voraussetzung ist, dass diese Lebensführung zu einem solch wesentlichen Bestandteil der Identität der Frauen geworden ist, dass von ihnen nicht erwartet werden kann, dieses Verhalten im Heimatland zu unterdrücken, um einer drohenden Verfolgung wegen Nichtbeachtung der herrschenden politischen und/oder religiösen Normen zu entgehen. Dabei kommt es nicht darauf an, dass diese Verfolgung vom Heimatstaat ausgeht. Auch eine private Verfolgung kann insoweit maßgeblich sein, als der Heimatstaat nicht gewillt oder in der Lage ist, Schutz vor solcher Verfolgung zu gewähren. Es sind daher konkrete Feststellungen zur Lebensweise der Asylwerberin im Entscheidungszeitpunkt zu treffen und ist ihr diesbezügliches Vorbringen einer Prüfung zu unterziehen. Nicht entscheidend ist, ob die Asylwerberin schon vor ihrer Ausreise aus dem Herkunftsstaat eine derartige Lebensweise gelebt hatte bzw. deshalb bereits verfolgt worden ist. Es reicht vielmehr aus, dass sie diese Lebensweise im Zuge ihres Aufenthalts in Österreich angenommen hat und bei Fortsetzung dieses Lebensstils im Falle der Rückkehr mit Verfolgung rechnen müsste (vgl. VwGH 26.2.2020, Ra 2019/18/0459, mwN).
18 Im vorliegenden Fall hat das BVwG eine solche grundlegende und auch entsprechend verfestigte Änderung der Lebensführung der Revisionswerberin, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck komme, die zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden sei und die bei Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht gelebt werden könnte, verneint, ohne jedoch auf ihre Ausführungen hinsichtlich einer erfolgten starken Veränderung ihres Lebens in Richtung einer selbstbestimmten Lebensweise näher einzugehen.
19 Entscheidend ist nach der oben angeführten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, ob die Revisionswerberin im Falle einer Rückkehr ihre grundlegende Lebenseinstellung weiterhin leben könne. Das BVwG hätte daher - vor dem Hintergrund der Ausführungen der Revisionswerberin in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG - auf Basis konkreter Feststellungen zur aktuellen Lebensweise der Revisionswerberin und unter Heranziehung aktueller Länderberichte die zu erwartenden Reaktionen auf die von ihr weiterhin angestrebte Lebensweise bei Rückkehr nach Afghanistan prüfen müssen, um das Vorliegen eines Konventionsgrundes beurteilen zu können (vgl. VwGH 15.12.2015, Ra 2014/18/0118-0119, sowie VwGH 22.3.2017, Ra 2016/18/0388).
20 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben. 21 Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 18. Mai 2020
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019180402.L00Im RIS seit
23.06.2020Zuletzt aktualisiert am
23.06.2020