TE OGH 2020/4/16 10ObS151/19g

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Veröffentlicht am 16.04.2020
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.-Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätin Dr. Fichtenau und den Hofrat Mag. Ziegelbauer sowie die fachkundigen Laienrichter Johannes Püller (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und ADir. Gabriele Svirak (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei E*****, vertreten durch Dr. Klaus Rainer, Rechtsanwalt in Graz, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Josef Milchram, Dr. Anton Ehm und Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Feststellung von Schwerarbeitszeiten, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 23. September 2019, GZ 7 Rs 48/19m-17, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Text

Begründung:

Gegenstand des Revisionsverfahrens ist die Feststellung von Schwerarbeitszeiten (§ 247 Abs 2 ASVG) des ***** 1956 geborenen Klägers im Zeitraum von 1. 1. 1997 bis 30. 4. 2018 gemäß § 1 Abs 1 Z 4 Schwerarbeitsverordnung, BGBl II 2006/104. Als Schwerarbeit gelten danach alle Tätigkeiten, die als schwere körperliche Arbeit geleistet werden, die dann vorliegt, wenn bei einer achtstündigen Arbeitszeit von Männern mindestens 8.374 Arbeitskilojoule (2.000 Arbeitskilokalorien) und von Frauen mindestens 5.862 Arbeitskilojoule (1.400 Arbeitskilokalorien) verbraucht werden.

Im Beobachtungszeitraum der letzten 240 Kalendermonate, in denen mindestens 120 Schwerarbeitsmonate vorliegen müssen (§ 4 Abs 3 Z 1 APG; hier von 1. 9. 1996 bis 31. 8. 2016) war der Kläger bis zum 31. 12. 1996 bei einer Bau GmbH als Vorarbeiter und ab 1. 1. 1997 als Polier beschäftigt. Als Polier hatte der Kläger fünf bis acht Baustellen mit 40 bis 80 Mitarbeitern zu betreuen. Diese Tätigkeit nahm täglich zwei Stunden in Anspruch. Weiters führte der Kläger drei Stunden täglich Transportarbeiten aus, bei denen auch schwere Materialien auf- und abzuladen waren. Während täglich dreier weiterer Stunden legte der Kläger Fahrten mit dem Kfz zurück. Dabei telefonierte er auch, um Probleme rasch abzuklären, Bestellungen vorzunehmen oder Fragen zu beantworten. Schließlich hatte der Kläger vier Stunden täglich Trockenausbauarbeiten durchzuführen.

Der Kläger erbrachte im Zeitraum von 1. 1. 1997 bis 30. 4. 2018 an mindestens 15 Arbeitstagen pro Monat Arbeitszeiten von 12 Stunden pro Tag. Im Rahmen des zwölfstündigen Arbeitstags verbrauchte der Kläger durch seine Tätigkeit als Polier einen Arbeitsenergieumsatz von 10.629,60 Arbeitskilojoule. Abzüglich der nichtproduktiven Zeiten von 10 % der Tagesarbeitszeit ergibt sich eine Belastung von 9.566,65 Arbeitskilojoule. Bei einem achtstündigen Arbeitstag hätte der Kläger den Wert von 8.374 Arbeitskilojoule bei kongruenter Aufteilung der Tätigkeiten nicht erreicht.

Die beklagte Pensionsversicherungsanstalt lehnte die Anerkennung von Schwerarbeitszeiten des Klägers im Zeitraum 1. 5. 1996 bis 30. 4. 2018 mit Bescheid vom 27. 6. 2018 ab.

Das Erstgericht stellte fest, dass es sich bei den vom Kläger im Zeitraum von 1. 1. 1997 bis 30. 4. 2018 erworbenen Versicherungsmonaten um Schwerarbeitszeiten im gesetzlichen Sinn handelt. Das Mehrbegehren auf Feststellung weiterer Schwerarbeitszeiten von 1. 5. 1996 bis 31. 12. 1996 wies es unangefochten ab.

Das Berufungsgericht gab der gegen den klagestattgebenden Teil des Urteils des Erstgerichts erhobenen Berufung der Beklagten nicht Folge.

In ihrer gegen das Urteil des Berufungsgerichts erhobenen außerordentlichen Revision macht die Beklagte als erhebliche Rechtsfrage geltend, dass sich die bisherige Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs vor dem Hintergrund der Entscheidung 10 ObS 89/18p nicht aufrecht erhalten lasse. Werde gefordert, dass bei Vorliegen von zwei oder mehreren Tätigkeiten gemäß § 1 Abs 1 Z 4 SchwerarbeitsV jede ausgeübte Tätigkeit für sich allein eine besonders belastende Berufstätigkeit sein müsse, könne nur der Grenzwert des achtstündigen Arbeitstags und der Dauerbelastungsgrenze von mindestens 8.374 Arbeitskilojoule herangezogen werden. Auch bei Ausübung bloß einer Tätigkeit liege Schwerarbeit nur dann vor, wenn bei Männern mindestens 8.374 Arbeitskilojoule binnen einer achtstündigen Arbeitszeit verbraucht werden. Eine andere Vorgehensweise würde dazu führen, an inhaltlich Gleiches (nämlich: „Tätigkeit“) ungleiche Rechtsfolgen zu knüpfen. Der Verordnungsgeber gehe vom physikalischen Grundsatz „Leistung = Arbeit : Zeit“ aus. Man dürfe daher nicht Arbeit mit Arbeit vergleichen, sondern müsse Arbeit in Relation zu einer Zeiteinheit, nämlich dem Arbeitskilojouleverbrauch pro Stunde setzen.

Rechtliche Beurteilung

Die beklagte Partei zeigt damit keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung auf:

1. Die Vorinstanzen haben bei ihren Entscheidungen die Rechtsprechung beachtet, wonach die Angabe von acht Stunden in § 1 Abs 1 Z 4 SchwerarbeitsV lediglich einen Richtwert zur Berechnung der Arbeitskilojoule pro Arbeitstag darstellt. Die Versicherten können nachweisen, dass sie täglich aufgrund längerer Arbeitszeiten oder aufgrund der besonderen Schwere der Tätigkeit auch bei kürzeren Arbeitszeiten den geforderten Arbeitskilojouleverbrauch erreichen (RS0129750; RS0129751).

2. Der Oberste Gerichtshof hat bereits in der Leitentscheidung 10 ObS 95/14i (SSV-NF 28/52) ausgeführt, dass § 1 Abs 1 Z 4 SchwerarbeitsV iVm mit § 3 SchwerarbeitsV und der Anlage zur SchwerarbeitsV von einer Tagesbetrachtung ausgeht (siehe Pletzenauer, Entscheidungsanmerkung zu 10 ObS 95/14i, DRdA-infas 2015/93, 96; Rainer/Pöltner in SV-Komm [166. Lfg] § 4 APG Rz 157). Es kommt daher auf das Erreichen oder Überschreiten der Arbeitskilojoulegrenze pro Tag an. Eine verhältnismäßige „Einkürzung“ einer tatsächlich längeren täglichen Arbeitszeit auf einen achtstündigen Arbeitstag – und damit die Streichung von Zeiten mit beruflicher, körperlicher Belastung – war nicht intendiert (RS0129750 [T2]). Ein Arbeitnehmer, der täglich aufgrund längerer Arbeitszeiten den geforderten Arbeitskilojouleverbrauch erreicht, soll nicht schlechter gestellt werden als ein Arbeitnehmer, der diese Grenze bei einem achtstündigen Arbeitstag erreicht (10 ObS 4/15h SSV-NF 29/9). Dass – ungeachtet der abstrakten Vorgaben, die von einer Durchschnittsbetrachtung ausgehen – im Einzelfall der Beweis eines darüber hinausgehenden Kalorienverbrauchs zulässig ist, entspricht auch der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs (VfGH G 20/11 ua; 10 ObS 88/18s SSV-NF 32/66). Eine Veranlassung, von dieser Rechtsprechung abzugehen, zeigt die Revisionswerberin mit ihrer Forderung, den Arbeitsenergieumsatz bezogen auf eine Arbeitsstunde zu messen, im Hinblick auf den maßgeblichen Text der SchwerarbeitsV und der Anlage zu ihrem § 3 nicht auf.

3. An dieser Rechtsprechung hält auch die von der Revisionswerberin zitierte Entscheidung 10 ObS 89/18p SSV-NF 32/73 fest (s dort Pkt 2.3). Der Sachverhalt jener Entscheidung ist – worauf das Berufungsgericht hingewiesen hat – mit dem vorliegenden Fall nicht vergleichbar, weil der damalige Kläger – anders als der Kläger im vorliegenden Fall – mehrere (unselbständige und selbständige) Erwerbstätigkeiten ausübte. Daher war im damaligen Fall – anders als im vorliegenden – die Frage zu beurteilen, ob auch mehrere (selbständige und unselbständige) Tätigkeiten nach § 1 Abs 1 SchwerarbeitsV Schwerarbeitsmonate begründen können (vgl die in 10 ObS 89/18p SSV-NF 32/73, Pkt 3.2 genannten Beispiele). Der Umstand, dass auch bei der Ausübung mehrerer unterschiedlicher Tätigkeiten nach § 1 Abs 1 SchwerarbeitsV, von denen zumindest eine § 1 Abs 1 Z 4 SchwerarbeitsV unterliegt, der Mindestgrenzwert nach dieser Bestimmung maßgeblich ist, hat keineswegs den von der Revisionswerberin (gestützt auf Heckenast, Körperliche Schwerarbeit bei überschneidender Ausübung mehrerer Tätigkeiten, Entscheidungsanmerkung zu 10 ObS 89/18p, ZAS 2019/50, 281) gezogenen Schluss zur Folge, dass auch bei Ausübung bloß einer Tätigkeit Schwerarbeit „nur dann“ vorliege, wenn bei Männern 2.000 Arbeitskilokalorien (8.374 Arbeitskilojoule) binnen einer achtstündigen Arbeitszeit verbraucht werden. Vielmehr stellt die Angabe von acht Stunden in § 1 Abs 1 Z 4 SchwerarbeitsV auch bei Ausübung mehrerer Tätigkeiten nach § 1 Abs 1 SchwerarbeitsV lediglich einen Richtwert dar. Auch in diesem Fall können die Versicherten nachweisen, dass sie täglich aufgrund längerer Arbeitszeiten, oder aufgrund der besonderen Schwere der Tätigkeit auch bei kürzeren Arbeitszeiten den geforderten Arbeitskilojouleverbrauch erzielen (dieser Nachweis ist dem Kläger im Verfahren 10 ObS 89/18p SSV-NF 32/73 allein in Bezug auf seine unselbständige Erwerbstätigkeit als Bäcker bei einem siebenstündigen Arbeitstag jedoch nicht gelungen).

4. Mangels Vorliegens einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO ist die außerordentliche Revision zurückzuweisen.

Textnummer

E128294

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2020:010OBS00151.19G.0416.000

Im RIS seit

17.06.2020

Zuletzt aktualisiert am

20.01.2022
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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