TE OGH 2020/6/9 22Bs78/20m

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Veröffentlicht am 09.06.2020
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Das Oberlandesgericht Wien hat durch den Senatspräsidenten Dr. Levnaic-Iwanski als Vorsitzenden sowie die Richter Mag. Hahn und Mag. Gruber als weitere Senatsmitglieder in der Rechtshilfesache gegen Hubert G***** wegen Vollstreckung einer Europäischen Ermittlungsanordnung über die Beschwerde der Staatsanwaltschaft Wien gegen den Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 9. März 2020, GZ 354 HR 314/19d-12, nichtöffentlich den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Beschwerde wird Folge gegeben, der angefochtene Beschluss aufgehoben und dem Erstgericht die erneute Entscheidung über den Antrag der Staatsanwaltschaft Wien auf gerichtliche Bewilligung der Anordnung der Vollstreckung der Europäischen Ermittlungsanordnung des Finanzamts München aufgetragen.

Text

Begründung:

Mit dem angefochtenen Beschluss, der auf einer Europäischen Ermittlungsanordnung (EEA) des Finanzamts München vom 10. Februar 2020, AZ 144/472/S/16/103308, gründet, wies die Einzelrichterin des Landesgerichts für Strafsachen Wien den Antrag der Staatsanwaltschaft Wien auf gerichtliche Bewilligung der Anordnung der Vollstreckung dieser EEA ab, weil es sich bei einem Finanzbeamten nicht um einen (Ermittlungs-)Richter oder einen Staatsanwalt und somit um keine Anordnungsbehörde im Sinne des Artikel 2 lit c Unterpunkt i RL EEA handle. Vielmehr wären die zuständigen Justizbehörden abschließend aufgezählt. Dass in einem Anordnungsstaat nach dem nationalen Recht andere Behörden (hier: Finanzämter) selbständig tätig werden und Rechte und Pflichten wahrnehmen können, die der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren zustehen, führte nicht dazu, dass diese im Kontext der RL EEA als Justizbehörden anzusehen wären. Andere Behörden wären in Artikel 2 Unterpunkt ii geregelt, wobei diese die EEA von einem Richter, Gericht, Ermittlungsrichter oder Staatsanwalt validieren lassen müssen, was vorliegendenfalls unterlassen worden wäre. Die Voraussetzungen nach § 55 Abs 3 EU-JZG wären somit nicht erfüllt.

Dagegen richtet sich die fristgerechte Beschwerde der Staatsanwaltschaft Wien, wonach infolge Erklärung zu Artikel 33 Abs 1 Buchstaben a und b RL EEA Ersuchen von deutschen Finanzbehörden, die ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren nach § 386 Abs 2 der deutschen Abgabenordnung eigenständig führen, keiner Bestätigung durch eine Justizbehörde oder ein Gericht bedürfen, weil diese vielmehr die Rechte und Pflichten einer Staatsanwaltschaft wahrnehmen und somit selbst als justizielle Behörde im Sinne von Artikel 2 Buchstabe c RL EEA handeln. Diese Erklärung basiere auf nationalen Bestimmungen der Bundesrepublik Deutschland, sei sohin im Sinne des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung zu berücksichtigen und der akutellen Beurteilung zugrundezulegen. Die ausführende Behörde habe sich bei der Prüfung, ob es sich bei der ausstellenden bzw. validierenden Behörde um die zuständige Behörde handle, gewöhnlich auf das gegenseitige Vertrauen zu verlassen. Die Voraussetzungen nach § 55 Abs 3 EU-JZG lägen daher vor (ON 13).

Rechtliche Beurteilung

Das Rechtsmittel ist berechtigt.

Gemäß § 55 Abs 1 EU-JZG ist eine EEA eines anderen Mitgliedstaats außer Dänemark oder Irland nach den Bestimmungen des Ersten Unterabschnitts des Ersten Abschnitts des IV. Hauptstücks des angeführten Gesetzes zu vollstrecken, es sei denn, es liegt ein Unzulässigkeitsgrund nach § 55a leg.cit. vor.

Diese Bestimmung regelt - taxativ - die Unzulässigkeit der Vollstreckung einer EEA. Nach - hier interessierend - § 55a Abs 1 Z 9 EU-JZG ist die Vollstreckung einer EEA unzulässig, wenn die Voraussetzungen des § 55 Abs 3 - vorbehaltlich des § 55d Abs 2 Z 1 - nicht gegeben sind. § 55 Abs 3 leg.cit. sieht die Vollstreckung einer EEA in jenen Fällen, in denen das Verfahren im Ausstellungsstaat nicht von einer Justizbehörde geführt wird, dann vor, wenn gegen die Entscheidung der ausstellenden Behörde ein Gericht angerufen werden kann und die Ermittlungsanordnung von einer Justizbehörde des Ausstellungsstaats genehmigt wurde.

Artikel 2 lit c RL EEA bezeichnet als „Anordnungsbehörde“ einen Richter, ein Gericht, einen Ermittlungsrichter oder einen Staatsanwalt, der/das in dem betreffenden Fall (i), oder jede andere vom Anordnungsstaat bezeichnete zuständige Behörde, die in dem betreffenden Fall in ihrer Eigenschaft als Ermittlungsbehörde in einem Strafverfahren nach nationalem Recht für die Anordnung der Erhebung von Beweismitteln zuständig ist. Zudem wird die EEA vor ihrer Übermittlung an die Vollstreckungsbehörde von einem Richter, einem Gericht, einem Ermittlungsrichter oder einem Staatsanwalt im Anordnungsstaat validiert, nachdem dieser bzw. dieses überprüft hat, ob die Voraussetzungen für den Erlass einer EEA nach dieser Richtlinie, insbesondere die Voraussetzungen des Artikel 6 Abs 1, eingehalten sind. Ist die EEA von einer Justizbehörde validiert worden, so kann auch diese Behörde als Anordnungsbehörde für die Zwecke der Übermittlung einer EEA betrachtet werden (ii).

Gemäß Artikel 33 Abs 1 lit a RL EEA teilt jeder Mitgliedstaat der Kommission bis 22. Mai 2017 die Behörde oder die Behörden mit, die gemäß seinem nationalen Recht gemäß Artikel 2 Buchstaben c und d zuständig ist bzw. sind, wenn dieser Mitgliedstaat Anordnungsstaat oder Vollstreckungsstaat ist.

Am 14. März 2017 wurde von der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der Europäischen Union der Europäischen Kommission in Umsetzung der Richtlinie 2014/41/EU bekanntgegeben, dass Ersuchen von deutschen Finanzbehörden, die ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren nach § 386 Abs 2 der deutschen Abgabenordnung (AO) eigenständig führen, keiner Bestätigung durch eine Justizbehörde oder ein Gericht bedürfen. Die Finanzbehörden nehmen in diesem Fall gemäß § 399 Abs 1 AO iVm § 77 Abs 1 IRG die Rechte und Pflichten einer Staatsanwaltschaft wahr und handeln somit selbst als justizielle Behörde im Sinne von Artikel 2 Buchstabe c der RL EEA (abrufbar unter https://www.ejn-crimjust.europa.eu/ejn; vgl. auch S 39 in ON 11).

Der Ansicht der Erstrichterin zuwider handelt es sich damit nicht bloß um eine innerstaatliche Bestimmung in Deutschland, sondern agieren im Anwendungsbereich der RL EEA deutsche Finanzämter in Verfahren nach der deutschen Abgabenordnung mit staatsanwaltschaftlichen Rechten und Pflichten und werden somit selbst als justizielle Behörde tätig.

Mit Blick darauf, dass bereits die ausstellende Justizbehörde die Einhaltung der für die Erlassung der EEA erforderlichen Voraussetzungen zu überprüfen hat (vgl. für das Regime des Europäischen Haftbefehls EuGH 27. Mai 2019, verbundene Rechtssachen C-508/18 und C-82/19 PPU), und der Argumentation der Beschwerdeführerin folgend, sind die Voraussetzungen nach § 55 Abs 3 EU-JZG deswegen erfüllt, weil es sich im Sinne der oben zitierten Erklärung bei deutschen Finanzbehörden um Justizbehörden im Sinne des Artikel 2 Buchstabe c der RL EEA handelt und diese sohin „Anordnungsbehörden“ im Sinne der Richtlinie sind.

Der Beschwerde war daher Folge zu geben, der angefochtene Beschluss aufzuheben und dem Erstgericht gemäß § 89 Abs 2a Z 4 StPO die erneute Entscheidung über die begehrte Anordnung aufzutragen. Diesbezüglich wird auch die Teilabtretung gemäß § 55c Abs 1 EU-JZG betreffend der ***** Bank R***** (vgl. S 1 in ON 1) entsprechend zu berücksichtigen sein.

Textnummer

EW0001027

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OLG0009:2020:0220BS00078.20M.0609.000

Im RIS seit

16.06.2020

Zuletzt aktualisiert am

16.06.2020
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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