Entscheidungsdatum
20.11.2019Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z5Spruch
W279 2108172-2/8E
W279 2108172-3/4E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. KOREN als Einzelrichter über die Beschwerden von XXXX , geboren am XXXX .1996, StA. Afghanistan, vertreten durch Verein Menschenrechte Österreich, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX .09.2018, Zl. XXXX , zu Recht:
I. Beschwerde vom XXXX .10.2018 gegen den Bescheid vom XXXX .09.2018, Zl. XXXX (BVwG W279 2108172-2):
A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
II. Beschwerde vom XXXX .08.2019 gegen den Bescheid vom XXXX .07.2019, Zl. XXXX (BVwG W279 2108172-3):
A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF), ein männlicher Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am XXXX .07.2012 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) vom XXXX .04.2015 wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 AsylG hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG wurde ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum XXXX .04.2016 erteilt.
Begründend wurde ausgeführt, dass die Behörde im konkreten Fall von einer realen Gefahr einer Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgegangen sei, da der BF zum Entscheidungszeitpunkt weder über familiäre Anknüpfungspunkte noch über ein sonstiges soziales Netz im Heimatland verfüge und somit nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit auszuschließen sei, dass seine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in sein Herkunftsland eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK; Art. 3 EMRK oder Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für den BF als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts mit sich bringen könnte.
3. Gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides erhob der Beschwerdeführer am XXXX .05.2015 fristgerecht Beschwerde.
4. Am XXXX .02.2016 brachte der BF einen Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltsberechtigung beim BFA ein.
5. Mit Bescheid des BFA vom XXXX .04.2016 wurde dem BF befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum XXXX .04.2018 erteilt.
6. Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom XXXX .11.2017 wurde der BF wegen §§ 142 Abs. 1, 143 Abs. 1, 2. Fall und 83 StGB, zu einer Freiheitsstrafe im Ausmaß von drei Jahren verurteilt.
Der BF und ein anderer hätten im bewussten und gewollten Zusammenwirken als Mittäter durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben und unter Verwendung von Waffen, einem anderen, fremde bewegliche Sachen, mit dem Vorsatz sich oder einen Dritten durch deren Zueignung unrechtmäßig zu bereichern, abgenötigt und zwar indem der BF das Opfer unter Vorhalt eines Messers und der andere Mittäter durch die Androhung das Opfer mit einer Gürtelschnalle zu schlagen, zur Übergabe von Bargeld aufgefordert habe, wobei das Opfer den Tätern zunächst nur Münzen im Wert von EUR 4,- übergeben habe, woraufhin der BF und sein Mittäter die Übergabe der Geldbörse des Opfers gefordert und aus dieser Bargeld in Höhe von EUR 30,- entnommen hätten.
Der BF habe am gleichen Tag einen anderen am Körper verletzt, indem er ihm mit der Faust einen Schlag ins Gesicht versetzt habe, wodurch dieser eine offene Wunde an der Lippe erlitten habe. Bei der Strafzumessung wurde das Zusammentreffen von einem Verbrechen und einem Vergehen sowie die Tatbegehung gemeinsam mit einem Jugendlichen als erschwerend gewertet worden. Mildernd ausgewirkt habe sich der bisher ordentliche Lebenswandel und die teilweise geständige Verantwortung bezüglich der Körperverletzung.
7. Am XXXX .02.2018 - am XXXX .02.2018 beim BFA eingelangt - sowie am XXXX .02.2018, brachte der BF Anträge auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung beim BFA ein.
8. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 19.02.2018, W124 2108172-1/28E, wurde die Beschwerde vom XXXX .05.2015 gemäß § 3 Abs. 1 AsylG als unbegründet abgewiesen.
9. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom XXXX .09.2018 erkannte das Bundesamt dem Beschwerdeführer den Status des subsidiär Schutzberechtigten gem. § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG von Amts wegen ab (Spruchpunkt I.) und entzog ihm gem. § 9 Abs. 4 AsylG die mit Bescheid des Bundesamtes vom XXXX .04.2016 erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 4 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) sowie festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt V.). Dem Beschwerdeführer wurden als Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage eingeräumt (Spruchpunkt VI.). Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 Fremdenpolizeigesetz, BGBl. I Nr. 100/2005 (FPG) wurde ein auf 10 Jahre befristetes Einreiseverbot gegen den BF erlassen (Spruchpunkt VII.).
Begründend wurde ausgeführt, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiär Schutzberechtigten und die Verlängerung der Aufenthaltsberechtigung nicht mehr vorliegen würden. Mit Bescheid des BFA vom XXXX .04.2015 sei dem BF der subsidiäre Schutz und die befristete Aufenthaltsbewilligung aufgrund seines Gesundheitszustandes in Verbindung mit einem fehlenden familiären und sozialen Netz gewährt worden. Die Verlängerung der Aufenthaltsberechtigung für subsidiär Schutzberechtigte mit Bescheid vom XXXX .04.2016 sei vor dem Hintergrund erfolgt, dass es zu keiner Änderung der Umstände in Bezug auf die erste Entscheidung vom XXXX .04.2015 gekommen sei. Im Zuge der Einvernahme vom XXXX .05.2018 und XXXX .08.2018 habe sich ergeben, dass er gesund sei und über ein soziales Netz in Afghanistan verfüge. Er habe in seiner Einvernahme angegeben, dass er mittlerweile gesund sei, keine Medikamente nehme und sich seit einigen Monaten in keiner medizinischen Behandlung mehr befinde. Seine Verlobte und deren Mutter würden derzeit in Kabul leben. Sein Bruder halte sich ebenfalls in Afghanistan auf. Die Sicherheitslage sei keine solche, dass die Rückkehr per se nicht möglich sei. Eine Rückkehr in seine Heimatprovinz sei möglich und zumutbar. Der BF sei weder aufgrund seines Berufes oder seiner Position als besonders gefährdet anzusehen noch habe er konkrete Angaben vorgebracht, dass er sich überwiegend in Gegenden aufhalte, wo vermehrt Anschläge verzeichnet werden würden. Es sei dem BF daher eine Rückkehr in die afghanische Hauptstadt Kabul zumutbar. Es könne nicht festgestellt werden, dass der BF im Falle einer Rückkehr in die Stadt Kabul in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation geraten könnte. Der BF sei in Österreich rechtskräftig wegen eines Verbrechens zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von drei Jahren verurteilt worden. Das vom ihm begangene Delikt begründe ein schweres Verbrechen nach dem Strafgesetzbuch. Die Straftat des bewaffneten Raubes richte sich gegen objektiv besonders wichtige Rechtsgüter und stelle demgemäß typischerweise ein besonders schweres Verbrechen dar. Es dürfe verdeutlicht werden, dass sich dem Verbrechen des BF ein weiteres strafrechtliches zu ahndendes Vergehen gefolgt ist und sich daher eindeutig gesteigerte kriminelle Energie erkennen lasse. Weiters werde seine Zukunftsprognose als negativ eingestuft, da er ein Verbrechen begangen habe und auch nicht davor zurückgeschreckt habe, das Opfer mit einem Messer zu bedrohen. Die negative Zukunftsprognose ergebe sich aus der vom BF begangenen Straftat, welche sich massiv gegen objektiv besonders wichtige Rechtsgüter gerichtet habe. Aufgrund der Schwere des Fehlverhaltens sei unter Bedachtnahme auf sein Gesamtverhalten, das heißt im Hinblick darauf, wie er sein Leben in Österreich insgesamt gestalte, davon auszugehen, dass er eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstelle, gerechtfertigt sei. Die Gesamtbeurteilung seines Verhaltens, seiner Lebensumstände sowie seiner familiären und privaten Anknüpfungspunkte habe daher im Zuge der von der Behörde vorgenommenen Abwägungsentscheidung ergeben, dass die Erlassung eines Einreiseverbotes in der Dauer von 10 Jahren gerechtfertigt und notwendig sei, die vom BF ausgehende schwerwiegende Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit zu verhindern.
10. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde und brachte im Wesentlichen vor, dass die Sicherheitslage in Afghanistan nach wie vor höchst volatil sei. Dazu hätten insbesondere die sich intensivierenden Zusammenstöße zwischen Taliban und afghanischen Sicherheitskräften beigetragen. Beim BF handle es sich um einen arbeitsfähigen Mann, doch verfüge er nur über eine geringe Schulbildung. Es wäre bei einer Rückkehr nach Afghanistan auf sich alleine gestellt und gezwungen, nach Wohnraum zu suchen. Der BF würde angesichts der fehlenden Unterstützung und der prekären wirtschaftlichen Lage für Rückkehrer im Lichte der hohen Anzahl von Rückkehrern aus dem Iran und Pakistan bei einer Rückkehr nach Afghanistan Gefahr laufen, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation geraten. Zusammengefasst sei festzuhalten, dass für den BF aufgrund seiner persönlichen Umstände sowie der allgemeinen Rahmenbedingungen vor Ort bei einer Rückkehr nach Afghanistan die reale Gefahr existenzbedrohender Verhältnisse und somit eine Verletzung des Art. 3 EMRK bestehe. Verfahrensgegenständlich habe es das BFA unterlassen, den entscheidungswesentlichen Sachverhalt in dem im Spruch dargelegten Ausmaß zu ermitteln. Aus dem Bescheid sei nicht ersichtlich, dass sich die Behörde überhaupt mit der Gefährdungslage im Herkunftsort des BF auseinandergesetzt habe. So würden sich die rechtlichen Ausführungen zu Spruchpunkt I des angefochtenen Bescheides im Wesentlichen auf allgemeine Länderinformationen beschränken. Im Rahmen der Gefährlichkeitsprognose sei nur auf gesetzliche Bestimmungen verwiesen worden, ohne auf sein Vorbringen einzugehen oder weitere Beweise aufzunehmen. Beantragt wurde die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.
11. Das BFA erließ am XXXX .07.2019 den zweiten angefochtenen Bescheid, Zl. XXXX , mit dem der Antrag des BF auf Verlängerung seiner befristeten Aufenthaltsberechtigung unter Verweis auf die erfolgte Aberkennung abgewiesen wurde.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers und einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:
Der oben dargestellte Verfahrensgang wird als entscheidungsrelevanter Sachverhalt festgestellt.
Der nunmehr volljährige BF ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Tadschiken an, bekennt sich zum muslimisch-sunnitischen Glauben und spricht Farsi sowie Dari als Muttersprache.
Der BF wurde in Kabul geboren und ist in der Provinz Parwan aufgewachsen. Die Eltern des BF sind bereits verstorben, einer seiner Brüder ist im Iran aufhältig und der Aufenthaltsort seines anderen Bruders ist unbekannt. Die Verlobte des BF, die er im Rahmen eines Aufenthaltes im Iran 2015 geehelicht hat, lebt mit ihrer Mutter in Kabul und er steht mit diesen in telefonischen Kontakt.
Der Beschwerdeführer ist Analphabet und war in Afghanistan als Feldarbeiter tätig.
Der Beschwerdeführer befindet sich aufgrund seiner nunmehrigen familiären Anknüpfungspunkte in Form seiner Verlobten in Afghanistan sowie seines gebesserten Gesundheitszustandes aktuell persönlich nicht mehr in der gleichen (gleich vulnerablen) Lage wie zum Zeitpunkt der Zuerkennung von subsidiärem Schutz und der Erteilung einer befristeten Aufenthaltsberechtigung. Zudem verfügt der Beschwerdeführer über einen Bruder im Iran, der ihn nunmehr (zumindest anfänglich) unterstützen könnte.
Bei einer "Rückkehr" nach Afghanistan und einer Ansiedelung in der Stadt Kabul, Herat oder Mazar e- Sharif kann der Beschwerdeführer grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.
Es ist dem Beschwerdeführer daher möglich nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Ansiedelung in der Stadt Kabul, Herat oder Mazar e-Sharif Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.
1.2. Zum (Privat- und Familien) Leben des Beschwerdeführers in Österreich:
Nach seiner Einreise in das Bundesgebiet unter Umgehung der Grenzkontrollen war der Beschwerdeführer zunächst seit Juli 2012 als Asylwerber und seit April 2015 als subsidiär Schutzberechtigter im Bundesgebiet mit einer zuletzt bis XXXX .04.2018 befristeten Aufenthaltsberechtigung aufhältig.
Der Beschwerdeführer hat bereits Deutschkurse besucht und ist seit dem XXXX .09.2018 als Küchenhilfe für das Bundesministerium für Verfassung, Reformen, Deregulierung und Justiz tätig.
Der Beschwerdeführer verfügt weder über Verwandte noch über sonstige enge soziale Bindungen in Österreich.
Der Beschwerdeführer wurde mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom XXXX .11.2017 wegen §§ 142 Abs. 1, 143 Abs. 1, 2. Fall und 83 StGB, zu einer Freiheitsstrafe im Ausmaß von drei Jahren verurteilt.
Der Beschwerdeführer leidet an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohenden Erkrankungen. Der Beschwerdeführer befand sich aufgrund einer leichten Anpassungsstörung mit depressiver Reaktion in psychotherapeutischer Behandlung. Nunmehr befindet sich der Beschwerdeführer jedoch nicht mehr in psychotherapeutischer Behandlung und nimmt auch keine Medikamente mehr ein. Der Beschwerdeführer ist arbeitsfähig.
1.3. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
NEUESTE EREIGNISSE - INTEGRIERTE KURZINFORMATIONEN
KI vom 22.08.2018, Angriffe des Islamischen Staates (IS) in Kabul und Paktia und Aktivitäten der Taliban in Ghazni, Baghlan, Faryab und Kunduz zwischen 22.7.2018 und 20.8.2018; (relevant für Abschnitt 3/ Sicherheitslage
Entführung auf der Takhar-Kunduz-Autobahn 20.8.2018
Am 20.8.2018 entführten die Taliban 170 Passagiere dreier Busse, die über die Takhar-Kunduz-Autobahn auf der Reise nach Kabul waren (Tolonews 20.8.2018; vgl. IFQ 20.8.2018). Quellen zufolge wurden die Entführten in das Dorf Nikpe der Provinz Kunduz gebracht, wo es zu Kämpfen zwischen den afghanischen Sicherheitskräften und den Aufständischen kam. Es wurden insgesamt 149 Personen freigelassen, während sich die restlichen 21 weiterhin in der Gewalt der Taliban befinden (IFQ 20.8.2018). Grund für die Entführung war die Suche nach Mitgliedern der afghanischen Sicherheitskräfte bzw. Beamten (IFQ 20.8.2018; vgl. BBC 20.8.2018). Die Entführung erfolgte nach dem von Präsident Ashraf Ghani angekündigten Waffenstillstand, der vom 20.8.2018 bis 19.11.2018 gehen sollte und jedoch von den Taliban zurückgewiesen wurde (Reuters 20.8.2018; vgl. Tolonews 19.8.2018).
IS-Angriff auf die Mawoud Akademie in Kabul 15.8.2018
Ein Selbstmordattentäter sprengte sich am Nachmittag des 15.8.2018 in einem privaten Bildungszentrum im Kabuler Distrikt Dasht-e Barchi, dessen Bewohner mehrheitlich Schiiten sind, in die Luft (NZZ 16.8.2018; vgl. BBC 15.8.2018, Repubblica 15.8.2018). Die Detonation hatte 34 Tote und 56 Verletzte zur Folge (Reuters 16.8.2018a; vgl. NZZ 16.8.2018, Repubblica 15.8.2018). Die Mehrheit der Opfer waren Studentinnen und Studenten, die sich an der Mawoud Akademie für die Universitätsaufnahmeprüfungen vorbereiteten (Reuters 16.8.2018b; vgl. RFE/RL 17.8.2018). Der Islamische Staat (IS) bekannte sich zum Vorfall (RFE/RL 17.8.2018; vgl. Reuters 16.8.2018b).
Kämpfe in den Provinzen Ghazni, Baghlan und Faryab
Am Donnerstag, dem 9.8.2018, starteten die Taliban eine Offensive zur Eroberung der Hauptstadt Ghaznis, einer strategisch bedeutenden Provinz, die sich auf der Achse Kabul-Kandahar befindet (Repubblica 13.8.2018; vgl. ANSA 13.8.2018, CBS 14.8.2018). Nach fünftägigen Zusammenstößen zwischen den afghanischen Sicherheitskräften und den Aufständischen konnten letztere zurückgedrängt werden (AB 15.8.2018; vgl. Xinhua 15.8.2018). Während der Kämpfe kamen ca. 100 Mitglieder der Sicherheitskräfte ums Leben und eine unbekannte Anzahl Zivilisten und Taliban (DS 13.8.2018; vgl. ANSA 13.8.2018).
Am 15.8.2018 verübten die Taliban einen Angriff auf einen Militärposten in der nördlichen Provinz Baghlan, wobei ca. 40 Sicherheitskräfte getötet wurden (AJ 15.8.2018; vgl. Repubblica 15.8.2018, BZ 15.8.2018).
Auch im Distrikt Ghormach der Provinz Faryab wurde gekämpft: Die Taliban griffen zwischen 12.8.2018 und 13.8.2018 einen Stützpunkt des afghanischen Militärs, bekannt als Camp Chinaya, an und töteten ca. 17 Mitglieder der Sicherheitskräfte (ANSA 14.8.2018; vgl. CBS 14.8.2018, Tolonews 12.8.2018). Quellen zufolge kapitulierten die Sicherheitskräfte nach dreitägigen Kämpfen und ergaben sich den Aufständischen (CBS 14.8.2018; vgl. ANSA 14.8.2018).
IS-Angriff auf schiitische Moschee in Gardez-Stadt in Paktia 3.8.2018
Am Freitag, dem 3.8.2018, kamen bei einem Selbstmordanschlag innerhalb der schiitischen Moschee Khawaja Hassan in Gardez-Stadt in der Provinz Paktia, 39 Personen ums Leben und weitere 80 wurden verletzt (SI 4.8.2018; vgl. Reuters 3.8.2018, FAZ 3.8.2018). Der Islamische Staat (IS) bekannte sich zum Anschlag (SI 4.8.2018).
IS-Angriff vor dem Flughafen in Kabul 22.7.2018
Am Sonntag, dem 22.7.2018, fand ein Selbstmordanschlag vor dem Haupteingangstor des Kabuler Flughafens statt. Der Attentäter sprengte sich in die Luft, kurz nachdem der afghanische Vizepräsident Rashid Dostum von einem einjährigen Aufenthalt in der Türkei nach Afghanistan zurückgekehrt und mit seinem Konvoi vom Flughafen abgefahren war (AJ 23.7.2018; vgl. Reuters 23.7.2018). Es kamen ca. 23 Personen ums Leben und 107 wurden verletzt (ZO 15.8.2018; vgl. France24). Der Islamische Staat (IS) reklamierte den Anschlag für sich (AJ 23.7.2018; vgl. Reuters 23.7.2018).
Quellen:
AB - Al Bawaba (15.8.2018): Dozens of Afghan Soldiers Killed in Ghazni Clashes With Taliban,
https://www.albawaba.com/news/dozens-afghan-soldiers-killed-ghazni-clashes-taliban-1174140, Zugriff 21.8.2018
AJ - Al Jazeera (15.8.2018): Afghanistan: Dozens of security forces killed in Taliban attack,
https://www.aljazeera.com/news/2018/08/afghanistan-dozens-security-forces-killed-taliban-attack-180815065025633.html, Zugriff 21.8.2018
AJ - Al Jazeera (23.7.2018): Several dead in Kabul suicide blast as exiled VP Dostum returns,
https://www.aljazeera.com/news/2018/07/blast-heard-kabul-airport-exiled-vp-dostrum-returns-180722123819595.html, Zugriff 20.8.2018
ANSA - Agenzia Nazionale Stampa Associata (14.8.2018): Afghanistan:
talebani conquistano base militare a nord, http://www.ansa.it/sito/notizie/mondo/2018/08/13/afghanistan-a-ghazni-120-morti_43fcec43-30d1-433b-abe3-4bb6abe7dd32.html, Zugriff 21.8.2018
ANSA - Agenzia Nazionale Stampa Associata (13.8.2018): Afghanistan:
a Ghazni 120 morti,
http://www.ansa.it/sito/notizie/mondo/asia/2018/08/13/afghanistan-a-ghazni-120-morti_695579f5-407b-4e4f-8814-afcd60397435.html, Zugriff 21.8.2018
BBC - British Broadcasting Corporation (20.8.2018): Afghan Taliban kidnap dozens of bus passengers near Kunduz, https://www.bbc.com/news/world-asia-45244339, Zugriff 21.8.2018
BBC - British Broadcasting Corporation (15.8.2018): Kabul suicide bomber kills 48 in tuition centre attack, https://www.bbc.com/news/world-asia-45199904, Zugriff 20.8.2018
BZ - Berliner Zeitung (15.8.2018): Erneute Attacken Mindestens 40 Tote bei Taliban-Angriffen in Afghanistan, https://www.berliner-zeitung.de/politik/erneute-attacken-mindestens-40-tote-bei-taliban-angriffen-in-afghanistan-31111842, Zugriff 21.8.2018
CBS - CBS News (14.8.2018): Taliban overruns Afghan base, killing 17 soldiers,
https://www.cbsnews.com/news/afghanistan-base-overrun-taliban-faryab-afghan-troops-killed-ghazni-fight/, Zugriff 21.8.2018
DS - Der Standard (13.8.2018): Taliban töten mindestens 100 Sicherheitskräfte in afghanischer Stadt Ghazni, https://derstandard.at/2000085221814/Dutzende-Tote-bei-Gefechten-um-ostafghanische-Stadt-Ghazni, Zugriff 21.8.2018
FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung (3.8.2018): Totei bei Angriff auf Schiiten-Moschee,
http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/afghanistan-tote-bei-angriff-auf-schiiten-moschee-15721269.html, Zugriff 21.8.2018
France 24 (24.7.2018): Multiple explosions rock Afghan capital Kabul,
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IFQ - Il Fatto Quotidiano (20.8.2018): Afghanistan, i Talebani rapiscono 170 persone in viaggio su tre autobus nel nord del paese, https://www.ilfattoquotidiano.it/2018/08/20/afghanistan-i-talebani-rapiscono-170-persone-in-viaggio-su-tre-autobus-nel-nord-del-paese/4569588/, Zugriff 21.8.2018
NZZ - Neue Zürcher Zeitung (16.8.2018): Bewaffnete greifen Geheimdienst-Einrichtung in Kabul an, https://www.nzz.ch/international/dutzende-tote-bei-selbstmordanschlag-in-kabul-ld.1411834, Zugriff 20.8.2018
Repubblica (15.8.2018): Caos Afghanistan: kamikaze a Kabul tra i giovani diplomati, 34 studenti uccisi, http://www.repubblica.it/esteri/2018/08/15/news/afghanista_i_talebani_attaccano_una_base_militare_44_morti-204161975/, Zugriff 20.8.2018
Repubblica (13.8.2018): Afghanistan, Ghazni sotto assedio da quattro giorni,
http://www.repubblica.it/esteri/2018/08/13/news/afghanistan_ghazni_sotto_assedio_da_quattro_giorni-204035288/, Zugriff 21.8.2018
Reuters (20.8.2018): Taliban reject Afghan ceasefire, kidnap nearly 200 bus passengers,
https://www.reuters.com/article/us-afghanistan-attack/taliban-reject-afghan-ceasefire-kidnap-nearly-200-bus-passengers-idUSKCN1L50GZ, Zugriff 22.8.2018
Reuters (16.8.2018a): Death toll in suicide attack on Afghan students revised down to 34,
https://www.reuters.com/article/us-afghanistan-attack/death-toll-in-suicide-attack-on-afghan-students-revised-down-to-34-idUSKBN1L10FD, Zugriff 20.8.2018
Reuters (16.8.2018b): Afghan school hit as militants seek soft targets,
https://www.reuters.com/article/us-afghanistan-attack-schools/afghan-schools-hit-as-militants-seek-soft-targets-idUSKBN1L10XI, Zugriff 20.8.2018
Reuters (3.8.2018): Suicide bomb attack on Afghan Shi'ite mosque kills 39, 80 injured,
https://www.reuters.com/article/us-afghanistan-attack/suicide-bomb-attack-on-afghan-shiite-mosque-kills-39-80-injured-idUSKBN1KO1DF, Zugriff 21.8.2018
Reuters (23.7.2018): Afghanischer Vizepräsident entgeht knapp einem Anschlag,
https://de.reuters.com/article/afghanistan-dostum-idDEKBN1KD0GD, Zugriff 20.8.2018
RFE/RL - Radio Free Europe/Radio Liberty (17.8.2018): 'Goodbye, Dad': Father Remembers Afghan Twins Killed In Kabul Bombing, https://www.rferl.org/a/goodbye-dad-father-remembers-afghan-twins-killed-in-kabul-bombing/29439516.html, Zugriff 20.8.2018
SI - Sicurezza Internazionale (4.8.2018): Afghanistan: attentato Isis moschea schiita, 39 morti e 80 feriti, http://sicurezzainternazionale.luiss.it/2018/08/04/afghanistan-attentato-moschea-sciita-39-morti-80-feriti/, Zugriff 21.8.2018
Tolonews (20.8.2018): 3 Passenger Buses Seized On Takhar-Kunduz Highway,
https://www.tolonews.com/afghanistan/3-passenger-buses-seized-takhar-kunduz-highway, Zugriff 21.8.2018
Tolonews (19.8.2018): Ghani Announces Conditional Ceasefire, https://www.tolonews.com/afghanistan/ghani-announces-conditional-ceasefire, Zugriff 22.8.2018
Tolonews (12.8.2018): 17 Soldiers Killed in Faryab Army Base Attack, https://www.tolonews.com/afghanistan/17-soldiers-killed-faryab%C2%A0army-base-attack, Zugriff 21.8.2018
Xinhua - Xinhuanet (15.8.2018): Life returns normal in Ghazni city as Afghan forces drive out militants, http://www.xinhuanet.com/english/2018-08/15/c_137392677_2.htm, Zugriff 21.8.2018
ZO - Zeit Online(15.8.2018): Viele Tote und Verletzte bei Anschlag in Kabul,
https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-08/afghanistan-anschlag-kabul-tote, Zugriff 20.8.2018
1. POLITISCHE LAGE
Nach dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001 wurde eine neue Verfassung ausgearbeitet und im Jahr 2004 angenommen (BFA Staatendokumentation 7.2016; vgl. Casolino 2011). Sie basiert auf der Verfassung aus dem Jahr 1964. Bei der Ratifizierung sah diese Verfassung vor, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA Staatendokumentation 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015).
Nach den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2014 einigten sich die beiden Kandidaten Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah Mitte 2014 auf eine Regierung der Nationalen Einheit (RNE) (AM 2015; vgl. DW 30.9.2014). Mit dem RNE-Abkommen vom 21.9.2014 wurde neben dem Amt des Präsidenten der Posten des CEO (Chief Executive Officer) eingeführt, dessen Befugnisse jenen eines Premierministers entsprechen. Über die genaue Gestalt und Institutionalisierung des Postens des CEO muss noch eine loya jirga [Anm.: größte nationale Versammlung zur Klärung von wichtigen politischen bzw. verfassungsrelevanten Fragen] entscheiden (AAN 13.2.2015; vgl. AAN o. D.), doch die Einberufung einer loya jirga hängt von der Abhaltung von Wahlen ab (CRS 13.12.2017).
Die afghanische Innenpolitik war daraufhin von langwierigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Regierungslagern unter Führung von Präsident Ashraf Ghani und dem Regierungsvorsitzenden (Chief Executive Officer, CEO) Abdullah Abdullah geprägt. Kurz vor dem Warschauer NATO-Gipfel im Juli 2016 wurden schließlich alle Ministerämter besetzt (AA 9.2016).
Parlament und Parlamentswahlen
Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus dem Unterhaus, auch wolesi jirga, "Kammer des Volkes", genannt, und dem Oberhaus, meshrano jirga auch "Ältestenrat" oder "Senat" genannt. Das Unterhaus hat 250 Sitze, die sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen verteilen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz im Unterhaus reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 20.4.2018, USDOS 15.8.2017, CRS 13.12.2017, Casolino 2011). Die Mitglieder des Unterhauses haben ein Mandat von fünf Jahren (Casolino 2011). Die verfassungsmäßigen Quoten gewährleisten einen Frauenanteil von ca. 25% im Unterhaus (AAN 22.1.2017).
Das Oberhaus umfasst 102 Sitze (IPU 27.2.2018). Zwei Drittel von diesen werden von den gewählten Provinzräten vergeben. Das verbleibende Drittel, wovon 50% mit Frauen besetzt werden müssen, vergibt der Präsident selbst. Zwei der vom Präsidenten zu vergebenden Sitze sind verfassungsgemäß für die Kutschi-Minderheit und zwei weitere für behinderte Personen bestimmt. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 20.4.2018; vgl. USDOS 15.8.2017).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist. Zugleich nutzt das Parlament seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z. T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die RNE als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leider die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 5.2018).
Die für Oktober 2016 angekündigten Parlamentswahlen konnten wegen ausstehender Wahlrechtsreformen nicht am geplanten Termin abgehalten werden. Daher bleibt das bestehende Parlament weiterhin im Amt (AA 9.2016; vgl. CRS 12.1.2017). Im September 2016 wurde das neue Wahlgesetz verabschiedet und Anfang April 2018 wurde von der unabhängigen Wahlkommission (IEC) der 20. Oktober 2018 als neuer Wahltermin festgelegt. Gleichzeitig sollen auch die Distriktwahlen stattfinden (AAN 12.4.2018; vgl. AAN 22.1.2017, AAN 18.12.2016).
Parteien
Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 15.8.2017). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (AE o. D.). Der Terminus "Partei" umfasst gegenwärtig eine Reihe von Organisationen mit sehr unterschiedlichen organisatorischen und politischen Hintergründen. Trotzdem existieren Ähnlichkeiten in ihrer Arbeitsweise. Einer Anzahl von ihnen war es möglich, die Exekutive und Legislative der Regierung zu beeinflussen (USIP 3.2015).
Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen jedoch mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren, denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien. Ethnischer Proporz, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen genießen traditionell mehr Einfluss als politische Organisationen. Die Schwäche des sich noch entwickelnden Parteiensystems ist auf strukturelle Elemente (wie z.B. das Fehlen eines Parteienfinanzierungsgesetzes) zurückzuführen sowie auf eine allgemeine Skepsis der Bevölkerung und der Medien. Reformversuche sind im Gange, werden aber durch die unterschiedlichen Interessenlagen immer wieder gestört, etwa durch das Unterhaus selbst (AA 9.2016). Ein hoher Grad an Fragmentierung sowie eine Ausrichtung auf Führungspersönlichkeiten sind charakteristische Merkmale der afghanischen Parteienlandschaft (AAN 6.5.2018).
Mit Stand Mai 2018 waren 74 Parteien beim Justizministerium (MoJ) registriert (AAN 6.5.2018).
Parteienlandschaft und Opposition
Nach zweijährigen Verhandlungen unterzeichneten im September 2016 Vertreter der afghanischen Regierung und der Hezb-e Islami ein Abkommen (CRS 12.1.2017), das letzterer Immunität für "vergangene politische und militärische" Taten zusichert. Dafür verpflichtete sich die Gruppe, alle militärischen Aktivitäten einzustellen (DW 29.9.2016). Das Abkommen beinhaltete unter anderem die Möglichkeit eines Regierungspostens für den historischen Anführer der Hezb-e-Islami, Gulbuddin Hekmatyar; auch soll sich die afghanische Regierung bemühen, internationale Sanktionen gegen Hekmatyar aufheben zu lassen (CRS 12.1.2017). Tatsächlich wurde dieser im Februar 2017 von der Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates gestrichen (AAN 3.5.2017). Am 4.5.2017 kehrte Hekmatyar nach Kabul zurück (AAN 4.5.2017). Die Rückkehr Hekmatyars führte u.a. zu parteiinternen Spannungen, da nicht alle Fraktionen innerhalb der Hezb-e Islami mit der aus dem Friedensabkommen von 2016 erwachsenen Verpflichtung sich unter Hekmatyars Führung wiederzuvereinigen, einverstanden sind (AAN 25.11.2017; vgl. Tolonews 19.12.2017, AAN 6.5.2018). Der innerparteiliche Konflikt dauert weiter an (Tolonews 14.3.2018).
Ende Juni 2017 gründeten Vertreter der Jamiat-e Islami-Partei unter Salahuddin Rabbani und Atta Muhammad Noor, der Jombesh-e Melli-ye Islami-Partei unter Abdul Rashid Dostum und der Hezb-e Wahdat-e Mardom-Partei unter Mardom Muhammad Mohaqeq die semi-oppositionelle "Coalition for the Salvation of Afghanistan", auch "Ankara Coalition" genannt. Diese Koalition besteht aus drei großen politischen Parteien mit starker ethnischer Unterstützung (jeweils Tadschiken, Usbeken und Hazara) (AB 18.11.2017; vgl. AAN 6.5.2018).
Unterstützer des weiterhin politisch tätigen ehemaligen Präsidenten Hamid Karzai gründeten im Oktober 2017 eine neue politische Bewegung, die Mehwar-e Mardom-e Afghanistan (The People's Axis of Afghanistan), unter der inoffiziellen Führung von Rahmatullah Nabil, des ehemaligen Chefs des afghanischen Geheimdienstes (NDS). Später distanzierten sich die Mitglieder der Bewegung von den politischen Ansichten Hamid Karzais (AAN 6.5.2018; vgl. AAN 11.10.2017).
Anwarul Haq Ahadi, der langjährige Anführer der Afghan Mellat, eine der ältesten Parteien Afghanistans, verbündete sich mit der ehemaligen Mujahedin-Partei Harakat-e Enqilab-e Eslami-e Afghanistan. Gemeinsam nehmen diese beiden Parteien am New National Front of Afghanistan teil (NNF), eine der kritischsten Oppositionsgruppierungen in Afghanistan (AAN 6.5.2018; vgl. AB 29.5.2017).
Eine weitere Oppositionspartei ist die Hezb-e Kongara-ya Melli-ye Afghanistan (The National Congress Party of Afghanistan) unter der Führung von Abdul Latif Pedram (AB 15.1.2016; vgl. AB 29.5.2017).
Auch wurde die linksorientierte Hezb-e-Watan-Partei (The Fatherland Party) wieder ins Leben gerufen, mit der Absicht, ein wichtiges Segment der ehemaligen linken Kräfte in Afghanistan zusammenzubringen (AAN 6.5.2018; vgl. AAN 21.8.2017).
Friedens- und Versöhnungsprozess
Am 28. Februar 2018 machte Afghanistans Präsident Ashraf Ghani den Taliban ein Friedensangebot (NYT 11.3.2018; vgl. TS 28.2.2018). Die Annahme des Angebots durch die Taliban würde, so Ghani, diesen verschiedene Garantien gewähren, wie eine Amnestie, die Anerkennung der Taliban-Bewegung als politische Partei, eine Abänderung der Verfassung und die Aufhebung der Sanktionen gegen ihre Anführer (TD 7.3.2018). Quellen zufolge wird die Annahme bzw. Ablehnung des Angebots derzeit in den Rängen der Taliban diskutiert (Tolonews 16.4.2018; vgl. Tolonews 11.4.2018). Anfang 2018 fanden zwei Friedenskonferenzen zur Sicherheitslage in Afghanistan statt: die zweite Runde des Kabuler Prozesses [Anm.: von der afghanischen Regierung ins Leben gerufene Friedenskonferenz mit internationaler Beteiligung] und die Friedenskonferenz in Taschkent (TD 24.3.2018; vgl. TD 7.3.2018, NZZ 28.2.2018). Anfang April rief Staatspräsident Ghani die Taliban dazu auf, sich für die Parlamentswahlen im Oktober 2018 als politische Gruppierung registrieren zu lassen, was von diesen jedoch abgelehnt wurde (Tolonews 16.4.2018). Ende April 2018 kam es in diesem Zusammenhang zu Angriffen regierungsfeindlicher Gruppierungen (hauptsächlich des IS, aber auch der Taliban) auf mit der Wahlregistrierung betraute Behörden in verschiedenen Provinzen (vgl. Kapitel 3. "Sicherheitslage").
Am 19.5.2018 erklärten die Taliban, sie würden keine Mitglieder afghanischer Sicherheitskräfte mehr angreifen, wenn diese ihre Truppen verlassen würden, und gewährten ihnen somit eine "Amnestie". In ihrer Stellungnahme erklärten die Aufständischen, dass das Ziel ihrer Frühlingsoffensive Amerika und ihre Alliierten seien (AJ 19.5.2018).
Am 7.6.2018 verkündete Präsident Ashraf Ghani einen Waffenstillstand mit den Taliban für den Zeitraum 12.6.2018 - 20.6.2018. Die Erklärung erfolgte, nachdem sich am 4.6.2018 über 2.000 Religionsgelehrte aus ganz Afghanistan in Kabul versammelt hatten und eine Fatwa zur Beendigung der Gewalt aussprachen (Tolonews 7.6.2018; vgl. Reuters 7.6.2018, RFL/RL 5.6.2018). Durch die Fatwa wurden Selbstmordanschläge für ungesetzlich (nach islamischem Recht, Anm.) erklärt und die Taliban dazu aufgerufen, den Friedensprozess zu unterstützen (Reuters 5.6.2018). Die Taliban selbst gingen am 9.6.2018 auf das Angebot ein und erklärten einen Waffenstillstand von drei Tagen (die ersten drei Tage des Eid-Fests, Anm.). Der Waffenstillstand würde sich jedoch nicht auf die ausländischen Sicherheitskräfte beziehen; auch würden sich die Taliban im Falle eines militärischen Angriffs verteidigen (HDN 10.6.2018; vgl. TH 10.6.2018, Tolonews 9.6.2018).
Quellen:
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