Entscheidungsdatum
10.01.2020Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W189 2126244-1/10E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Irene RIEPL als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Ukraine, vertreten durch ARGE Diakonie Flüchtlingsdienst, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 12.04.2016, Zl. 1096106410-160043893, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 03.12.2019, zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
Gemäß § 9 BFA-VG wird festgestellt, dass eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist, und gemäß §§ 54, 55 und 58 Abs. 1 AsylG 2005 wird XXXX der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung" für die Dauer von 12 Monaten erteilt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Die Beschwerdeführerin (in der Folge: BF), eine Staatsangehörige der Ukraine, stellte nach illegaler Einreise in das Bundesgebiet am 05.11.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz und wurde am 12.01.2016 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt. Zu den Fluchtgründen brachte sie vor, dass ihr Sohn in Russland entführt worden sei. Die BF habe in der Nähe der russischen Botschaft in Kiew eine Demonstration für die Rechte ihres Sohnes organisiert gehabt. Seitdem sei sie von der russischen und ukrainischen Regierung verfolgt worden. Niemand habe ihr geholfen, weshalb sie ihre Heimat verlassen habe. Im Falle einer Rückkehr in die Heimat befürchte die BF, auch entführt zu werden.
2. Am 10.03.2016 wurde die BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: BFA) niederschriftlich einvernommen. Die BF gab im Wesentlichen zu ihren Fluchtgründen an, dass ihr Sohn im Jahr 2010 in der Ukraine von der ukrainischen Polizei entführt und an eine Sondereinheit der russischen Polizei übergeben worden sei. Ein ukrainischer Anwalt habe der BF geraten, ihren Sohn in Tschetschenien zu suchen. In Tschetschenien habe ein Mann der BF gesagt, dass ihr Sohn als Geisel diene, um den Schwiegersohn der BF in der Türkei zu zwingen, "irgendetwas" zu machen. Die BF habe "überall hin" geschrieben und sei immer wieder nach Tschetschenien gefahren, um ihren Sohn zu suchen. Die ukrainische Polizei in Krasnodon habe der BF gesagt, dass ihr Sohn zu den "Freiheitskämpfern" gegangen sei und sie nicht behaupten dürfe, dass er entführt worden wäre. Anschließend sei die BF von zwei der Polizei angehörenden Männern geschlagen worden. Eine ukrainische Menschenrechtsorganisation habe die BF unterstützt, eine Demonstration vor der russischen Botschaft in Kiew durchzuführen. Auf Anraten von Freunden des Ehemannes der BF habe diese sodann das Land verlassen und sei 2013 zu ihrer Tochter nach Schweden gefahren. Nach dem Machtwechsel in der Ukraine im Jahr 2014 sei die BF zurückgekehrt. Da die BF noch schlimmere Probleme bekommen habe, habe sie sich zur Flucht entschieden. Ihr Schwiegersohn sei ein Regierungsvertreter von Maskhadov in der Türkei gewesen. Er habe in Schweden Asyl bekommen.
Im Rahmen der Einvernahme legte die BF einen Arztbefund und eine sowjetische Heiratsurkunde mitsamt Übersetzung vor.
3. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des BFA vom 12.04.2016 wurde der Antrag auf internationalen Schutz der BF bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und des Status der subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde nicht erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass die Abschiebung in die Ukraine zulässig sei (Spruchpunkt III.). Die Frist zur freiwilligen Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt IV.).
Folgende Feststellungen wurden im Wesentlichen dem Bescheid zugrunde gelegt: Die Identität der BF stehe nicht fest. Sie sei am 05.11.2015 illegal in das Bundesgebiet eingereist. Sie sei ukrainische Staatsangehörige, muslimischen Glaubens und der tschetschenischen Volksgruppe zugehörig. Die BF sei niemals politisch in führender Position tätig gewesen. Sie sei verheiratet und habe zwei Kinder. Eine physische oder psychische Erkrankung bzw. eine notwendige und in der Ukraine nicht durchführbare medizinische Behandlung könne nicht festgestellt werden.
In der Beweiswürdigung betreffend die Feststellungen zu den Gründen für das Verlassen des Herkunftslandes wurde im Wesentlichen angeführt, dass das Vorbringen der BF nicht glaubhaft sei und sich aus ihren Angaben massive Widersprüchlichkeiten und Ungereimtheiten ergeben würden.
Der rechtlichen Beurteilung ist im Wesentlichen zu entnehmen, dass sich bei Berücksichtigung sämtlicher Tatsachen keine Hinweise auf das Vorliegen eines Sachverhaltes, der zu einer Zuerkennung des Status des Asylberechtigten oder subsidiär Schutzberechtigten führen könnte, vorliegen. Ebenso bestehen keine Gründe für die Unzulässigkeit der Rückkehrentscheidung.
4. Mit Schriftsatz vom 10.05.2016 erhob die BF durch ihre Rechtsvertreterin binnen offener Frist das Rechtsmittel der Beschwerde und brachte im Wesentlichen vor, dass - aus dort näher angeführten Gründen - die belangte Behörde ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren geführt habe, da die herangezogenen Länderberichte unvollständig seien, weiters die Beweiswürdigung mangelhaft sei, und sich daraus schließlich die inhaltliche Rechtswidrigkeit des Bescheides ergebe.
Beantragt wurde die Einvernahme des ukrainischen Anwalts der Familie der BF als Zeugen.
5. Mit rechtskräftigem Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 11.02.2019, Zl. W189 2126246-1/6E, wurde das Asylverfahren des Ehemannes der BF aufgrund dessen Ablebens eingestellt.
6. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 03.12.2019 eine öffentliche, mündliche Verhandlung unter Beiziehung einer geeigneten Dolmetscherin für die Sprache Russisch durch, an welcher die BF und ihre Rechtsvertretung teilnahmen. Die BF wurde ausführlich zu ihrer Person und den Fluchtgründen befragt, und es wurde ihr Gelegenheit gegeben, die Fluchtgründe umfassend darzulegen sowie zu den im Rahmen der Verhandlung in das Verfahren eingeführten Länderberichten Stellung zu nehmen. Die BF legte ein Konvolut von ärztlichen Unterlagen (Beilage ./1), eine beglaubigte Übersetzung eines Schreibens der "Nordkaukasischen Gesellschaft für Russisch-Tschetschenische Freundschaft" (Beilage ./2), sowie ein Konvolut an Integrationsunterlagen vor (Beilage ./3).
7. Mit Schriftsatz vom 16.12.2019 brachte die BF eine Stellungnahme zu den durch das Bundesverwaltungsgericht vorgelegten Länderberichten sowie zum Privat- und Familienleben der BF ein.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen
1.1. Zur Person der BF
Die BF ist ukrainische Staatsangehörige, gehört der Volksgruppe der Tschetschenen an und ist muslimischen Glaubens. Die BF ist volljährig und im erwerbsfähigen Alter. Sie spricht Tschetschenisch und Russisch. Sie hat zehn Jahre die Grundschule und anschließend drei Jahre eine Handelsfachschule besucht. Die BF verfügt über geringe Deutschkenntnisse.
Die BF ist in XXXX , Distrikt XXXX , Kasachstan geboren, in Tschetschenien in die Schule gegangen und hat anschließend in Krasnodon, Distrikt Luhansk, Ukraine gelebt. Sie hat in Krasnodon als Verkäuferin gearbeitet. Ihr Ehemann ist im Jänner 2019 in Österreich verstorben. Ihre Tochter, ihr Schwiegersohn und deren Kinder leben in Wien. Der Aufenthalt ihres Sohnes kann nicht festgestellt werden. Ihre Schwiegertochter und deren Sohn sind als Asylwerber in Österreich aufhältig. Ihre Eltern sind verstorben. Ihre Geschwister leben nunmehr in der Russischen Föderation. Die BF hat weder Familie noch Verwandte in der Ukraine und es besteht auch sonst kein sozialer Kontakt in die Ukraine.
Die BF ist im November 2015 illegal in Österreich eingereist.
Die BF leidet an einer posttraumatischen Belastungsstörung, rezidivierenden depressiven Episoden, Spannungskopfschmerzen, Asthma, Cervikalsyndrom, Schilddrüsenunterfunktion und Bluthochdruck. Sie befindet sich in psychotherapeutischer bzw. psychiatrischer Behandlung.
Die BF ist strafrechtlich unbescholten.
1.2. Zum Fluchtvorbringen der BF
Die BF wurde in der Ukraine nicht von Polizisten geschlagen. Sie hat keine Drohanrufe von Unbekannten erhalten. Sie wurde nicht von Maskierten bedroht. Sie wurde nicht vom russischen Inlandsgeheimdienst (FSB) bedroht.
1.3. Zur maßgeblichen Situation in der Ukraine
1.3.1. Sicherheitslage - Ostukraine
In den von Separatisten kontrollierten Gebieten Donezk und Luhansk haben ukrainische Behörden und Amtsträger zurzeit keine Möglichkeit, ihre Befugnisse wahrzunehmen und staatliche Kontrolle auszuüben (AA - Auswärtiges Amt (22.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine).
In den nicht von der ukrainischen Regierung kontrollierten Teilen der Oblaste Donezk und Luhansk kam es insbesondere 2014/15 zu schwersten Menschenrechtsverletzungen. Obwohl die Separatisten seither die öffentliche Ordnung und eine soziale Grundversorgung im Wesentlichen wiederhergestellt haben, werden zahlreiche Grundrechte (v.a. Meinungs- und Religionsfreiheit, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Eigentumsrechte) weiterhin systematisch missachtet (AA 22.2.2019).
In den selbsternannten Volksrepubliken Donezk (DPR) und Luhansk (LPR) gibt es seit 2014 keine unabhängige Justiz, und das Recht auf ein faires Verfahren wird systematisch eingeschränkt. Es werden Inhaftierungen auf unbestimmte Zeit ohne gerichtliche Überprüfung und ohne Anklage oder Gerichtsverfahren berichtet. Bei Verdacht auf Spionage oder Verbindungen zur ukrainischen Regierung werden von Militärgerichten geheime Gerichtsverfahren abgehalten, gegen deren Urteile es nahezu keine Beschwerdemöglichkeit gibt und die Berichten zufolge lediglich dazu dienen, bei der Verfolgung von Personen einen Anschein von Legalität zu wahren. Willkürliche Verhaftung sind in der DPR und der LPR weit verbreitet. In der LPR wurde die Möglichkeit der Präventivhaft für 30 bis 60 Tage geschaffen. Die Präventivhaft wird Angehörigen nicht mitgeteilt (incommunicado) und kein Kontakt zu einem Rechtsbeistand und Verwandten zugelassen. Der Zustand der Hafteinrichtungen in den separatistisch kontrollierten Gebieten verschlechtert sich weiter. Berichten zufolge existiert in den Gebieten Donezk und Luhansk in Kellern, Abwasserschächten, Garagen und Industrieunternehmen ein umfangreiches Netz inoffizieller Haftstätten, die meist nicht einmal für eine kurzfristige Inhaftierung geeignet wären. Es gibt Berichte über schweren Mangel an Nahrungsmitteln, Wasser, Hitze, sanitären Einrichtungen und angemessener medizinischer Versorgung. Ein unabhängiges Monitoring der Haftbedingungen wird von den Machthabern nicht oder nur eingeschränkt erlaubt. Es gibt Berichte über systematische Übergriffe gegen Gefangene, wie Folter, Hunger, Verweigerung der medizinischen Versorgung und Einzelhaft sowie den umfangreichen Einsatz von Gefangenen als Zwangsarbeiter zur persönlichen Bereicherung der separatistischen Anführer (USDOS - US Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 - Ukraine).
Es gibt es eine massive Zerstörung von zivilem Eigentum und Infrastruktur in den Konfliktgebieten. Auch Schulen und medizinische Einrichtungen waren und bleiben weiterhin betroffen. Zuweilen ist vielerorts die Strom- und Wasserversorgung unterbrochen oder nur zeitweise gesichert, ohne die im Winter auch nicht geheizt werden kann. Aufgrund der fehlenden Rechtsstaatlichkeit in den Separatistengebieten sind dort Frauen besonders gefährdet. Es gibt Berichte über Missbrauch, Sexsklaverei und Menschenhandel (ÖB - Österreichische Botschaften (2.2019): Asylländerbericht Ukraine).
Die separatistischen Kräfte erlauben keine humanitäre Hilfe der ukrainischen Regierung, sondern nur solche internationaler humanitärer Organisationen. Infolgedessen sind die Preise für Grundnahrungsmittel angeblich für viele Bewohner der nicht von der Regierung kontrollierten Gebiete der Ostukraine zu hoch. Menschenrechtsgruppen berichten auch über einen ausgeprägten Mangel an Medikamenten, Kohle und medizinischen Hilfsgütern. Es kommen weiterhin Konvois der russischen "humanitären Hilfe" an, die nach Ansicht der ukrainischen Regierungsbeamten aber Waffen und Lieferungen für die separatistischen Streitkräfte enthalten (USDOS 13.3.2019).
Durch die Kontaktlinie, welche die Konfliktparteien trennt, wird das Recht auf Bewegungsfreiheit beschnitten und Gemeinden getrennt. Jeden Tag warten bis zu 30.000 Menschen stundenlang unter erschwerten Bedingungen an den fünf Checkpoints auf das Überqueren der Kontaktlinie. Unzureichend beschilderte Minen entlang der Straßen stellen eine Gefahr für die Wartenden dar (ÖB 2.2019; vgl. PCU - Protection Cluster Ukraine (3.2019): Mine Action in Ukraine). Es gibt nur unzureichende sanitäre Einrichtungen, speziell auf separatistischer Seite (HRW - Human Rights Watch (17.1.2019): World Report 2019 - Ukraine).
1.3.2. Rechtsschutz / Justizwesen
Die ukrainische Verfassung sieht eine unabhängige Justiz vor, die Gerichte sind aber trotz Reformmaßnahmen der Regierung weiterhin ineffizient und anfällig für politischen Druck und Korruption. Das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Justiz ist gering. Trotz der Bemühungen um eine Reform der Justiz und der Generalstaatsanwaltschaft ist Korruption bei Richtern und Staatsanwälten weiterhin ein Problem. Einige Richter behaupteten Druckausübung durch hochrangige Politiker. Einige Richter und Staatsanwälte erhielten Berichten zufolge Bestechungsgelder. Andere Faktoren, welche das Recht auf ein faires Verfahren behindern, sind langwierige Gerichtsverfahren, insbesondere bei Verwaltungsgerichten, unterfinanzierte Gerichte und mangelnde Möglichkeiten Urteile durchzusetzen (USDO 13.3.2019).
Die ukrainische Justizreform trat im September 2016 in Kraft, der langjährige Prozess der Implementierung der Reform dauert weiter an. Bereits 2014 startete ein umfangreicher Erneuerungsprozess mit der Annahme eines Lustrationsgesetzes, das u.a. die Entlassung aller Gerichtspräsidenten sowie die Erneuerung der Selbstverwaltungsorgane der Richterschaft vorsah. Eine im Februar 2015 angenommenen Gesetzesänderung zur "Sicherstellung des Rechtes auf ein faires Verfahren" sieht auch eine Erneuerung der gesamten Richterschaft anhand einer individuellen qualitativen Überprüfung ("re-attestation") aller Richter vor, die jedoch von der Zivilgesellschaft als teils unzureichend kritisiert wurde. Bislang wurden laut Informationen von ukrainischen Zivilgesellschaftsvertretern rund 2.000 der insgesamt 8.000 in der Ukraine tätigen Richter diesem Prozess unterzogen, wobei rund 10% entweder von selbst zurücktraten oder bei der Prozedur durchfielen. Ein wesentliches Element der Justizreform ist auch der vollständig neu gegründete Oberste Gerichtshof, der am 15. Dezember 2017 seine Arbeit aufnahm. Allgemein ist der umfassende Erneuerungsprozess der Richterschaft jedoch weiterhin in Gange und schreitet nur langsam voran. Die daraus resultierende häufige Unterbesetzung der Gerichte führt teilweise zu Verfahrensverzögerungen. Von internationaler Seite wurde die Annahme der weitreichenden Justizreform weitgehend begrüßt (ÖB 2.2019).
2014 wurde auch eine umfassende Reform der Staatsanwaltschaft in Gang gesetzt. In erster Linie ging es dabei auch darum, das schwer angeschlagene Vertrauen in die Institution wieder herzustellen, weshalb ein großer Teil dieser Reform auch eine Erneuerung des Personals vorsieht. Im Juli 2015 begann die vierstufige Aufnahmeprozedur für neue Mitarbeiter. Durchgesetzt haben sich in erster Linie jedoch Kandidaten, die bereits in der Generalstaatsanwaltschaft Erfahrung gesammelt hatten. Weiters wurde der Generalstaatsanwaltschaft ihre Funktion als allgemeine Aufsichtsbehörde mit der Justizreform 2016 auf Verfassungsebene entzogen, was jedoch noch nicht einfach gesetzlich umgesetzt wurde. Jedenfalls wurde in einer ersten Phase die Struktur der Staatsanwaltschaft verschlankt, indem über 600 Bezirksstaatsanwaltschaften auf 178 reduziert wurden. 2017 wurde mit dem Staatsanwaltschaftsrat ("council of prosecutors") ein neues Selbstverwaltungsorgan der Staatsanwaltschaft geschaffen. Es gab bereits erste Disziplinarstrafen und Entlassungen, Untersuchungen gegen die Führungsebene der Staatsanwaltschaft wurden jedoch vorerst vermieden. Auch eine spezialisierte Antikorruptions-Staatsanwaltschaft wurde geschaffen. Diese Reformen wurden vor allem wegen der mangelnden personellen Erneuerung der Staatsanwaltschaft kritisiert. Auch erhöhte die Reform die Belastung der Ankläger, die im Durchschnitt rund je 100 Strafverfahren gleichzeitig bearbeiten, was zu einer Senkung der Effektivität der Institution beiträgt. Allgemein bleibt aber, trotz einer signifikanten Reduktion der Zahl der Staatsanwälte, diese im europäischen Vergleich enorm hoch, jedoch ineffizient auf die zentrale, regionale und lokale Ebene verteilt (ÖB 2.2019).
Die jüngsten Reforminitiativen bleiben hinter den Erwartungen zurück, werden aber fortgesetzt (FH - Freedom House (4.2.2019):
Freedom in the World 2019 - Ukraine).
1.3.3. Sicherheitsbehörden
Die Sicherheitsbehörden unterstehen generell effektiver ziviler Kontrolle. Die Sicherheitskräfte verhindern oder reagieren im Allgemeinen auf gesellschaftliche Gewalt. Zuweilen wenden sie jedoch selbst übermäßige Gewalt an, um Proteste aufzulösen, oder verabsäumen es in einzelnen Fällen, Opfer vor Belästigung oder Gewalt zu schützen (z.B. im Falle der Zerstörung eines Roma-Camps durch Nationalisten, gegen die die Polizei nicht einschritt). Der ukrainischen Regierung gelingt es meist nicht, Beamte, die Verfehlungen begangen haben, strafrechtlich zu verfolgen oder zu bestrafen (USDOS 13.3.2019).
Das sichtbarste Ergebnis der ukrainischen Polizeireform ist die Gründung der Nationalen Polizei nach europäischen Standards, mit starker Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, als von der Politik grundsätzlich unabhängiges Exekutivorgan, die im Juli 2015 in vorerst 32 Städten ihre Tätigkeit aufnahm. Mit November 2015 ersetzte die Nationale Polizei offiziell die bestehende und aufgrund von schweren Korruptionsproblemen in der Bevölkerung stark diskreditierte "Militsiya". Alle Mitglieder der Militsiya hatten grundsätzlich die Möglichkeit, in die neue Truppe aufgenommen zu werden, mussten hierfür jedoch einen "Re-Attestierungsprozess" samt umfangreichen Schulungsmaßnahmen und Integritätsprüfungen durchlaufen. Im Oktober 2016 verkündete die damalige Leiterin der Nationalen Polizei den erfolgreichen Abschluss dieses Prozesses, in dessen Zuge 26% der Polizeikommandanten im ganzen Land entlassen,
4.400 Polizisten befördert und im Gegenzug 4.400 herabgestuft wurden. Das Gesetz "Über die Nationalpolizei" sieht eine Gewaltenteilung zwischen dem Innenminister und dem Leiter der Nationalen Polizei vor. Der Innenminister ist ausschließlich für die staatliche Politik im Rechtswesen zuständig, der Leiter der Nationalen Polizei konkret für die Polizei. Dieses europäische Modell soll den Einfluss des Ministers auf die operative Arbeit der Polizei verringern. Festzustellen ist, dass der Innenminister in der Praxis immer noch die Arbeit der Polizei beeinflusst und die Reform somit noch nicht vollständig umgesetzt ist. Das im Juni 2017 gestartete Projekt "Detektive" - Schaffung polizeilicher Ermittler/Zusammenlegung der Funktionen von Ermittlern und operativen Polizeieinsatzkräften, spielt in den Reformen ebenfalls eine wichtige Rolle. Wie in westeuropäischen Staaten bereits seit langem praktiziert, soll damit ein- und derselbe Ermittler für die Erhebung einer Straftat, die Beweisaufnahme bis zur Vorlage an die Staatsanwaltschaft zuständig sein. Bislang sind in der Ukraine, wie zu Sowjetzeiten, immer noch die operative Polizei für die Beweisaufnahme und die Ermittler für die Einreichung bei Gericht zuständig (ÖB 2.2019).
Die Nationalpolizei muss sich mit einer, das Sicherheitsempfinden der Bevölkerung beeinträchtigenden Zunahme der Kriminalität infolge der schlechten Wirtschaftslage und des Konflikts im Osten, einer noch im alten Denken verhafteten Staatsanwaltschaft und der aus sozialistischen Zeiten überkommenen Rechtslage auseinandersetzen. Über Repressionen durch Dritte, für die der ukrainische Staat in dem von ihm kontrollierten Staatsgebiet mittelbar die Verantwortung trägt, indem er sie anregt, unterstützt oder hinnimmt, liegen keine Erkenntnisse vor (AA 22.2.2019).
1.3.4. Korruption
Die Gesetze sehen strafrechtliche Sanktionen für Korruption vor, aber die Behörden setzen diese nicht effektiv um, und viele Beamte sind ungestraft korrupt, weniger in der Regierung, aber auf allen Ebenen der Exekutive, Legislative und der Justizbehörden. Trotz Maßnahmen zur Bekämpfung der Korruption durch die Regierung, bleibt diese ein Problem für Bürger und Unternehmen. Im Juni 2018 unterzeichnete der Präsident das Gesetz über das Hohe Antikorruptionsgericht (HACC), was das System der staatlichen Stellen zur Bekämpfung der Korruption auf höchster Ebene vervollständigte (USDOS 13.3.2019). Im April 2019, kurz vor der Stichwahl um die Präsidentschaft, hat Präsident Poroschenko 38 Richter des neu gegründeten Antikorruptionsgerichts offiziell ernannt (RFE/RL - Radio Free Europe / Radio Liberty (11.4.2019):
Ukraine's President Creates Anti-Corruption Court).
Korruption ist nach wie vor ein ernstes Problem, und trotz des starken Drucks der Zivilgesellschaft ist der politische Wille gering, dagegen anzugehen. Antikorruptionsagenturen wurden wiederholt in politisch belastete Konflikte mit anderen staatlichen Stellen und gewählten Vertretern verwickelt (FH 4.2.2019).
Ein institutioneller Rahmen für die Bekämpfung der endemischen Korruption wurde geschaffen und durch ein System zur systematischen Offenlegung der Vermögens- und Einkommensverhältnisse von Staatsbediensteten ergänzt. Bei einem großen Teil der abgegebenen Erklärungen fehlt jedoch noch eine substanzielle Überprüfung durch die Korruptionspräventionsagentur (AA 22.2.2019).
Ende Feber 2019 hat das ukrainische Verfassungsgericht Artikel 368-2 des ukrainischen Strafgesetzbuches, welcher illegale Bereicherung durch ukrainische Amtsträger kriminalisierte, aufgehoben, weil er gegen die Unschuldsvermutung verstoßen habe. In der Folge musste NABU 65 anhängige Ermittlungen gegen Parlamentarier, Richter, Staatsanwälte und andere Beamte einstellen, die teilweise schon vor Gericht gekommen waren. Die EU zeigte sich über diese Entscheidung besorgt. Es wurden unmittelbar mehrere Gesetzesinitiativen registriert, um das Gesetz zu reparieren, die aber alle keine Aussicht hatten, vor der Präsidentenwahl beschlossen zu werden (Hi - Hromadske international (3.3.2019): You Can Now Get Rich Illegally in Ukraine. What Does This Mean?).
Der neue Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, hat sich vor allem den Kampf gegen die Korruption auf die Fahnen geschrieben (UA - Ukraine Analysen (27.2.2019): Präsidentschaftswahlen 2019).
1.3.5. Allgemeine Menschenrechtslage
Der Schutz der Menschenrechte durch die Verfassung ist gewährleistet. Die Möglichkeit von Nichtregierungsorganisationen (NGOs), sich im Bereich Menschenrechte zu betätigen, unterliegt keinen staatlichen Restriktionen (AA 22.2.2019).
1.3.6. Ethnische Minderheiten
Die Misshandlung von Angehörigen von Minderheitengruppen und die Belästigung von Ausländern mit nicht-slawischem Aussehen sind weiterhin ein Problem. NGOs zufolge haben fremdenfeindliche Vorfälle 2018 erheblich zugenommen. Für eine Anklage als Hassverbrechen (Straftaten, die aus ethnischem, nationalem oder religiösem Hass resultieren) ist der Nachweis eines Vorsatzes erforderlich, was es schwierig macht, dies in der Praxis anzuwenden. 2018 wurden auch nur zwei entsprechende Strafverfahren eröffnet. Polizei und Staatsanwaltschaft klagen solche Straftaten weiterhin eher als Hooliganismus oder verwandte Straftaten an (USDOS 13.3.2019).
1.3.7. Bewegungsfreiheit
Die Bewegungsfreiheit ist in der Ukraine generell nicht eingeschränkt; im Osten des Landes jedoch ist diese aufgrund der Kampfhandlungen faktisch eingeschränkt (FH 4.2.2019).
1.3.8. IDPs und Flüchtlinge
Die Zahl der vom ukrainischen Sozialministerium registrierten Binnenflüchtlinge (Internally Displaced Persons - IDPs) lag gemäß der neu errichteten IDP-Datenbank des ukrainischen Sozialministeriums am 22.4.2019 bei 1.370.000 Personen (UNHCR - Office of the United Nations High Commissioner for Refugees (4.2019): Operational Update). Diese erhalten (nur) durch die Registrierung Zugang zu Sozialleistungen. (AA 22.2.2019).
Die Regierung arbeitet mit UNHCR und anderen humanitären Organisationen zusammen, um Binnenvertriebenen Schutz und Unterstützung zu bieten. Laut Gesetz stehen IDPs monatlich UAH 880 (USD 33) für Kinder und Menschen mit Behinderungen und UAH 440 (USD 16) pro Monat für arbeitsfähige Personen zu; für Familien jedoch maximal UAH 2.400 (USD 89) monatlich. Laut Gesetz sollte die Regierung den Vertriebenen auch eine Unterkunft zur Verfügung stellen, was jedoch mangelhaft umgesetzt wird (IOM - International Organization for Migration (12.2018): National Monitoring System Report on the Situation of Internally Displaced Persons).
Im Oktober 2018 unterzeichnete der Präsident ein Gesetz, das die vorrangige Bereitstellung von Sozialwohnungen für Binnenvertriebene mit Behinderungen vorsieht. Wohnen, Beschäftigung und Empfang von Sozialleistungen und Renten sind weiterhin die größten Sorgen der Binnenvertriebenen. Für die Integration der IDPs fehlt eine Regierungsstrategie, was die Bereitstellung von Finanzmitteln behindert. Lokale Organisationen der Zivilgesellschaft und internationale humanitäre Organisationen leisten zeitweise den größten Teil der Hilfe für Binnenvertriebene, ihre Kapazitäten sind aber eingeschränkt. UN-Agenturen berichten, der Zustrom von Binnenvertriebenen habe im Rest des Landes zu Spannungen im Wettbewerb um die knappen Ressourcen (Wohnungen, Arbeitsplätze, Bildung) geführt. Insbesondere in den von der Regierung kontrollierten Gebieten der Oblaste Donezk und Luhansk haben IDPs oft ungenügenden Zugang zu sanitären Einrichtungen, Unterkünften und Trinkwasser. NGOs berichteten von Diskriminierung von IDPs bei der Arbeitssuche. IDPs haben nach wie vor Schwierigkeiten beim Zugang zu Bildung, medizinischer Versorgung und Dokumenten (USDOS 13.3.2019).
Das ukrainische Ministerkabinett hat im November 2018 den Aktionsplan zur Umsetzung der nationalen IDP-Strategie beschlossen, der jegliche Diskriminierung beseitigen und die sozialen Rechte der IDPs schützen soll (UNOCHA - UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (31.12.2018): Situation Report: Ukraine - 31 Dec 2018).
Im Dezember 2018 hatten 44% der befragten IDPs einen Arbeitsplatz; zum Vergleich lag in der ukrainischen Gesamtbevölkerung die Beschäftigungsquote bei 58%. IDPs hatten im Dezember 2018 durchschnittlich pro Kopf UAH 2.429 Einkommen; zum Vergleich lag dieses in der ukrainischen Gesamtbevölkerung bei UAH 4.382. 60% der IDP-Haushalte sind von einem Einkommen aus Arbeit abhängig, 51% von staatlicher IDP-Beihilfe, 34% von einer Pension und 25% von Sozialhilfe. 49% der IDPs leben in gemieteten Wohnungen, 10% in gemieteten Häusern, 4% in gemieteten Zimmern, 4% in Dormitorien und 3% in IDP-Unterbringungszentren. 14% leben bei Verwandten oder Gastgeberfamilien, 12% leben in eigenen Immobilien. 69% der IDPs leben seit drei Jahren an ihrem derzeitigen Aufenthaltsort, 28% wollen nach Ende des Konflikts zurückkehren, 34% schließen eine Rückkehr auch nach Ende des Konflikts aus. 50% waren seit der Binnenvertreibung in der Konfliktzone zu Besuch, meist um sich um Besitz zu kümmern oder Freunde/Verwandte zu besuchen. 5% wollen sich eine Arbeit im Ausland suchen. 50% sagen sie seien in der Gastgemeinde integriert, 34% meinen sie seien teilweise integriert. Am wichtigsten für die Integration erachten IDPs eine Unterkunft, regelmäßiges Einkommen und einen Arbeitsplatz. 12% der IDP-Haushalte waren seit Konfliktbeginn von einer Suspendierung von Sozialleistungen betroffen (meist wegen Abwesenheit während einer Überprüfung durch das Sozialamt oder wegen fehlender Erwerbstätigkeit). Meist betraf die Suspendierung die monatliche Wohnzulage oder eine Rente. 67% der Betroffenen waren sich über die Gründe der Suspendierung und 61% über das Prozedere für eine Wiederaufnahme der Zahlungen im Klaren. Durchschnittlich dauerten die Suspendierungen 5,6 Monate; wenn die Wiederaufnahme eingeklagt werden musste, dauerte dies durchschnittlich 8 Monate. 80% der IDPs fühlen sich an ihrem Aufenthaltsort sicher, 16% fühlen sich des Abends und in entlegenen Gegenden unsicher, 3% fürchten Kriegshandlungen und 5% fürchten Kriminalität (IOM 12.2018).
Im Dezember 2018 zeigten sich 68% der befragten IDPs sind zufrieden mit dem Zugang zu medizinischer Versorgung (IOM 12.2018). Im September 2018 frequentierten 71% der befragten IDPs öffentliche medizinische Einrichtungen. Von jenen IDPs die trotz gesundheitlicher Probleme keinen Arzt aufsuchten, sagten 48%, sie hätten dies aus Mangel an Geld nicht getan. 41% zeigten sich mit den Kosten medizinischer Leistungen unzufrieden, 58% mit den Kosten von Medikamenten. 43% bezeichneten Medikamente, die sie normalerweise benötigen, als unleistbar. 89% konnten binnen 30 Minuten zu Fuß eine Apotheke erreichen, 59% eine Ambulanz und 54% eine Klinik (IOM - International Organization for Migration (9.2018): National Monitoring System Report on the Situation of Internally Displaced Persons).
Pensionisten aus den von Separatisten kontrollierten Gebieten der Ostukraine müssen sich weiterhin in dem von der Regierung kontrollierten Gebiet als IDPs registrieren lassen und aufhalten, um Zugang zu ihren Renten zu erhalten. Die Vorschriften verbieten ihnen, mehr als 60 aufeinanderfolgende Tage in den Separatistengebieten zu verbringen, oder sie riskieren die Suspendierung ihrer Renten. Mittlerweile gibt es Gerichtsurteile gegen diese diskriminierenden Bestimmungen, die jedoch von der Regierung noch umzusetzen sind (HRW 17.1.2019; vgl. USDOS 13.3.2019).
Im August 2014 waren in den nicht von der Regierung kontrollierten Gebieten der Ostukraine (NGCA) 1.278.200 Rentner registriert. Nach Ausbruch des Konflikts mussten sie in die von der Regierung kontrollierten Gebiete (GCA) reisen und sich als IDPs registrieren lassen, wenn sie weiterhin eine ukrainische Pension beziehen wollten. 75% der Betroffenen in der NGCA taten dies. Viele behielten jedoch ihren Wohnsitz in der NGCA und pendelten regelmäßig über die Kontaktlinie hin und her. Die ukrainischen Behörden wussten das und akzeptierten es zunächst. Mitte 2016 begannen die ukrainischen Behörden den Aufenthalt der als IDPs registrierten Rentner in der GCA zu überprüfen. Es wurde ein Verifizierungsprozess geschaffen, der Besuche von Sozialarbeitern, Identitätsüberprüfung bei der Pensionsauszahlung auf der Bank und Datenaustausch mit Grenzwache und Geheimdienst zur Ermittlung der in der NGCA verbrachten Zeit enthielt. 2017 wurden plötzlich Rentenzahlungen an jene Pensionäre eingestellt, die in der GCA einen offiziellen Wohnsitz angemeldet und folglich ihre IDP-Zertifikate zurückgelegt hatten. Grund hierfür war eine Bestimmung, der zufolge bei einem Wohnsitzwechsel auch der Papierakt zum neu zuständigen Büro des Pensionsfonds migriert werden muss, was in jenen Fällen faktisch nicht möglich war. Von dieser Regelung sind nur Rentner mit IDP-Status ausgenommen. Der ukrainische Pensionsfonds suspendiert weiterhin die Pensionen von Empfängern, die verdächtigt werden sich permanent in der NGCA aufzuhalten. Von 123.500 Personen, die eine Wiederaufnahme der Zahlungen beantragt haben, wurde dem in 91.600 Fällen nachgekommen. Im April 2018 wurde festgelegt, dass bei der Wiederaufnahme der Zahlungen auch nicht ausbezahlte Beträge vom Fonds nachgezahlt werden müssen, hat aber verabsäumt dafür einen verwaltungstechnischen Ablauf vorzugeben, sodass dies in der Praxis nicht passiert. Im Juli 2018 erhielten 477.000 Rentner mit Meldeadresse in der NGCA weiterhin eine staatliche ukrainische Pension (UN - United Nations UKRAINE (7.2018a): Pensions for IDPs and persons living in the areas not controlled by the Government in the east of Ukraine).
Am 29. Januar 2019 wurden Änderungen mehrerer Beschlüsse präsentiert, welche die Zahlung von Sozialleistungen und Renten an IDPs regeln. In dem Entwurf wird vorgeschlagen, Renten vom Überprüfungsprozess hinsichtlich der Leistungen an Binnenvertriebene auszunehmen und dass Rentner, die ihren IDP-Status zurücklegen, weil sie einen offiziellen Wohnsitz in der GCA anmelden, ebenfalls von der günstigeren Regelung für IDP-Pensionäre profitieren sollen. Der Entwurf enthält aber auch problematische Bestimmungen, wie die Notwendigkeit für IDPPensionisten, ein Lichtbild für ihren Pensionsakt bereitzustellen, während andere Bürger dies nicht tun müssen. Außerdem dupliziert dies die physische Verifizierung (inklusive Foto), welche Oshchadbank als pensionsauszahlende Stelle vornehmen muss. Die Bank gibt hierzu eine Scheckkarte mit Foto des Inhabers aus. Der Entwurf enthält auch keinerlei Bestimmungen zum Informationsprozess für Rentner, denen die Pensionszahlungen suspendiert werden. Der Prozess der Wiederaufnahme der Pensionszahlungen ist langwierig und geht oftmals über die Gerichte (UNHCR - Office of the United Nations Commissioner for Refugees (2.2019): Legislative Update - February 2019).
Im Dezember 2018 gaben 5% der befragten IDPs in der Ukraine an, Opfer von Diskriminierung geworden zu sein (6% weniger als noch drei Monate zuvor). Die wahrgenommene Diskriminierung betrifft in den meisten Fällen die Unterbringung (31%), medizinische Versorgung (31%), das Berufsleben (30%) und Interaktion mit der lokalen Bevölkerung (26%). Die effektivsten Wege um Diskriminierung bekannt zu machen, sind für 46% der befragten Betroffenen die Medien, für 44% die lokalen Behörden für 40% die zentralen Regierungsbehörden, für 32% internationale Organisationen und für 30% NGOs (IOM 12.2018).
1.3.9. Grundversorgung
Die makroökonomische Lage stabilisiert sich nach schweren Krisenjahren auf niedrigem Niveau. Ungeachtet der durch den Konflikt in der Ostukraine hervorgerufenen, die Wirtschaftsentwicklung weiter erheblich beeinträchtigenden, Umstände, wurde 2018 ein Wirtschaftswachstum von geschätzten 3,4% erzielt; die Inflation lag bei rund 10%. Der gesetzliche Mindestlohn wurde zuletzt mehrfach erhöht und beträgt seit Jahresbeginn 4.173 UAH (ca. 130 EUR) (AA 22.2.2019).
Die Existenzbedingungen sind im Landesdurchschnitt knapp ausreichend. Die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln ist gesichert. Vor allem in ländlichen Gebieten stehen Strom, Gas und warmes Wasser zum Teil nicht immer ganztägig zur Verfügung. Die Situation gerade von auf staatliche Versorgung angewiesenen älteren Menschen, Kranken, Behinderten und Kindern bleibt daher karg. Die Ukraine gehört zu den ärmsten Ländern Europas. Ohne zusätzliche Einkommensquellen (in ländlichen Gebieten oft Selbstversorger) bzw. private Netzwerke ist es insbesondere Rentnern und sonstigen Transferleistungsempfängern kaum möglich, ein menschenwürdiges Leben zu führen. Sozialleistungen und Renten werden zwar regelmäßig gezahlt, sind aber trotz regelmäßiger Erhöhungen größtenteils sehr niedrig. In den von Separatisten besetzten Gebieten der Oblaste Donezk und Luhansk müssen die Bewohner die Kontaktlinie überqueren, um ihre Ansprüche bei den ukrainischen Behörden geltend zu machen (AA 22.2.2019).
Das ab der zweiten Hälfte der 1990er Jahre eingeführte ukrainische Sozialversicherungssystem umfasst eine gesetzliche Pensionsversicherung, eine Arbeitslosenversicherung und eine Arbeitsunfallversicherung. Aufgrund der Sparpolitik der letzten Jahre wurde im Sozialsystem einiges verändert, darunter Anspruchsanforderungen, Finanzierung des Systems und beim Versicherungsfonds. Die Ausgaben für das Sozialsystem im nicht-medizinischen Sektor sanken von 23% des BIP im Jahr 2013 auf 18,5% im Jahr 2015 und danach weiter auf 17,8%. Die ist vor allem auf Reduktion von Sozialleistungen, besonders der Pensionen, zurückzuführen. Das Wirtschaftsministerium schätzte den Schattensektor der ukrainischen Wirtschaft 2017 auf 35%, andere Schätzungen gehen eher von 50% aus. Das Existenzminimum für eine alleinstehende Person wurde für Jänner 2019 mit 1.853 UAH beziffert (ca. 58 EUR), ab 1. Juli 2019 mit 1.936 UAH (ca. 62 EUR) und ab 1. Dezember 2019 mit 2.027 (ca. 64,5 EUR) festgelegt. Außerdem ist eine Hinterbliebenenrente vorgesehen, die monatlich 50% der Rente des Verstorbenen für eine Person beträgt; bei zwei oder mehr Hinterbliebenen werden 100% ausgezahlt. Die gesetzlich verpflichtende Pensionsversicherung wird durch den Pensionsfonds der Ukraine verwaltet, der sich aus Pflichtbeiträgen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer, aus Budgetmitteln und diversen Sozialversicherungsfonds speist. Im Oktober 2017 nahm das ukrainische Parlament eine umfassende Pensionsreform an, die vor allem auch von internationalen Geldgebern zur Reduzierung des großen strukturellen Defizits gefordert wurde. Darin enthalten ist vor allem eine Anhebung der Mindestpension, welche von knapp zwei Drittel aller Pensionisten bezogen wird, um knapp 700 UAH (ca. 22 EUR). Ebenfalls vorgesehen ist eine automatische Indexierung der Mindestpension sowohl an die Inflationsrate, wie auch an die Entwicklung des Mindestlohns. Weiters wurde für arbeitende Pensionisten der Beitrag zur staatlichen Pensionsversicherung von 15% zur Gänze gestrichen. Das Pensionsantrittsalter wurde bei 60 Jahren belassen, die Anzahl an Beitragsjahren zur Erlangung einer staatlichen Pension wurde jedoch von 15 auf 25 Jahre erhöht und soll sukzessive bis 2028 weiter auf 35 Jahre steigen. Ebenfalls abgeschafft wurden gewisse Privilegien z.B. für öffentliche Bedienstete, Richter, Staatsanwälte und Lehrer. Im Jahr 2017 belief sich die Durchschnittspension auf 2.480,50 UAH (ca. 77 EUR), die durchschnittliche Invaliditätsrente auf 1.996,20 UAH (ca. 62,31 EUR) und die Hinterbliebenenpension auf 2.259,99 UAH (ca. 70,55 EUR). Viele Pensionisten sind dementsprechend gezwungen, weiter zu arbeiten. Private Pensionsvereinbarungen sind seit 2004 gesetzlich möglich (ÖB 2.2019; vgl. UA - Ukraine Analysen (27.4.2018):
Rentenreform).
1.3.10. Medizinische Versorgung
Von einigen Ausnahmen abgesehen ist die technische Ausstattung ukrainischer Krankenhäuser als dürftig zu bezeichnen. Während die medizinische Versorgung in Notsituationen in den Ballungsräumen als befriedigend bezeichnet werden kann, bietet sich auf dem Land ein differenziertes Bild: jeder zweite Haushalt am Land hat keinen Zugang zu medizinischen Notdiensten. Die hygienischen Bedingungen, vor allem in den Gesundheitseinrichtungen am Land, sind oftmals schlecht. Aufgrund der niedrigen Gehälter und der starken Motivation gut ausgebildeter MedizinerInnen ins Ausland zu gehen, sieht sich das ukrainische Gesundheitssystem mit einer steigenden Überalterung seines Personals und mit einer beginnenden Ausdünnung der Personaldecke, vor allem auf dem Land und in Bereichen der medizinischen Grundversorgung, konfrontiert. Von Gesetzes wegen und dem ehemaligen sowjetischen Modell folgend sollte die Bereitstellung der jeweils nötigen Medikation - mit der Ausnahme spezieller Verschreibungen im ambulanten Bereich - durch Budgetmittel gewährleistet sein. In der Realität sind einer Studie zufolge in 97% der Fälle die Medikamente von den Patienten selbst zu bezahlen, was die jüngst in Angriff genommene Reform zu reduzieren versucht. Dies trifft vor allem auf Verschreibungen nach stationärer Aufnahme in Spitälern zu. 50% der PatientInnen würden demnach aufgrund von finanziellen Schwierigkeiten eine Behandlung hinauszögern oder diese gänzlich nicht in Anspruch nehmen. In 43% der Fälle mussten die PatientInnen entweder Eigentum verkaufen, oder sich Geld ausleihen, um eine Behandlung bezahlen zu können. In der Theorie sollten sozial Benachteiligte und Patienten mit schweren Erkrankungen (Tbc, Krebs, etc.) von jeglichen Medikamentenkosten, auch im ambulanten Bereich, befreit sein. Aufgrund der chronischen Unterdotierung des Gesundheitsetats und der grassierenden Korruption wird das in der Praxis jedoch selten umgesetzt (ÖB 2.2019).
Patienten müssen in der Praxis die meisten medizinischen Leistungen und Medikamente informell aus eigener Tasche bezahlen (BDA - Belgian Immigration Office via MedCOI (21.3.2018): Question & Answer, BDA-6768).
Die Gesundheitsreform sieht eine Rückerstattung der Kosten für eigens gelistete Medikamente für Herzkreislauf-Erkrankungen, Asthma und Typ 2 Diabetes vor, die bei teilnehmenden Apotheken und mit einem entsprechenden Rezept teils auch kostenlos oder stark vergünstigt erworben werden können. Die Verfügbarkeit dieses Angebots ist zwar vorerst weiterhin von den an diesem Programm teilnehmenden Apotheken abhängig, allgemein scheint dieses System jedoch in der Praxis gut zu funktionieren (ÖB 2.2019; Liste der Medikamente siehe unter: MOZ - Ukrainisches Gesundheitsministerium (o.D.): Affordable Medicines).
Soweit die Gesundheitsreform noch nicht umgesetzt ist, ist der Beginn einer Behandlung in der Regel auch weiterhin davon abhängig, dass der Patient einen Betrag im Voraus bezahlt oder Medikamente und Pflegemittel auf eigene Rechnung beschafft. Neben dem öffentlichen Gesundheitswesen sind in den letzten Jahren auch private Krankenhäuser beziehungsweise erwerbswirtschaftlich geführte Abteilungen staatlicher Krankenhäuser gegründet worden. Die Dienstleistungen der privaten Krankenhäuser sind außerhalb des Nationalen Gesundheitsdienstes jedoch für die meisten Ukrainer nicht bezahlbar. Gebräuchliche Medikamente werden im Land selbst hergestellt. Die Apotheken halten teilweise auch importierte Arzneien vor (AA 22.2.2019).
1.3.11. Rückkehr
Es sind keine Berichte bekannt, wonach in die Ukraine abgeschobene oder freiwillig zurückgekehrte ukrainische Asylbewerber wegen der Stellung eines Asylantrags im Ausland behelligt worden wären. Um neue Dokumente zu beantragen, müssen sich Rückkehrer an den Ort begeben, an dem sie zuletzt gemeldet waren. Ohne ordnungsgemäße Dokumente können sich - wie bei anderen Personengruppen auch - Schwierigkeiten bei der Wohnungs- und Arbeitssuche oder der Inanspruchnahme des staatlichen Gesundheitswesens ergeben (AA 22.2.2019).
1.4. Zur Situation der BF im Falle einer Rückkehr
Der BF ist die Rückkehr in den Oblast Luhansk nicht zumutbar. Eine Niederlassung in Kiew ist ihr jedoch möglich.
Im Falle einer Rückkehr würde sie in keine existenzgefährdende Notlage geraten bzw. es würde ihr nicht die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen werden.
Sie läuft nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose Situation zu geraten.
Im Falle einer Abschiebung in den Herkunftsstaat ist die BF nicht in ihrem Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht.
Außergewöhnliche Gründe, die eine Rückkehr ausschließen, konnten nicht festgestellt werden.
1.5. Zur Situation der BF in Österreich
Die BF befindet sich seit November 2015 in Österreich. Sie lebt von staatlichen Leistungen und ging im Bundesgebiet bislang keinem Erwerb nach. Sie spricht ein wenig Deutsch und hat ein Prüfungszertifikat auf dem Niveau A1 sowie zwei Kursbesuchsbestätigungen für das Niveau A2 vorgelegt. Die BF hat am Werte- und Orientierungskurs des ÖIF teilgenommen. Sonstige Kurse oder Ausbildungen besucht die BF derzeit nicht.
Die BF lebt seit dem Tod ihres Ehemannes in Wien. Es besteht eine enge familiäre Bindung zur Tochter und den Enkelkindern der BF. Die Schwiegertochter der BF lebt ebenso als Asylwerberin in Österreich. Auch das Enkelkind der BF lebt als Asylwerber in Österreich. Weiters bestehen bekanntschaftliche Anknüpfungspunkte. Darüber hinaus bestehen keine weiteren, familiären oder sonstig verwandtschaftlichen bzw. familienähnlichen sozialen Bindungen im Bundesgebiet.
Die BF hat in der Gemeinde Goldegg als Reinigungskraft gearbeitet. Derzeit übt sie keine ehrenamtlichen Tätigkeiten aus und ist nicht Mitglied in einem Verein, einer religiösen Gruppe oder einer sonstigen Organisation.
Es bestehen keine weiteren, substantiellen Anknüpfungspunkte im Bereich des Privatlebens in Österreich.
2. Beweiswürdigung
2.1. Zur Person der BF
2.1.1. Die Identität der BF konnte mangels Vorlage von glaubhaften Dokumenten nicht bewiesen werden, weshalb hinsichtlich dem Namen und dem Geburtsdatum Verfahrensidentität vorliegt.
Die Feststellungen zur Staats-, Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit der BF gründen sich im Übrigen auf ihre insoweit glaubhaften Angaben in den bisherigen Befragungen sowie in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG bzw. ihren Kenntnissen der tschetschenischen und russischen Sprache. Die Feststellungen über ihren Schulbesuch und ihre Berufsausbildung ergeben sich ebenso aus ihren glaubhaften Angaben. Die Feststellung über ihre geringen Deutschkenntnisse ist Folge ihrer Aussage in der mündlichen Verhandlung.
Die Feststellung zum Geburtsort und den Wohnorten der BF, ihrer Erwerbstätigkeit, zum Ableben ihrer Eltern und ihres Ehemanns und zum Aufenthalt von Tochter, Schwiegersohn, Schwiegertochter, Enkelkindern und der Verwandtschaft der BF stützen sich gleichfalls auf ihre glaubhaften Angaben und die Todesanzeige des Ehemanns. Glaubhaft war auch die Aussage der BF, keinen Kontakt mehr in die Ukraine zu haben.
2.1.2. Entsprechend den Angaben der BF, jedoch unabhängig der Kausalität (s. dazu auch Punkt 2.2.), konnte der Aufenthalt ihres Sohnes nicht festgestellt werden.
2.1.3. Die Feststellung über die illegale Einreise der BF im November 2015 ergibt sich aus ihren glaubhaften Aussagen.
2.1.4. Die Feststellung über die Krankheiten der BF ergeben sich aus ihren glaubhaften Aussagen und den in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht vorgelegten ärztlichen Befunden.
2.1.5. Die Feststellung, dass die BF strafrechtlich unbescholten ist, beruht auf einem aktuellen Strafregisterauszug.
2.2. Zum Fluchtvorbringen der BF
2.2.1. Die BF gab im Wesentlichen an, aufgrund einer Entführung ihres Sohnes im September 2010 zum einen von russischen und ukrainischen Behördenvertretern bedroht worden zu sein. Dieses Vorbringen ist jedoch unglaubhaft.
2.2.2. Zunächst sind bereits die Angaben der BF zur Entführung ihres Sohnes vage, widersprüchlich und nicht nachvollziehbar.
So gab die BF noch in der Erstbefragung vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 12.01.2016 an, dass ihr Sohn "in Russland" entführt worden sei (Aktenseite (in der Folge: AS) 5). Die Schwiegertochter der BF gab in ihrer Erstbefragung am selben Tag an, dass ihr Mann von Russen entführt worden sei (AS 29 zu W189 2194656-1). Der Ehemann der BF gab wiederum in seiner Erstbefragung am 29.01.2015 an, dass sein Sohn von den ukrainischen Behörden in Krasnodon verhaftet und nach drei Tagen an den russischen Inlandsgeheimdienst (FSB) übergeben worden sei (AS 9 zu W189 2126246-1). Bereits hier wird das Ereignis der Entführung somit auf unterschiedliche Art und Weise vorgebracht.
Im Zuge der Einvernahme durch das BFA am 10.03.2016 änderte die BF ihr Vorbringen ab und gab an, dass ihr Sohn in Krasnodon von der ukrainischen Polizei entführt und nach drei Tagen an eine Sondereinheit der russischen Polizei übergeben worden sei (AS 43f). Dass die Entführung durch die ukrainische Polizei vorgenommen worden sei, habe die BF von einem Anwalt in Krasnodon, dessen Namen sie vergessen habe, erfahren. Dieser habe ihr auch gesagt, dass sie in Tschetschenien nach ihrem Sohn suchen solle. Dieser Anwalt sei ihr von einer Bekannten, deren Namen sie ebenfalls vergessen habe, empfohlen worden (AS 44f). Ihr Ehemann gab wiederum in seiner Einvernahme am 08.02.2016 zu Protokoll, dass sein Sohn in Krasnodon vom FSB entführt worden sei. Auf Vorhalt des Widerspruchs mit den Angaben in der Erstbefragung durch das BFA gab der Ehemann der BF an, dass sein Sohn von Personen in zivil entführt worden sei und er glaube, dass der russische FSB und die Ukraine diese Aktion gemeinsam durchgeführt hätten (AS 70f zu W189 2126246-1). Somit waren die Angaben auch in der Einvernahme durch das BFA nicht in Übereinstimmung zu bringen und blieben äußerst vage.
In der Beschwerde wird sodann wiederum im Widerspruch dazu vorgebracht, dass es "außer Zweifel" stehe, dass der Sohn der BF "vermutlich" vom FSB "auf der Straße festgenommen" worden sei. Er sei in ein Auto gezerrt worden und "damit" verliere sich seine Spur (AS 167 und 181). Eine nähere Konkretisierung des Vorfalls wird nicht vorgenommen.
Im Zuge der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 03.12.2019 führte die BF sodann aus, dass ihre Schwiegertochter die Entführung selbst beobachtet habe (Niederschrift der mündlichen Verhandlung (in der Folge: NSV), S. 6f). Dies wurde jedoch im gesamten bisherigen Verfahren weder von der BF, noch von ihrem Ehemann, noch von ihrer Schwiegertochter selbst behauptet. Über eine Bekannte, die dies von einer beim ukrainischen SBU angestellten Person erfahren habe, habe die BF später die Information erhalten, dass ihr Sohn drei Tage in der Polizeiinspektion von Krasnodon festgehalten worden und anschließend den Russen übergeben worden sei. (NSV, S. 7 und 8). Dies widerspricht aber wiederum den Ausführungen im Beschwerdeschriftsatz sowie der Aussage der BF in der Einvernahme durch das BFA, wonach sie dies von einem Rechtsanwalt erfahren habe (s. oben).
Unabhängig von diesen Widersprüchen ist nicht nachvollziehbar, weshalb der russische FSB die Unterstützung einer lokalen ukrainischen (!) Polizeistation bräuchte und in Anspruch nehmen sollte, um eine Zivilperson zu entführen. Umgekehrt ist nicht nachvollziehbar, warum lokale ukrainische Polizisten den russischen FSB bei Kommandoaktionen auf ukrainischem Territorium unterstützten sollten, zumal sich der Sachverhalt bereits 2010, somit deutlich vor Ausbruch des Konflikts in der Ostukraine ereignet habe. Gleichfalls ist nicht nachvollziehbar, warum und woher jener Anwalt von dieser Aktion und dem nunmehrigen Aufenthaltsort des Sohnes der BF wissen sollte. Genauso wenig nachvollziehbar ist, dass die BF dies von einer Bekannten, die wiederum einen Bekannten habe, der beim ukrainischen Inlandsgeheimdienst arbeite, erfahren habe, zumal eine solche Weitergabe von Geheimnissen den Sinn eines Geheimdienstes konterkariert.
Insgesamt sind die Ausführungen der BF zur Entführung ihres Sohnes äußerst vage, von Widersprüchen geprägt und nicht nachvollziehbar, sodass nicht davon ausgegangen werden kann, dass sich die behauptete Entführung tatsächlich ereignet hat. Es kann dabei dahingestellt bleiben, wo sich der Sohn der BF tatsächlich befindet.
2.2.3. Weiters waren die Angaben zu den Aufenthaltsorten der BF widersprüchlich.
Die BF gab im Zuge der Einvernahme durch das BFA an, 2013 nach Schweden gefahren und ein Jahr lang dort geblieben zu sein. Im Jahr 2014 sei sie in die Ukraine zurückgekehrt, da die Probleme dort aber noch schlimmer geworden seien, habe sie sich zur Flucht entschieden (AS 44). In der mündlichen Verhandlung führte die BF zusätzlich aus, nach der Ausreise ihres Ehemannes eine Zeit lang in einer Nachbarstadt von Krasnodon bei Bekannten gewohnt zu haben. Ihre Schwiegertochter sei zu jener Zeit immer bei ihr gewesen (NSV, S. 10f).
Der Ehemann der BF gab wiederum in seiner Einvernahme durch das BFA an, 2013 die Familie seines Sohnes bei Verwandten in Russland versteckt zu haben. Weiters habe er die BF nach Ausbruch des Ukrainekonflikts nach Tschetschenien geschickt, um sie dort zu verstecken. Die BF sei zum Zeitpunkt der Ausreise ihres Ehemannes noch in Tschetschenien gewesen (AS 71f zu W189 2126246-1).
Die Schwiegertochter der BF wiederum führte in der Einvernahme am 24.02.2016 aus, seit der Entführung ihres Mannes "die ganze Zeit" in Krasnodon gelebt zu haben. Auf Vorhalt des BFA, dass ihr Schwiegervater (der Ehemann der BF) ausgesagt habe, die BF nach Tschetschenien geschickt zu haben, wodurch sie (die Schwiegertochter) alleine in Krasnodon gewesen wäre, gab diese an, dass die BF nicht in Tschetschenien gewesen sei, sondern immer bei ihr (der Schwiegertochter) gewesen sei (AS 198f zu W189 2194656-1). In der Einvernahme am 07.03.2018 brachte die Schwiegertochter der BF wiederum vor, im Zeitpunkt der Ausreise ihres Schwiegervaters (des Ehemannes der BF) mit der BF in Krasnodon gewohnt zu haben und aus Angst mit dieser nach XXXX , Russland, geflohen zu sein und später wieder nach Krasnodon zurückgekehrt zu sein (AS 679f zu W189 2194656-1).
Die BF gab schließlich in der mündlichen Verhandlung auf Vorhalt der Aussage ihrer Schwiegertochter, mit der BF in XXXX gewesen zu sein, an, dass nur die Schwiegertochter "weg" gewesen und wieder zurückgekehrt sei (NSV, S. 12).
Es ergeben sich somit widersprüchliche Angaben dazu, wo die BF zu welchem Zeitpunkt war. Dass die BF zunächst ein Jahr in Schweden gewesen sei, wurde jedenfalls von ihrem Ehemann und ihrer Schwiegertochter nie vorgebracht. In diesem Zusammenhang ist auch nicht nachvollziehbar, mit welchem Aufenthaltstitel die BF sich ein Jahr lang in Schweden aufgehalten habe. Schwerer wiegen jedoch die folgenden Angaben. So gab die BF an, von ihrer Rückkehr in die Ukraine im Jahr 2014 bis zur Ausreise nach Österreich immer in Krasnodon bzw. der Nachbarstadt gelebt zu haben. Ihr Ehemann hingegen gab an, die BF zu jenem Zeitpunkt nach Tschetschenien geschickt zu haben, wo sie jedenfalls zu seiner Ausreise im Jänner 2015 noch gelebt habe. Die Schwiegertochter wiederum gab zunächst an, dass sie selbst seit der vermeintlichen Entführung ihres Mannes durchgehend in Krasnodon gelebt habe - was im Übrigen im Widerspruch zur Angabe ihres Schwiegervaters steht, die Familie seines Sohnes 2013 nach Russland geschickt zu haben - und dass die BF nicht in Tschetschenien gelebt habe. In der Folge änderte sie jedoch ihr Vorbringen insoweit ab, dass sie nach der Ausreise ihres Schwiegervaters zusammen mit der BF von Krasnodon nach XXXX gegangen zu sein, was wiederum auch von der BF bestritten wurde.
Es ist absolut lebensfremd, dass die BF und ihre Familie derart widersprüchliche Angaben über ihren Aufenthaltsort machen würden, würde ein tatsächlich erlebter Sachverhalt geschildert werden.
2.2.4. Auch waren die von der BF vorgebrachten sie betreffenden Vorfälle nicht glaubhaft. Dies ergibt sich zum einen schon aus dem bisher Gesagten, wonach die Rahmenbedingungen für diese Vorfälle gänzlich unglaubwürdig sind. Aber auch die Beschreibung dieser Vorfälle selbst durch die BF ist widersprüchlich und vage.
Im Zuge der Einvernahme durch das BFA gab die BF an, zu einem nicht näher konkretisierten Zeitpunkt zwischen der behaupteten Entführung ihres Sohnes im September 2010 und der behaupteten Ausreise nach Schweden im Jahr 2013 nach ihrer Aussage bei der Polizei am Heimweg von zwei Männern, von denen sie wisse, dass sie Polizisten seien, von hinten auf den Kopf geschlagen worden und zusammengebrochen zu sein (AS 44). Weitere Vorfälle wurden von ihr nicht vorgebracht.
Im Beschwerdeschriftsatz wiederum brachte die BF erstmals vage vor, dass bereits vor der vermeintlichen Entführung ihres Sohnes immer wieder Mitarbeiter des FSB zu ihr gekommen seien, um sie nach dem Aufenthaltsort ihres Schwiegersohns, der für die Regierung von Maskhadov gearbeitet habe, zu fragen. Es seien schon damals Konsequenzen angedroht worden. Auch nach der Entführung des Sohnes sei eine Mitarbeiterin des FSB zur BF gekommen und habe ihr mitgeteilt, dass ihr Sohn freigelassen werde, wenn ihr Schwiegersohn für den FSB arbeite (AS 133). Auch die Nachbarn der BF seien - von nicht näher konkretisierten Personen - befragt worden (AS 135). Weiters wurde im Beschwerdeschriftsatz dargetan, dass - zu nicht näher konkretisierten Zeitpunkten - wiederholt maskierte Männer in der Wohnung aufgetaucht seien, der Ehemann der BF geschlagen und die BF am Kopf verletzt worden sei (AS 167). Außerdem sei die Wohnung nach der Ausreise des Ehemanns der BF "während einer der Abwesenheiten" zerstört worden (AS 169).
In der mündlichen Verhandlung hingegen brachte die BF erneut nur den bereits in der Einvernahme geschilderten Vorfall vor. Auf Nachfrag