TE Bvwg Erkenntnis 2020/1/13 W244 1424648-2

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Veröffentlicht am 13.01.2020
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Entscheidungsdatum

13.01.2020

Norm

AsylG 2005 §54 Abs1 Z2
AsylG 2005 §55 Abs2
AsylG 2005 §58 Abs2
BFA-VG §9 Abs2
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art. 133 Abs4
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W244 1424648-2/20E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Verena JEDLICZKA-MESSNER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX (auch XXXX ), geb. XXXX (alias XXXX ), StA. Afghanistan, vertreten durch RA Edward DAIGNEAULT, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 11.07.2017, Zl. 810267203-1341655, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:

A)

I. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheids wird gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG stattgegeben und festgestellt, dass gemäß § 9 Abs. 2 und 3 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist.

II. Dem Beschwerdeführer wird gemäß § 58 Abs. 2 iVm § 55 Abs. 2 und § 54 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung" für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.

III. Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheids wird ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer reiste schlepperunterstützt ins österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 19.03.2011 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 27.01.2012 wurde dieser Antrag bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 wurde der Beschwerdeführer aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Afghanistan ausgewiesen (Spruchpunkt III.).

Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 06.11.2014 wurde die dagegen eingebrachte Beschwerde hinsichtlich der Spruchpunkte I. und II. des angefochtenen Bescheides des Bundesasylamtes vom 27.01.2012 abgewiesen (Spruchpunkt I.). Weiters wurde in Erledigung der Beschwerde Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides behoben und die Angelegenheit gemäß § 75 Abs. 20 AsylG 2005 zur Prüfung der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen (Spruchpunkt II.).

Mit Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes vom 10.09.2015 wurde die dagegen erhobene außerordentliche Revision zurückgewiesen.

Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 11.07.2017 wurde dem Beschwerdeführer ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt, gegenüber dem Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt I.). Schließlich sprach das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl aus, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt II.).

Gegen diesen Bescheid brachte der Beschwerdeführer am 31.07.2017 fristgerecht Beschwerde ein.

Das Bundesverwaltungsgericht führte am 13.08.2019 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, in der der Beschwerdeführer in Anwesenheit seines Vertreters insbesondere zu seiner Integration in Österreich befragt wurde. Ein Vertreter des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl nahm an der Verhandlung nicht teil. Die Verhandlungsschrift wurde der Erstbehörde übermittelt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. Feststellungen:

Der Beschwerdeführer führt den im Spruch genannten Namen und ist an dem im Spruch genannten Datum geboren.

Der Beschwerdeführer ist seit seiner Antragstellung am 19.03.2011 aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG 2005 durchgehend rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältig.

Der Beschwerdeführer wurde mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom 05.09.2012 wegen des Verbrechens der absichtlichen schweren Körperverletzung nach § 87 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten und mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom 21.06.2016 wegen des Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs. 1 5. Fall SMG und wegen des Vergehens der Vorbereitung von Suchtgifthandel nach § 28 Abs. 1 2. Fall SMG zu einer Freiheitsstrafe von 20 Monaten, davon 14 Monate bedingt, verurteilt.

Der Beschwerdeführer lebt mit XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, seit Juli 2017 in aufrechter, tatsächlicher Lebensgemeinschaft und im Wesentlichen durchgehend im gemeinsamen Haushalt. Am XXXX wurde die gemeinsame Tochter XXXX , StA. Afghanistan, geboren. Der Beschwerdeführer lebt seit deren Geburt im Wesentlichen durchgehend mit ihr im gemeinsamen Haushalt. Die Betreuung der Tochter ist zwischen den Eltern aufgeteilt, der Beschwerdeführer verbringt auch Zeit alleine mit der Tochter, ist mit Aufgaben der täglichen Pflege vertraut und pflegt eine liebevolle Beziehung zu seiner Lebensgefährtin und seiner Tochter. Der Lebensgefährtin und der Tochter des Beschwerdeführers wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 02.09.2019 jeweils der Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

Die Eltern, zwei Schwestern und ein Bruder des Beschwerdeführers sind in Österreich aufhältig. Ihnen wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 30.07.2018 jeweils der Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt. Der Beschwerdeführer verfügt somit über keine aufrechten Anknüpfungspunkte im Herkunftsstaat mehr.

Der Beschwerdeführer bezieht Leistungen aus der vorübergehenden Grundversorgung.

Der Beschwerdeführer unterstützt seine Schwester, die in Graz ein Lebensmittelgeschäft betreibt, maßgeblich in allen geschäftlichen Belangen. Er wäre für den Fall eines Aufenthaltsrechtes gewillt und in der Lage, das Geschäft seiner Schwester unter eigenem Namen zu führen und sich selbst durch selbständige Arbeit zu erhalten.

Der Beschwerdeführer hat bereits Deutschkurse besucht und kann sich sicher und gut verständlich auf Deutsch unterhalten. Weiters hat er an diversen Integrationsangeboten teilgenommen. Einen Nachweis für das Bestehen eines Sprachdiploms konnte der Beschwerdeführer jedoch nicht erbringen.

2. Beweiswürdigung:

Die Feststellung zum Namen des Beschwerdeführers ergibt sich zunächst aus seinen dahingehend übereinstimmenden Angaben im bisherigen Verfahren. Der Beschwerdeführer konnte in der mündlichen Verhandlung jedoch glaubhaft darlegen, dass es bei der Erstbefragung zu einer unrichtigen Dokumentierung gekommen ist und anstelle seines Familiennamens der Name seines Großvaters ( XXXX ) aufgenommen wurde (Seite 15 f des Verhandlungsprotokolls). Für die Glaubhaftigkeit dieser Angabe spricht auch, dass die Familienangehörigen des Beschwerdeführers einheitlich einen anderen Namen angegeben haben als dieser, sodass der Name XXXX ebenfalls in den Spruch aufgenommen wurde. Die Feststellung zum Geburtsdatum des Beschwerdeführers beruht auf dem nachvollziehbaren und nicht beanstandeten medizinischen Sachverständigengutachten vom 21.04.2011.

Die Feststellung zu Aufenthaltsdauer und -titel, der familiären Situation und der Integration des Beschwerdeführers in Österreich stützen sich auf die Aktenlage, insbesondere auf die von ihm vorgelegten Unterlagen, sowie auf die damit übereinstimmenden, glaubhaften Angaben des Beschwerdeführers und seiner Lebensgefährtin in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht sowie auf Abfragen in den entsprechenden amtlichen österreichischen Registern (Zentrales Melderegister, Fremdeninformationssystem, Grundversorgungs-Informationssystem).

Über die Deutschkenntnisse des Beschwerdeführers konnte sich die erkennende Richterin in der mündlichen Verhandlung selbst ein Bild machen (Seite 18 des Verhandlungsprotokolls).

Dass den Familienangehörigen des Beschwerdeführers mit Erkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichtes jeweils der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt wurde, ergibt sich aus den im Akt erliegenden Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichtes.

Die Feststellung zur strafgerichtlichen Bescholtenheit ergibt sich aus der Einsichtnahme in das Strafregister.

3. Rechtliche Beurteilung:

3.1. Zu A) I.: Unzulässigkeit der Rückkehrentscheidung auf Dauer:

3.1.1. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und in den Fällen der Z 1 und 3 bis 5 von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 nicht erteilt wird.

Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

Ob eine Verletzung des Rechts auf Schutz des Privat- und Familienlebens iSd Art. 8 EMRK vorliegt, hängt nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte sowie des Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshofes jeweils von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab. Die Regelung erfordert eine Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit des staatlichen Eingriffs; letztere verlangt eine Abwägung der betroffenen Rechtsgüter und öffentlichen Interessen. In diesem Sinn wird eine Ausweisung - nunmehr Rückkehrentscheidung - nicht erlassen werden dürfen, wenn ihre Auswirkungen auf die Lebenssituation des Fremden (und seiner Familie) schwerer wiegen würden als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von ihrer Erlassung.

Die Verhältnismäßigkeit einer Rückkehrentscheidung ist dann gegeben, wenn der Konventionsstaat bei seiner aufenthaltsbeendenden Maßnahme einen gerechten Ausgleich zwischen dem Interesse des Fremden auf Fortsetzung seines Privat- und Familienlebens einerseits und dem staatlichen Interesse auf Verteidigung der öffentlichen Ordnung andererseits, also dem Interesse des Einzelnen und jenem der Gemeinschaft als Ganzes gefunden hat. Dabei variiert der Ermessensspielraum des Staates je nach den Umständen des Einzelfalles und muss in einer nachvollziehbaren Verhältnismäßigkeitsprüfung in Form einer Interessenabwägung erfolgen.

Bei dieser Interessenabwägung sind - wie in § 9 Abs. 2 BFA-VG unter Berücksichtigung der Judikatur der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts ausdrücklich normiert wird -insbesondere zu berücksichtigen:

1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war, 2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens, 3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, 4. der Grad der Integration, 5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden, 6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,

7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts, 8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren, 9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist (vgl. auch VfSlg. 18.224/2007; VwGH 26.06.2007, 2007/01/0479; 26.01.2006, 2002/20/0423).

3.1.2. Nach ständiger Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte entsteht ein von Art. 8 Abs. 1 EMRK geschütztes Familienleben zwischen Eltern und Kind mit dem Zeitpunkt der Geburt (EGMR 21.06.1988, Fall Berrehab, Appl. 10.730/84 [Z 21]; 26.05.1994, Fall Keegan, Appl. 16.969/90 [Z 44]); diese besonders geschützte Verbindung kann in der Folge nur unter außergewöhnlichen Umständen als aufgelöst betrachtet werden (EGMR 19.02.1996, Fall Gül, Appl. 23.218/94 [Z 32]). Nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte ist es ein grundlegender Bestandteil des Familienlebens, dass sich Eltern und Kinder der Gesellschaft des jeweiligen anderen Teiles erfreuen können; die Familienbeziehung wird insbesondere nicht dadurch beendet, dass das Kind in staatliche Pflege genommen wird (vgl. VfSlg. 16.777/2003 mit Hinweis auf EGMR 25.02.1992, Fall Margareta und Roger Andersson, Appl. 12.963/87 [Z 72] mwN; zu den Voraussetzungen für ein (potentielles) Familienleben zwischen einem Kind und dessen Vater s. auch EGMR 15.09.2011, Fall Schneider, Appl. 17.080/07 [Z 81] mwN). Davon ausgehend kann eine unzureichende Berücksichtigung des Kindeswohles zur Fehlerhaftigkeit der Interessenabwägung und somit zu einer Verletzung des Art. 8 EMRK führen (vgl. VfGH 24.09.2018, E 1416/2018, mit Hinweis auf Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte).

Nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte ist das nach Art. 8 EMRK geschützte Familienleben nicht auf durch Heirat rechtlich formalisierte Bindungen ("marriage-based relationships") beschränkt, sondern erfasst auch andere faktische Familienbindungen ("de facto family ties"), bei denen die Partner außerhalb des Ehestandes zusammenleben (vgl. VwGH 28.06.2011, 2008/01/0527; 23.02.2011, 2011/23/0097; 08.09.2010, 2008/01/0551, mwH); zur Frage, ob eine nichteheliche Lebensgemeinschaft ein Familienleben iSd Art. 8 EMRK begründet, stellt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auf das Bestehen enger persönlicher Bindungen ab, die sich in einer Reihe von Umständen - etwa dem Zusammenleben, der Länge der Beziehung oder der Geburt gemeinsamer Kinder - äußern können (vgl. VwGH 28.06.2011, 2008/01/0527 mit Hinweisen auf die diesbezügliche EGMR-Judikatur). Familiäre Beziehungen unter Erwachsenen, wie z.B. zwischen Eltern und erwachsenen Kindern, zwischen Geschwistern, zwischen Onkel/Tanten und Neffen/Nichten usw., fallen jedoch nur dann unter den Schutz des Art. 8 EMRK, wenn zusätzliche Merkmale der Abhängigkeit hinzutreten, die über die üblichen Bindungen hinausgehen (vgl. z.B. VwGH 02.08.2016; Ra 2016/20/0152).

3.1.3. Im vorliegenden Fall fällt die gemäß Art. 8 EMRK durchzuführende Interessenabwägung aus folgenden Erwägungen zugunsten des Interesses des Beschwerdeführers an der Fortsetzung seines Privat- und Familienlebens aus:

Der Beschwerdeführer lebt im Wesentlichen durchgehend mit seiner Lebensgefährtin seit 12.07.2017 und seiner im Jahr 2018 geborenen Tochter seit deren Geburt im gemeinsamen Haushalt.

Der Beschwerdeführer führt daher mit seiner Lebensgefährtin und seiner minderjährigen Tochter ein tatsächliches Familienleben iSd Art. 8 EMRK. Ein Eingriff in dieses Familienleben wäre aufgrund seiner Intensität - insbesondere unter Berücksichtigung des Kindeswohls - nicht zu rechtfertigen:

Die Betreuung der Tochter ist zwischen den Eltern aufgeteilt, der Beschwerdeführer verbringt auch Zeit alleine mit der Tochter, ist mit Aufgaben der täglichen Pflege vertraut und pflegt eine liebevolle Beziehung zu seiner Lebensgefährtin und seiner Tochter. Ingesamt ist daher von einer engen affektiven Bindung zwischen dem Beschwerdeführer und seiner Tochter auszugehen, so dass, selbst wenn man davon ausginge, dass die Mutter unter Zuhilfenahme von Kinderbetreuungseinrichtungen die Sorge für das gemeinsame Kind allein übernehmen könnte, es kaum vertretbar wäre, das eineinhalbjährige Kind allein mit einem Elternteil zu belassen und ihm eine langfristige Trennung von seinem Vater zuzumuten.

Es wird nicht verkannt, dass dem Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, insbesondere der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Vorschriften grundsätzlich ein hoher Stellenwert zukommt. Ebenso wenig wird verkannt, dass der Beschwerdeführer seine familiären Bindungen zu einem Zeitpunkt einging, als er sich der Unsicherheit seines Aufenthaltes bewusst sein musste.

Im vorliegenden Fall muss sich der Beschwerdeführer im Rahmen der ihn betreffenden Interessenabwägung weiters entgegenhalten lassen, dass er im Laufe seines Aufenthaltes in Österreich einmal wegen schwerer Körperverletzung und einmal wegen mehrerer Suchmitteldelikte strafgerichtlich verurteilt wurde. Seit seiner Entlassung aus der Haft im Oktober 2016 hat sich der Beschwerdeführer jedoch wohlverhalten, weswegen für diesen - vor allem vor dem Hintergrund des nunmehr bestehenden (positiven) Einflusses seiner Familienangehörigen - eine positive Zukunftsprognose abgegeben werden kann.

Auf der anderen Seite nutzte der Beschwerdeführer die vergangenen Jahre auch, um sich auf verschiedene Weise im Bundesgebiet zu integrieren: Der Beschwerdeführer hat die deutsche Sprache auf gutem Niveau erlernt. Weiters hat er an diversen Integrationsangeboten teilgenommen. Zwar bezieht der Beschwerdeführer nach wie vor Leistungen aus der Grundversorgung, doch konnte er in der mündlichen Verhandlung glaubhaft machen, dass er seine Schwester, die in Graz ein Lebensmittelgeschäft betreibt, maßgeblich in allen geschäftlichen Belangen unterstützt und für den Fall eines Aufenthaltsrechtes gewillt und in der Lage wäre, das Geschäft seiner Schwester unter eigenem Namen zu führen und sich selbst durch selbständige Arbeit zu erhalten.

Die Familie des Beschwerdeführers hat mittlerweile Afghanistan verlassen und ist in Österreich aufhältig; ihnen kommt der Status von subsidiär Schutzberechtigten zu. Der Beschwerdeführer verfügt somit über keine Anknüpfungspunkte im Herkunftsstaat mehr und hat sich sein Lebensmittelpunkt unzweifelhaft in das Bundesgebiet verlagert, sodass diesbezüglich insbesondere unter Berücksichtigung seines aufrechten Familienlebens zu seiner Lebensgefährtin und seiner Tochter im Bundesgebiet, von einer deutlichen Abschwächung noch vorhandener Bindungen zum Herkunftsstadt gesprochen werden kann.

Schließlich ist zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer sich nunmehr seit beinahe neun Jahren in Österreich aufgrund eines einzigen Antrags auf internationalen Schutz aufhält, ohne dass die Dauer des Verfahrens ihm erkennbar angelastet werden könnte.

Nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes überwiegen im vorliegenden Fall insgesamt die privaten und familiären Interessen des Beschwerdeführers angesichts der erwähnten Umstände in ihrer Gesamtheit die öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung zugunsten eines geordneten Fremdenwesens. Es kann - insbesondere unter Berücksichtigung des Kindeswohls - eine Außerlandesbringung des Beschwerdeführers und die Erlassung eines Einreiseverbotes gegen ihn nicht als verhältnismäßig angesehen werden und würde dies eine Verletzung des Art. 8 EMRK bedeuten (vgl. dazu etwa VwGH 12.11.2019, Ra 2019/21/0096).

Das Bundesverwaltungsgericht kommt daher unter Berücksichtigung der genannten besonderen Umstände dieses Beschwerdefalles zu dem Ergebnis, dass eine Rückkehrentscheidung gegen den Beschwerdeführer unzulässig ist.

Des Weiteren ist davon auszugehen, dass die drohende Verletzung des Privat-, insbesondere aber des Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend, sondern auf Dauer ist, und es ist daher gemäß § 9 Abs. 3 BFA-VG festzustellen, dass die Rückkehrentscheidung gegen den Beschwerdeführer auf Dauer unzulässig ist.

3.2. Zu A) II.: Erteilung des Aufenthaltstitels "Aufenthaltsberechtigung":

Voraussetzung für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG 2005 ist, dass dies zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG iSd Art. 8 EMRK geboten ist. Nur bei Vorliegen dieser Voraussetzung kommt ein Abspruch über einen Aufenthaltstitel nach § 55 AsylG 2005 überhaupt in Betracht (vgl. VwGH 12.11.2015, Ra 2015/21/0101).

Gemäß § 55 Abs. 1 AsylG 2005 ist im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine "Aufenthaltsberechtigung plus" zu erteilen, wenn dies gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist (Z 1) und der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 IntG erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§ 5 Abs. 2 ASVG) erreicht wird (Z 2). Liegt nur die Voraussetzung des Abs. 1 Z 1 vor, ist eine "Aufenthaltsberechtigung" zu erteilen.

Gemäß § 55 Abs. 2 FPG beträgt die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft des Bescheides, sofern nicht im Rahmen einer vom Bundesamt vorzunehmenden Abwägung festgestellt wurde, dass besondere Umstände, die der Drittstaatsangehörige bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hat, die Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen.

Gemäß § 52 Abs. 9 FPG hat das Bundesamt mit einer Rückkehrentscheidung gleichzeitig festzustellen, dass eine Abschiebung eines Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist, es sei denn, dass dies aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich sei.

Der Beschwerdeführer erfüllt die Voraussetzungen des Moduls 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 IntG (noch) nicht und hat derzeit auch kein Einkommen über der Geringfügigkeitsgrenze, weshalb ihm gemäß § 55 Abs. 2 AsylG 2005 eine "Aufenthaltsberechtigung" zu erteilen ist.

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hat dem Beschwerdeführer den Aufenthaltstitel gemäß § 58 Abs. 7 AsylG 2005 auszufolgen, der Beschwerdeführer hat hieran gemäß § 58 Abs. 11 AsylG 2005 mitzuwirken. Der Aufenthaltstitel gilt gemäß § 54 Abs. 2 AsylG 2005 zwölf Monate lang, beginnend mit dem Ausstellungsdatum.

3.3. Zu A) III.: Aufhebung des Spruchpunktes II. des angefochtenen Bescheides:

Angesichts des erteilten Aufenthaltstitels kann der Abspruch über das Nichtbestehen einer Frist zur freiwilligen Ausreise keinen Bestand haben. Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides vom 11.07.2017 ist daher ersatzlos zu beheben.

3.4. Zu B): Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Bei Interessenabwägungen nach Art. 8 EMRK handelt es sich letztlich um einzelfallbezogene Beurteilungen, die im Allgemeinen nicht revisibel sind (z.B. VwGH 26.03.2015, Ra 2014/22/0210, mwN).

Schlagworte

Aufenthaltsberechtigung, Aufenthaltsdauer, bestehendes
Familienleben, Kindeswohl, Lebensgemeinschaft, Privat- und
Familienleben, Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:W244.1424648.2.00

Zuletzt aktualisiert am

15.06.2020
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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