TE Bvwg Erkenntnis 2020/1/24 W255 2202046-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 24.01.2020
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

24.01.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art. 133 Abs4
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W255 2202046-1/24E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Ronald EPPEL, MA als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX alias XXXX alias XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch Rechtsanwalt XXXX , vertreten durch die ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 22.06.2018, Zl. 1097159702-151892705, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 28.08.2019, zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides stattgegeben und XXXX alias XXXX alias XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat AFGHANISTAN zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX alias XXXX alias XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter bis zum 24.01.2021 erteilt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

1. Verfahrensgang:

1.1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) stellte nach unrechtmäßiger Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 28.11.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

1.2. Am 29.11.2015 fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Landespolizeidirektion XXXX die niederschriftliche Erstbefragung des BF statt. Dabei gab der BF im Wesentlichen an, in der Provinz XXXX geboren und aufgewachsen zu sein. Er habe Afghanistan verlassen, da sein Onkel als Polizist tätig gewesen und sein Onkel und Vater vor ca. einem Jahr von den Taliban bedroht und getötet worden seien.

1.3. Mit Schreiben vom 02.03.2017 und 29.03.2017 beantragte der Vertreter des BF die Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens zwecks Feststellung der intellektuellen Beeinträchtigung, Störung des schlussfolgernden Denkens und daraus folgenden Einvernahme- und Handlungsfähigkeit des BF. Dem Schreiben vom 29.03.2017 wurde eine "Lernbeurteilung" des BF durch XXXX vom 11.02.2017 beigelegt. Laut dieser "Lernbeurteilung" könne der BF kaum noch Schreiben, zeige immer wieder trotziges Verhalten und blockiere. Er sondere sich ab und wolle alleine arbeiten. Es falle ihm schwer, seine Schulsachen in Ordnung zu halten und er verliere dadurch den Überblick. Er könne keine Struktur einhalten und fange beispielsweise im Heft mal vorne, mal hinten oder einfach in der Mitte an zu schreiben.

1.4. Am 08.06.2017 übermittelte der Vertreter des BF dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) einen internen Bericht des " XXXX " vom 07.06.2017. Laut diesem Bericht würden sich beim BF Hinweise auf eine möglicherweise vorliegende Intelligenzminderung ergeben. Die Grundrechenarten, das Lesen und das Schreiben würden seitens des BF noch nicht beherrscht. Eine Beschulung im Herkunftsstaat habe nicht stattgefunden. Es sei anzunehmen, dass der BF die Grundrechenarten, Schreiben und Lesen nur eingeschränkt bzw. teilweise auch gar nicht erlernen könne. Handlungsbezogene Aufgaben könnten seinerseits ebenfalls nur eingeschränkt bzw. inadäquat gelöst werden. Sein Arbeitstempo sei auffallend langsam und fehlerbehaftet. Es hätten sich eingeschränkte feinmotorische Fertigkeiten und mangelnde Sorgfalt in der Durchführung der Arbeitsproben erkennen lassen. Das Erkennen von Fehlern bei den Arbeitsproben sei dem BF nicht möglich gewesen. Die Abweichungen der Größenverhältnisse der Arbeitsproben im Vergleich zu den Vorlagen, würden auf Schwächen in der visuellen Wahrnehmung hindeuten.

1.5. Am 23.06.2017 übermittelte der Vertreter des BF dem BFA einen "Ergebnisbericht Praktisches Clearing" des " XXXX " vom 22.06.2017. Diesem Bericht zufolge habe der BF eine handwerkliche Eignungsprüfung unter Anwendung des hamet2 Testverfahrens bzw. Teilen davon absolviert und hierbei in den Bereichen Routine und Tempo, Werkzeugeinsatz und -steuerung, Wahrnehmung und Symmetrie, Instruktionsverständnis und Instruktionsumsetzung sowie, Messgenauigkeit und Präzision jeweils unterdurchschnittlich abgeschnitten. Es bestehe beim BF ein erhöhter sonderpädagogischer Bedarf. Eine Ausbildungsreife liege bei ihm derzeit nicht vor.

1.6. Am 07.12.2017 wurde der BF von dem vom BFA beauftragten Sachverständigen, Mag. XXXX , klinischer- und Gesundheitspsychologe, allgemein beeideter und gerichtlich zertifizierter Sachverständiger, Psychotherapeut, einer Untersuchung unterzogen. Laut psychologischem Gutachten von XXXX vom 30.12.2017 sei der BF mit gewissen Einschränkungen einvernahme- und handlungsfähig. Zum Untersuchungszeitpunkt sei in der Exploration und in den verwendeten Verfahren eine psychische Belastung des BF feststellbar gewesen. Es sei zum Untersuchungszeitpunkt von einer mittelgradigen depressiven Störung und einer posttraumatischen Belastungsstörung auszugehen. Aufgrund der Testergebenisse sei zum Untersuchungszeitpunkt mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit von einer vorliegenden Intelligenzminderung auszugehen.

1.7. Mit Schreiben vom 23.03.2018 nahm der Vertreter des BF zum psychologischen Gutachten vom 30.12.2017 Stellung und strich hierbei hervor, dass der BF laut Gutachten an einer posttraumatischen Belastungsstörung, depressiven Störung und Intelligenzminderung leide.

1.8. Am 27.04.2018 übermittelte der Vertreter des BF dem BFA neuerlich den unter 1.5. genannten "Ergebnisbericht Praktisches Clearing" vom 22.06.2017 sowie eine Stellungnahme der XXXX des Landeskrankenhauses XXXX vom 04.04.2018 und ein Arztbrief der XXXX des Landeskrankenhauses XXXX vom 26.04.2018. Der Stellungnahme vom 04.04.2018 und dem Arztbrief vom 26.04.2018 zufolge würden sich beim BF klare Hinweise auf eine posttraumatische Belastungsstörung ergeben. Der BF leide unter Flashbacks, Tag-Nacht-Umkehr und depressive Symptome mit Lebensüberdrüssigkeit. Der BF sei auf Quetiapin und Escitalopram eingestellt worden. Es sei eine vollstationäre Behandlung empfohlen, diese vom BF aber abgelehnt worden. Der BF benötige ständige Betreuung und Unterstützung.

1.9. Am 07.05.2018 wurde der BF vor dem BFA niederschriftlich einvernommen. Dabei gab er an, dass er psychisch und physisch in der Lage sei, Angaben zu seinem Asylverfahren zu machen. Der BF sei in XXXX geboren und in der Provinz XXXX , Stadt XXXX , Ort XXXX , Dorf XXXX , aufgewachsen. Er habe keine Schule besucht und keinen Beruf ausgeübt. Sein Vater sei schwer verletzt worden, als der BF Afghanistan verlassen habe. Sein Vater sei bereits getötet worden, als er noch in Afghanistan gewesen sei, aber der BF könne sich an nichts mehr erinnern. Der BF habe die Ermordung gesehen, könne aber eigentlich nichts sagen. Er wisse nicht, wie viele Leute es gewesen seien. Der BF habe nur gesehen, dass sein Vater angeschossen worden sei. Der BF wisse nicht, wo der Vater angeschossen worden sei. Er wisse auch nicht, ob noch jemand anderer den Tod des Vaters beobachtet habe. Er habe alles betreffend den Tod seines Vaters vergessen. Der BF habe keinen Kontakt mehr zu Verwandten. Er wisse nicht, wo sich seine Mutter und seine Geschwister aufhalten.

Neuerlich zum Fluchtgrund befragt, gab der BF an, dass sein Vater bei der afghanischen Nationalarmee gewesen sei. Die Taliban hätten ihn aufgefordert, seine Tätigkeit zu beenden. Der Vater habe dies jedoch nicht gemacht und habe weiter für die Nationalarmee dienen wollen. Die Taliban hätten das Elternhaus des BF gestürmt und seinen Vater getötet. Dann hätten die älteren Leute des Dorfes des BF gemeint, dass er als Sohn seines Vaters auch in Gefahr wäre und das Land verlassen müsse. Deshalb sei der BF ins Ausland geschickt worden.

Der BF sei von den Taliban auch oft geschlagen worden. Wann das gewesen sei und wie das gewesen sei, wisse er nicht. Warum sie ihn geschlagen hätten, wisse er nicht. Sie hätten ihn an einen Sessel gebunden und mit einer Kalaschnikow geschlagen. Der BF sei krank und habe keine weiteren Erinnerungen. Er müsse zuerst gesund werden und Deutsch lernen. In Afghanistan würde er aber nie gesund werden. Er wolle auf keinen Fall dorthin zurückkehren.

Im Zuge der Einvernahme wurden vom BF bzw. seinem Vertreter die folgenden Dokumente vorgelegt:

* Bestätigung des XXXX vom 16.04.2018 betreffend die Teilnahme des BF am ifs-Bildungsprogamm;

* Interner Bericht des XXXX vom 07.06.2017;

* Befundanforderung des Landeskrankenhauses XXXX vom 28.06.2017;

* undatiertes Unterstützungsschreiben einer Privatperson;

* Deutschkursbesuchsbestätigung der XXXX vom 29.09.2017;

* Abschlusszertifikat (Teilnahme am Orientierungsworkshop " XXXX ") des XXXX vom 19.12.2016;

* Teilnahmebestätigung (Kurs: "Liebe verdient Respekt." - Sexualpädagogischer Workshop) des XXXX vom 30.11.2017;

* Basisbildungskursbesuchsbestätigung des XXXX vom 24.11.2017.

1.10. Mit Schreiben vom 08.05.2018 nahm der BF zu den seitens des BFA in das Verfahren eingebrachten Länderinformationen Stellung.

1.11. Das BFA wies den Antrag des BF auf internationalen Schutz mit Bescheid vom 22.06.2018, Zl. 1097159702-151892705, bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt II.). Das BFA erteilte dem BF keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.), erließ gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG (Spruchpunkt IV.) und stellte fest, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde für die freiwillige Ausreise eine Frist von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung bestimmt (Spruchpunkt VI.).

1.12. Gegen den unter Punkt 1.11. genannten Bescheid richtet sich die vom BF fristgerecht erhobene Beschwerde. Darin wiederholte der BF, dass sein Vater bei der afghanischen Armee gewesen sei, von den Taliban aufgefordert worden sei, seine Tätigkeit zu beenden, diese Forderung abgelehnt hätte und daraufhin von den Taliban getötet worden sei. Der BF wäre im Fall der Rückkehr nach Afghanistan ein exponiertes Ziel für Verfolgung aufgrund seiner Familienzugehörigkeit. Zudem seien geistige und psychische Erkrankungen in Afghanistan stark stigmatisiert. Der BF wäre im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan daher asylrelevanter Diskriminierung durch die afghanische Gesellschaft aufgrund mangelnder staatlicher Schutzfähigkeit und -willigkeit ausgesetzt.

1.13. Die Beschwerde und der bezughabende Verwaltungsakt langten am 27.07.2018 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

1.14. Am 28.03.2019 übermittelte der Vertreter des BF dem Bundesverwaltungsgericht die folgenden Dokumente:

* Aktenvermerk des Vertreters des BF vom 15.01.2019 betreffend eine Besprechung mit dem BF und dessen XXXX vom 14.01.2019 (ua Hinweis auf psychiatrische Behandlung des BF);

* Nervenfachärztlicher Befund von XXXX vom 17.01.2019 betreffend den BF (ua Diagnose: Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung;

rezidivierende depressive Störung mit raschen Stimmungswechseln);

* Bestätigung der XXXX vom 10.10.2018 betreffend die Verlängerung der Unterstützung zur Erziehung des BF trotz dessen Volljährigkeit;

* Beschluss des XXXX vom 30.11.2018, XXXX , mit dem Rechtsanwalt XXXX gemäß § 271 ABGB zum gerichtlichen Erwachsenenvertreter des BF bestellt wurde;

* Beschluss des XXXX vom 28.08.2018, XXXX , mit dem Rechtsanwalt XXXX gemäß § 120 AußStrG zum einstweiligen Erwachsenenvertreter des BF bestellt wurde.

1.15. Mit Schreiben vom 01.08.2019 übermittelte das Bundesverwaltungsgericht dem BF aktuelle Länderinformationen betreffend Afghanistan.

1.16. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 28.08.2019 in Anwesenheit einer Dolmetscherin für die Sprache Dari sowie im Beisein des BF, seiner Rechtsvertretung und eines Vertreters des BFA eine öffentliche mündliche Verhandlung durch. Dabei gab der BF an, dass er psychische Probleme habe und zwar seit er geboren sei. Er wisse nicht, warum er Afghanistan verlassen habe, da er alles vergesse. Er wisse nicht, mit wem er in Afghanistan gemeinsam aufgewachsen sei und würde seine Mutter, sollte er eine haben, nicht wiedererkennen. Er wisse nicht, ob er Geschwister habe und könne sich nicht daran erinnern, was er in seiner Einvernahme vor dem BFA angegeben habe.

In Afghanistan könne man nicht aus dem Haus gehen und sich draußen aufhalten. Man müsse ständig zu Hause bleiben, da es Explosionen gebe. Die Taliban hätten den BF geschlagen. Wenn sie einen kriegen würden, würden sie einen ständig schlagen. Der BF wisse nicht, wer entschieden habe, dass er Afghanistan verlasse und wer ihn nach Österreich gebracht habe. Er wisse auch nicht, ob er zu Fuß, mit dem Flugzeug oder mit dem Bus nach Österreich gekommen sei. Er wolle in Österreich bleiben, um gesund zu werden. Der BF habe in Österreich alleine im Zimmer gelernt, zu Lesen und zu Schreiben. Er habe einen Computer, den er alleine bedienen könne. Er lese und schreibe in Englisch und in Deutsch auf dem Computer und bediene ua Youtube.

In der Verhandlung legte der BF die folgenden Dokumente vor:

* Schreiben der XXXX vom 26.08.2019;

* Medikamentenaufstellung von XXXX vom 26.07.2019;

* Deutschkursbesuchsbestätigung;

* Volontariatsbestätigung.

1.17. Mit Schreiben vom 28.08.2019 führte das BFA aus, dass der BF nicht glaubwürdig sei, da er im Laufe der Verfahren vor dem BFA und dem Bundesverwaltungsgericht widersprüchliche Angaben gemacht habe, seine Vergesslichkeit vorgetäuscht habe, der BF willentlich nicht am Verfahren mitwirke und wahrheitswidrige Angaben zu seinem strafrechtlich relevanten Verhalten in Österreich gemacht habe.

1.18. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 10.09.2019, GZ W255 2202046-1/14Z, wurde XXXX zum Sachverständigen aus dem Fachgebiet Psychotherapie bestellt.

1.19. Am 04.10.2019 übermittelte der Vertreter des BF dem Bundesverwaltungsgericht eine Aufenthaltsbestätigung des Landeskrankenhauses XXXX vom 11.09.2019 betreffend einen stationären Aufenthalt des BF vom 06.09.2019 bis 11.09.2019 und einen Arztbrief des Landeskrankenhauses XXXX vom 10.09.2019 mit der Diagnose "Posttraumatische Belastungsstörung".

1.20. Am 10.10.2019 wurde der BF im Auftrag des Bundesverwaltungsgerichts durch den Sachverständigen XXXX einer (weiteren) Untersuchung unterzogen.

1.21. Am 18.11.2019 übermittelte der Sachverständige XXXX dem Bundesverwaltungsgericht das psychologische Gutachten vom 14.11.2019. Laut diesem Gutachten liege beim BF eine depressive Störung und posttraumatische Belastungsstörung vor. Es komme immer wieder zu Nahhallerinnerungen, panikartigen Angstzuständen, Albträumen und Schlafstörungen. Die Wiedergabefähigkeit des BF scheine eingeschränkt. Eine bewusste schlechtere Darstellung seiner Erinnerungsfähigkeit, Orientierungsfähigkeit und Aussagefähigkeit könne nicht ausgeschlossen werden. Grundsätzlich scheine der BF mit Einschränkungen in der Lage zu sein, Erlebtes wiederzugeben. Seine Orientierungsfähigkeit sei orts- bzw. situationsabhängig. Er scheine in der Lage zu sein, mit Einschränkungen schlüssige Angaben zu machen. Der BF sei grundsätzlich einvernahmefähig. Seine Arbeitsfähigkeit sei massiv eingeschränkt.

1.22. Mit Schreiben des Bundesverwaltungsgerichts vom 21.11.2019 wurden dem BF und dem BFA das psychologischen Gutachten vom 14.11.2019 sowie das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 13.11.2019 übermittelt und ihnen die Möglichkeit eingeräumt, hierzu zum Stellung zu nehmen.

1.23. Mit Schreiben vom 25.11.2019 führte das BFA aus, dass im Falle des BF augenscheinlich eine PTBS in Verbindung mit einer leichten Intelligenzminderung vorliege, hinsichtlich der Amnesie jedoch lediglich Hinweise vorliegen würden, welcher aber nicht diese Form der Amnesie, wie sie vom BF gezeigt werden, begründen lassen würden. So werde im Gutachten mehrfach darauf hingewiesen, dass der BF sich mit einem schlechteren Erinnerungsvermögen darstelle und dies teilweise nicht nachvollziehbar sei. Überdies werde auf S. 16 des Gutachtens verwiesen, wo aus Sicht des BFA eindeutig die berechnende Vorgehensweise des BF dargelegt werde, da dieser angebe, dass es ihm mit einem positiveren Asylbescheid bessergehen würde. Für das BFA sei eine Verhandlungsunfähigkeit nicht erkennbar, ebenso wenig wie eine tatsächliche Amnesie.

1.24. Mit Schreiben vom 02.12.2019 führte der Vertreter des BF aus, dass der BF an einer Intelligenzminderung leide, seine Wiedergabefähigkeit zur Zeit eingeschränkt sei, da sich Hinweise auf eine dissoziative Amnesie fänden und der BF an einer depressiven Störung und posttraumatischen Belastungsstörung leide. Der BF habe seine Erinnerungsfähigkeit vor dem Bundesverwaltungsgericht nicht bewusst schlechter dargestellt. Er sei am Ende seiner Kräfte und habe am 06.09.2019 einen Suizidversuch unternommen. Er leide unter massivem Stress. Der BF stehe unter dem Einfluss von Psychopharmaka und könne nur so einen Alltag einigermaßen bewältigen. Der BF sei nicht arbeitsfähig und könne keinesfalls zurück nach Afghanistan. Menschen mit psychischen Störungen wie der BF seien in Afghanistan weit verbreiteter Stigmatisierung, fehlenden Behandlungsmöglichkeiten und lebensbedrohlichen, unmenschlichen Praktiken ausgesetzt. Der BF wäre auch einer Verfolgung durch die Taliban ausgesetzt.

2. Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage des gegenständlich erhobenen Antrages auf internationalen Schutz, der Erstbefragung sowie Einvernahme des BF durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sowie des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, der Beschwerde gegen den im Spruch genannten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, der im Verfahren vorgelegten Dokumente, der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht vom 28.08.2019, der Länderberichte zu Afghanistan sowie der Einsichtnahme in den Bezug habenden Verwaltungsakt, das Zentrale Melderegister, das Fremdeninformationssystem, das Strafregister, das Grundversorgungs-Informationssystem und die durch den Sachverständigen XXXX erstellten Gutachten vom 30.12.2017 und 14.11.2019 werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:

2.1. Zur Person des BF:

2.1.1. Der BF führt den Namen XXXX und ist am XXXX im Dorf XXXX, Distrikt XXXX , Provinz XXXX geboren und gemeinsam mit seinen Eltern und zwei Brüdern (zum Entscheidungszeitpunkt ca. 13 und 16 Jahre alt) aufgewachsen. Er hat sich in Afghanistan abgesehen von seiner Ausreise Richtung Europa nie außerhalb seiner Heimatprovinz aufgehalten.

2.1.2. Der BF ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und sunnitischer Muslim. Die Muttersprache des BF ist Dari.

2.1.3 Der BF steht seit seiner Einreise in Österreich nicht mehr in Kontakt mit seinen Verwandten. Der BF hält keinen Kontakt zu Menschen, die in Afghanistan leben.

2.1.4. Der BF kann Lesen und Schreiben. Er ist noch nie einer regelmäßigen Erwerbstätigkeit nachgegangen.

2.1.5. Der BF leidet an einer posttraumatischen Belastungsstörung (F43.1), massiven Schlafstörungen und einer rezidivierenden depressiven Störung mit raschen Stimmungswechseln (emotionale Instabilität). Es kommt immer wieder zu Nachhallerinnerungen (Flashbacks), panikartigen Angstzuständen, Albträumen und Schlafstörungen.

Es finden sich Hinweise, die für eine dissoziative Symptomatik in Form einer dissoziativen Amnesie (F44.0) sprechen. Eine extrem ausgeprägte Form der dissoziativen Amnesie, wie vom BF im Verfahren teils gezeigt, ist nicht sehr wahrscheinlich. Es zeigen sich beim BF immer wieder Tendenzen zur schlechteren Darstellung seiner Erinnerungsfähigkeit.

Es ist mit hoher Wahrscheinlichkeit von einer leichten Intelligenzminderung des BF auszugehen.

Der BF leidet nicht unter einer kognitiven Beeinträchtigung. Er leidet nicht unter psychotischem Geschehen wie Wahn oder Halluzinationen. Es liegt keine Persönlichkeitsstörung vor.

Der BF ist teilnahme- und einvernahmefähig und mit Einschränkungen in der Lage, Angaben zu machen. Seine Wiedergabefähigkeit ist eingeschränkt. Seine Aussagefähigkeit ist in einer sicheren, stress- und angstfreier Umgebung besser.

Der BF befindet sich seit 05.06.2018 in psychiatrischer Behandlung. Eine begleitende Psychotherapie wird vom BF abgelehnt. Der BF nimmt folgende Medikamente regelmäßig ein: Adjuvin 50mg, Trittico 75mg retard, Dominal forte 80mg und Alprazolam 0,5mg.

2.1.6. Der BF ist volljährig und im erwerbsfähigen Alter. Die Arbeitsfähigkeit des BF ist massiv einschränkt. Er ist nicht in der Lage, eine geregelte Tagesstruktur einzuhalten. Er kann sich nur schwer über einen längeren Zeitraum konzentrieren.

2.1.7. Mit Beschluss des XXXX vom 28.08.2018, XXXX , wurde Rechtsanwalt XXXX aufgrund einer Anregung der XXXX und einem eingeholten Clearingbericht der XXXX gemäß § 120 AußStrG zum einstweiligen Erwachsenenvertreter des BF bestellt.

2.1.8. Mit Beschluss des XXXX vom 30.11.2018, XXXX , wurde Rechtsanwalt XXXX aufgrund der PTBS und dem akutes depressiven Geschehen des BF gemäß § 271 ABGB bis zum 30.11.2021 zum gerichtlichen Erwachsenenvertreter des BF bestellt.

2.1.9. Der BF ist in einer betreuten Wohngemeinschaft in XXXX untergebracht. Seitens der XXXX wurde trotz Erreichen der Volljährigkeit seitens des BF die Unterstützung zur Erziehung verlängert.

2.1.10. Der BF stellte nach unrechtmäßiger Einreise im österreichischen Bundesgebiet am 28.11.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

2.2. Zur Integration des BF in Österreich:

2.2.1. Der BF hat mehrere Deutschkurse auf A1 Niveau besucht und wurde von Privatpersonen in Form von Einzelstunden zusätzlich unterrichtet.

2.2.2. Der BF hat an verschiedenen Angeboten wie Sport- und Kulturveranstaltungen, Wanderungen und anderen gemeinschaftsbildenden Angeboten des XXXX teilgenommen.

2.2.3. Der BF hat von November bis Dezember 2016 am Orientierungsworkshop " XXXX " teilgenommen.

2.2.4. Der BF hat am 30.10.2017 an einem sexualpädagogischen Workshop teilgenommen.

2.2.5. Der BF hat sich in den Jahren 2016 und 2017 ehrenamtlich betätigt (Mitarbeit im Klostergarten XXXX über mehrere Monate, Mitarbeit beim XXXX Weihnachtsmarkt 2016, Mitarbeit bei Veranstaltungen im XXXX , Mitarbeit bei der Flurreinigung, Mithilfe bei Auf- und Abbau des Musikfestes in XXXX ).

2.2.6. Der BF verfügt über keine Verwandten oder sonstigen engen Bindungen in Österreich.

2.2.7. Der BF ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

2.3. Zu den Fluchtgründen des BF und einer Rückkehr nach Afghanistan:

2.3.1. Der BF konnte nicht glaubhaft machen, dass sein Vater und/oder Onkel von den Taliban bedroht und/oder getötet wurde.

2.3.2. Der BF konnte nicht glaubhaft machen, dass er in Afghanistan je von den Taliban bedroht oder verfolgt wurde oder im Falle der Rückkehr nach Afghanistan einer konkret gegen ihn gerichteten Verfolgung durch Taliban ausgesetzt wäre.

2.3.3. Der BF wurde in Afghanistan nie aufgrund seiner gesundheitlichen Beeinträchtigungen und/oder seiner Intelligenzminderung (siehe Punkt 2.1.4.) bedroht oder verfolgt. Der BF konnte nicht glaubhaft machen, dass er im Falle der Rückkehr nach Afghanistan einer konkret gegen ihn gerichteten Verfolgung aufgrund seiner gesundheitlichen Beeinträchtigungen und/oder seiner Intelligenzminderung (siehe Punkt 2.1.4.) ausgesetzt wäre.

2.3.4. Der BF wurde in seinem Herkunftsstaat niemals inhaftiert und hatte mit den Behörden seines Herkunftsstaates weder auf Grund seiner Rasse, Nationalität, seines Religionsbekenntnisses oder seiner Volksgruppenzugehörigkeit noch sonst irgendwelche Probleme. Der BF war nie politisch tätig und gehörte nie einer politischen Partei an. Es gibt insgesamt keinen stichhaltigen Hinweis, dass der BF im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan einer Verfolgung ausgesetzt wäre.

2.3.5. Der BF hätte im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan keinen Zugang zu einem traditionellen Unterstützungsnetzwerk durch Mitglieder der Familie oder Mitglieder seiner ethnischen Gruppe und gleichzeitig Zugang zu Unterkunft, grundlegender Versorgung wie sanitärer Infrastruktur, Gesundheitsdiensten und Bildung und zu Erwerbsmöglichkeiten.

2.3.6. Dem BF würde derzeit bei einer Rückkehr in seine Herkunftsprovinz XXXX ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Zudem liefe er bei einer Rückkehr in seine Herkunftsprovinz XXXX mangels familiärer Anknüpfungspunkte und aufgrund seiner gesundheitlichen Beeinträchtigungen Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Auch im Falle der Rückkehr nach Afghanistan und einer Ansiedelung außerhalb seiner Herkunftsprovinz, insbesondere in den Städten Mazar-e Sharif, Herat und Kabul, liefe der BF Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu

2.4. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Aufgrund der im Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des BF getroffen:

2.4.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation mit Stand vom 13.11.2019:

1. Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 3.9.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison - was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.4.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.6.2019; vgl. AJ 12.4.2019; NYT 12.4.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.4.2019; vgl. NYT 12.4.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen, waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.6.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt - dies hatte zum Ziel die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.1.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss. Als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten - als Reaktion auf einen Anschlag - absagte (DZ 8.9.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 6.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 3.9.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 7.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.8. - 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. (SIGAR 30.4.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran ihr Ziel zu erreichen (USDOD 6.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 3.9.2019).

So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 3.9.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 7.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 7.12.2018; vgl. ARN 23.6.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit - insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan. (UNGASC 3.9.2019).

Für das gesamte Jahr 2018, registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.2.2019).

Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevanter Vorfälle - eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 3.9.2019). Für den Berichtszeitraum 8.2-9.5.2019 registrierte die UN insgesamt 5.249 sicherheitsrelevante Vorfälle - ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.6.2019).

Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften, weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet - 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UNGASC 3.9.2019).

Im Gegensatz dazu, registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit

29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten, beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).

Global Incident Map (GIM) verzeichnete in den ersten drei Quartalen des Jahres 2019 3.540 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahr 2018 waren es 4.433.

Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56% auf 54% der Distrikte ab, die Kontrolle bzw. Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15% auf 12%. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29% auf 34%. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5% zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6% der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast zwei Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.1.2019).

Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39% der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37% von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20% der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4% der Distrikte (MA 14.1.2019).

Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation (SIGAR 30.4.2019). Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019).

1.1. Zivile Opfer

Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 1.1.-30.9.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) - dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41% der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September - im Gegensatz zu 2019 - von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 17.10.2019).

Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) (SIGAR 30.4.2019) berichtet bzw. dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge, entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5% bzw. 11% bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die meisten zivilen Opfer wurden im Jahr 2018 in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab verzeichnet, wobei die beiden Provinzen mit der höchsten zivilen Opferanzahl - Kabul (1.866) und Nangarhar (1.815) - 2018 mehr als doppelt so viele Opfer zu verzeichnen hatten, wie die drittplatzierte Provinz Helmand (880 zivile Opfer) (UNAMA 24.2.2019; vgl. SIGAR 30.4.2019). Im Jahr 2018 stieg die Anzahl an dokumentierten zivilen Opfern aufgrund von Handlungen der regierungsfreundlichen Kräfte um 24% gegenüber 2017. Der Anstieg ziviler Opfer durch Handlungen regierungsfreundlicher Kräfte im Jahr 2018 wird auf verstärkte Luftangriffe, Suchoperationen der ANDSF und regierungsfreundlicher bewaffneter Gruppierungen zurückgeführt (UNAMA 24.2.2019).

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl im gesamten Jahr 2018 (USDOD 12.2018), als auch in den ersten fünf Monaten 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 6.2019; vgl. USDOD 12.2018). Diese Angriffe sind stetig zurückgegangen (USDOD 6.2019). Zwischen 1.6.2018 und 30.11.2018 fanden 59 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 73) (USDOD 12.2018), zwischen 1.12.2018 und15.5.2019 waren es 6 HPAs (Vorjahreswert: 17) (USDOD 6.2019).

Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten

Die Zahl der Angriffe auf Gläubige, religiöse Exponenten und Kultstätten war 2018 auf einem ähnlich hohen Niveau wie 2017: bei 22 Angriffen durch regierungsfeindliche Kräfte, meist des ISKP, wurden 453 zivile Opfer registriert (156 Tote, 297 Verletzte), ein Großteil verursacht durch Selbstmordanschläge (136 Tote, 266 Verletzte) (UNAMA 24.2.2019).

Für das Jahr 2018 wurden insgesamt 19 Vorfälle konfessionell motivierter Gewalt gegen Schiiten dokumentiert, bei denen es insgesamt zu 747 zivilen Opfern kam (223 Tote, 524 Verletzte). Dies ist eine Zunahme von 34% verglichen mit dem Jahr 2017. Während die Mehrheit konfessionell motivierter Angriffe gegen Schiiten im Jahr 2017 auf Kultstätten verübt wurden, gab es im Jahr 2018 nur zwei derartige Angriffe. Die meisten Anschläge auf Schiiten fanden im Jahr 2018 in anderen zivilen Lebensräumen statt, einschließlich in mehrheitlich von Schiiten oder Hazara bewohnten Gegenden. Gezielte Attentate und Selbstmordangriffe auf religiöse Führer und Gläubige führten, zu 35 zivilen Opfern (15 Tote, 20 Verletzte) (UNAMA 24.2.2019).

Angriffe im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen im Oktober 2018

Die afghanische Regierung bemühte sich Wahllokale zu sichern, was mehr als 4 Millionen afghanischen Bürgern ermöglichte zu wählen (UNAMA 11.2018). Und auch die Vorkehrungen der ANDSF zur Sicherung der Wahllokale ermöglichten eine Wahl, die weniger gewalttätig war als jede andere Wahl der letzten zehn Jahre (USDOS 12.2018). Die Taliban hatten im Vorfeld öffentlich verkündet, die für Oktober 2018 geplanten Parlamentswahlen stören zu wollen. Ähnlich wie bei der Präsidentschaftswahl 2014 warnten sie Bürger davor, sich für die Wahl zu registrieren, verhängten "Geldbußen" und/oder beschlagnahmten Tazkiras und bedrohten Personen, die an der Durchführung der Wahl beteiligt waren (UNAMA 11.2018; vgl. USDOS 13.3.2019). Von Beginn der Wählerregistrierung (14.4.2018) bis Ende des Jahres 2018, wurden 1.007 Opfer (226 Tote, 781 Verletzte) sowie 310 Entführungen aufgrund der Wahl verzeichnet (UNAMA 24.2.2019). Am Wahltag (20.10.2018) verifizierte UNAMA 388 zivile Opfer (52 Tote und 336 Verletzte) durch Wahl bedingte Gewalt. Die höchste Anzahl an zivilen Opfern an einem Wahltag seit Beginn der Aufzeichnungen durch UNAMA im Jahr 2009 (UNAMA 11.2018).

1.2. Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 6.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 6.2019).

Taliban

Die USA sprechen seit rund einem Jahr mit hochrangigen Vertretern der Taliban über eine politische Lösung des langjährigen Afghanistan-Konflikts. Dabei geht es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan kein sicherer Hafen für Terroristen wird. Beide Seiten hatten sich jüngst optimistisch gezeigt, bald zu einer Einigung zu kommen (FAZ 21.8.2019). Während dieser Verhandlungen haben die Taliban Forderungen eines Waffenstillstandes abgewiesen und täglich Operationen ausgeführt, die hauptsächlich die afghanischen Sicherheitskräfte zum Ziel haben. (TG 30.7.2019). Zwischen 1.12.2018 und 31.5.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zu Ziel. Das wird als Versuch gewertet, in den Friedensverhandlungen ein Druckmittel zu haben (USDOD 6.2019).

Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. FA 3.1.2018) - Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub - Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar - und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.5.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.1.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o. D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018).

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.8.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.1.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.8.2017; vgl. AAN 3.1.2017; AAN 17.3.2017).

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll12 Ableger, in acht Provinzen betreibt (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019).

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.8.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.8.2017).

Haqqani-Netzwerk

Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.2.2019). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (AAN 1.7.2010; vgl. USDOS 19.9.2018; vgl. CRS 12.2.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani, der seit 2015, als stellvertretender Leiter galt (CTC 1.2018).

Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk, seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.8.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 12.2.2019).

Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)

Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 5.3.2015). Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (AAN 1.8.2017; vgl. LWJ 4.12.2017). Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 1.500 und 3.000 (USDOS 18.9.2018), bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern (UNSC 13.6.2019). Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Auch soll der Islamische Staat vom zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan sowie von aus Syrien geflohenen Kämpfern profitieren (BAMF 3.6.2019; vgl. VOA 21.5.2019).

Berichten zufolge, besteht der ISKP in Pakistan hauptsächlich aus ehemaligen Teherik-e Taliban Mitgliedern, die vor der pakistanischen Armee und ihrer militärischen Operationen in der FATA geflohen sind (CRS 12.2.2019; vgl. CTC 12.2018). Dem Islamischen Staat ist es gelungen, seine organisatorischen Kapazitäten sowohl in Afghanistan als auch in Pakistan dadurch zu stärken, dass er Partnerschaften mit regionalen militanten Gruppen einging. Seit 2014 haben sich dem Islamischen Staat mehrere Gruppen in Afghanistan angeschlossen, z.B. Teherik-e Taliban Pakistan (TTP)-Fraktionen oder das Islamic Movement of Uzbekistan (IMU), während andere ohne formelle Zugehörigkeitserklärung mit IS-Gruppierungen zusammengearbeitet haben, z.B. die Jundullah-Fraktion von TTP oder Lashkar-e Islam (CTC 12.2018).

Der islamische Staat hat eine Präsenz im Osten des Landes, insbesondere in der Provinz Nangarhar, die an Pakistan angrenzt (CRS 12.2.2019; vgl. CTC 12.2018). In dieser sind vor allem bestimmte südliche Distrikte von Nangarhar betroffen (AAN 27.9.2016; vgl. REU 23.11.2017; AAN 23.9.2017; AAN 19.2.2019), wo sie mit den Taliban um die Kontrolle kämpfen (RFE/RL 30.10.2017; vgl. AAN 19.2.2019). Im Jahr 2018 erlitt der ISKP militärische Rückschläge sowie Gebietsverluste und einen weiteren Abgang von Führungspersönlichkeiten. Einerseits konnten die Regierungskräfte die Kontrolle über ehemalige IS-Gebiete erlangen, andererseits schwächten auch die Taliban die Kontrolle des ISKP in Gebieten in Nangarhar (UNSC 13.6.2019; vgl. CSR 12.2.2019). Aufgrund der militärischen Niederlagen war der ISKP dazu gezwungen, die Anzahl seiner Angriffe zu reduzieren. Die Gruppierung versuchte die Provinzen Paktia und Logar im Südosten einzunehmen, war aber schlussendlich erfolglos (UNSC 31.7.2019). Im Norden Afghanistans versuchten sie ebenfalls Fuß zu fassen. Im August 2018 erfuhr diese Gruppierung Niederlagen, wenngleich sie dennoch als Bedrohung in dieser Region wahrgenommen wird (CSR 12.2.2019). Berichte über die Präsenz des ISKP könnten jedoch übertrieben sein, da Warnungen vor dem Islamischen Staat laut einem Afghanistan-Experten "ein nützliches Fundraising-Tool" sind: so kann die afghanische Regierung dafür sorgen, dass Afghanistan im Bewusstsein des Westens bleibt und die Auslandshilfe nicht völlig versiegt (NAT 12.1.2017). Die Präsenz des ISKP konzentrierte sich auf die Provinzen Kunar und Nangarhar. Außerhalb von Ostafghanistan ist es dem ISKP nicht möglich, eine organisierte oder offene Präsenz aufrechtzuerhalten (UNSC 13.6.2019).

Neben komplexen Angriffen auf Regierungsziele, verübte der ISKP zahlreiche groß angelegte Anschläge gegen Zivilisten, insbesondere auf die schiitische-Minderheit (CSR 12.2.2019; vgl. UNAMA 24.2.2019; AAN 24.2.2019; CTC 12.2018; UNGASC 7.12.2018; UNAMA 10.2018). Im Jahr 2018 war der ISKP für ein Fünftel aller zivilen Opfer verantwortlich, obwohl er über eine kleinere Kampftruppe als die Taliban verfügt (AAN 24.2.2019). Die Zahl der zivilen Opfer durch ISKP-Handlungen hat sich dabei 2018 gegenüber 2017 mehr als verdoppelt (UNAMA 24.2.2019), nahm im ersten Halbjahr 2019 allerdings wieder ab (UNAMA 30.7.2019).

Der ISKP verurteilt die Taliban als "Abtrünnige", die nur ethnische und/oder nationale Interessen verfolgen (CRS 12.2.2019). Die Taliban und der Islamische Staat sind verfeindet. In Afghanistan kämpfen die Taliban seit Jahren gegen den IS, dessen Ideologien und Taktiken weitaus extremer sind als jene der Taliban (WP 19.8.2019; vgl. AP 19.8.2019). Während die Taliban ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränken (AP 19.8.2019), zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt in Afghanistan zu fördern, indem sich Angriffe gegen Schiiten richten (WP 19.8.2019).

Al-Qaida und ihr verbundene Gruppierungen

Al-Qaida sieht Afghanistan auch weiterhin als sichere Zufluchtsstätte für ihre Führung, basierend auf langjährigen und engen Beziehungen zu den Taliban. Beide Gruppierungen haben immer wieder öffentlich die Bedeutung ihres Bündnisses betont (UNSC 15.1.2019). Unter der Schirmherrschaft der Taliban ist al-Qaida in den letzten Jahren stärker geworden; dabei wird die Zahl der Mitglieder auf 240 geschätzt, wobei sich die meisten in den Provinzen Badakhshan, Kunar und Zabul befinden. Mentoren und al-Qaida-Kadettenführer sind oftmals in den Provinzen Helmand und Kandahar aktiv (UNSC 13.6.2019).

Al-Qaida will die Präsenz in der Provinz Badakhshan stärken, insbesondere im Distrikt Shighnan, der an der Grenze zu Tadschikistan liegt, aber auch in der Provinz Paktika, Distrikt Barmal, wird versucht die Präsenz auszubauen. Des Weiteren fungieren al-Qaida-Mitglieder als Ausbilder und Religionslehrer der Taliban und ihrer Familienmitglieder (UNSC 13.6.2019).

Im Rahmen der Friedensgespräche mit US-Vertretern haben die Taliban angeblich im Jänner 2019 zugestimmt, internationale Terrorgruppen wie Al-Qaida aus Afghanistan zu verbannen (TEL 24.1.2019).

2. Sicherheitslage in der Provinz Nangarhar

Nangarhar liegt im Osten Afghanistans, an der afghanisch-pakistanischen Grenze. Die Provinz grenzt im Norden an Laghman und Kunar, im Osten und Süden an Pakistan (Tribal Distrikts Kurram, Khyber und Mohmand der Provinz Khyber Pakhtunkhwa) und im Westen an Logar und Kabul (NPS o.D.na; vgl. UNOCHA 16.4.2010, UNOCHA 4.2018na). Die Provinzhauptstadt von Nangarhar ist Jalalabad (NPS o. D.na; vgl. OPr 1.2.2017na). Die Provinz ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Achin, Bati Kot, Behsud, Chaparhar, Dara-e-Nur, Deh Bala (auch Haska Mena (AB19.9.2016; VOA 28.6.2019)), Dur Baba, Goshta, Hesarak, Jalalabad, Kama, Khugyani, Kot, Kuzkunar, Lalpoor, Muhmand Dara, Nazyan, Pachiragam, Rodat, Sher Zad, Shinwar und Surkh Rud (CSO 2019; vgl. IEC 2018na, UNOCHA 4.2014na, NPS o. D.na) sowie dem temporären Distrikt Spin Ghar (CSO 2019; vgl. IEC 2018na).

Die afghanische zentrale Statistikorganisation (CSO) schätzte die Bevölkerung von Nangarhar für den Zeitraum 2019-20 auf 1.668.481 Personen - davon 263.312 Einwohner in der Hauptstadt Jalalabad (CSO 2019). Die Bevölkerung besteht hauptsächlich aus Paschtunen, gefolgt von Pashai, Arabern und Tadschiken (NPS o.D.na). Mitglieder der Sikh- und Hindu-Gemeinschaft lebten in der Provinz Nangarhar, insbesondere in und um Jalalabad (AAN 23.9.2013). Viele von ihnen haben Afghanistan aus unterschiedlichen Gründen wie z.B. Unsicherheit verlassen. Mit Stand September 2018 lebten noch 60 Familien in der Gemeinde in Nangarhar (SW 23.9.2018).

Die asiatische Autobahn AH-1 führt durch die Distrikte Surkhrod, Jalalabad, Behsud, Rodat, Batikot, Shinwar, Muhmand Dara zum afghanisch-pakistanischen Grenzübergang Torkham (MoPW 16.10.2015; vgl. UNOCHA 4.2014na). Die Provinz, die an die ehemaligen Stammesgebiete unter Bundesverwaltung (FATA) Pakistans grenzt, dient als inoffizieller Korridor für in- und ausländische Aufständische (AAN 27.9.2016; vgl. VOA 28.6.2019; PF 15.5.2019; NA 25.1.2018).

Laut dem UNODC Opium Survey 2018 war Nangarhar in der östlichen Region die führende Provinz beim Schlafmohnanbau, obwohl die Anbaufläche 2018 im Vergleich zu 2017 um 9% gesunken ist. Der Rückgang betraf die Distrikte Khogyani, Chaparhar und Lalpoor, während in Kot, Shinwar und Achin ein Anstieg verzeichnet wurde. Die meisten staatlich durchgeführten Mohnvernichtungsaktionen fanden in der Provinz Nangarhar statt (UNODC/MCN 11.2018).

Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure

In Nangarhar, die als strategische Provinz gilt (RY 27.4.2019), war seit 2011 eine Verschlechterung der politischen und sicherheitspolitischen Situation zu beobachten (AAN 27.9.2016; vgl. TBIJ 30.7.2018, NA 25.1.2018). Korruption, lokale Machtkämpfe und das Versagen, effektive Dienstleistungen zu erbringen, untergruben das Vertrauen der Bevölkerung in die afghanische Regierung, die die Bevölkerung ungeschützt gegen Aufständische zurückließ, aber auch der Rückzug der internationalen Streitkräfte in der Provinz ab dem Jahr 2013 trug dazu bei (AAN 27.9.2016). Nichtsdestotrotz sind Bemühungen der Regierung auf dem Weg, um Sicherheit zu gewährleisten, Landraub und Korruption vorzubeugen sowie die Koordinierung zwischen den Sicherheits- und Rechtsorganen zu verbessern (PAJ 20.1.2019). So arbeitet die UNAMA auch weiterhin auf lokaler Ebene mit ansässigen Gemeinschaften und Behörden, um Frieden und Konfliktlösungsbemühungen umzusetzen und voranzutreiben; so auch in der Provinz Nangarhar, wo UNAMA eine Friedensjirga zwischen zwei Stämmen im Distrikt Sher Zad einberief - an der zum ersten Mal auch Frauen eine aktive Rolle einnahmen. Diese Jirga führte zu einem Beschluss über die Verteilung von Wasser, der auch angenommen wurde (UNGASC 14.6.2019).

Auch ebnete ein politisches und militärisches Vakuum, das die Provinz seit Jahren heimgesucht hatte, rund um das Jahr 2016 den Weg für den Aufstieg des afghanischen Zweiges des Islamischen Staates, dem Islamischen Staat in der Provinz Khorasan (ISKP) (AAN 27.9.2016). So erleichterten beispielsweise Stammesrivalitäten innerhalb des Distriktes Shinwar den Aufstieg des ISKP in der Provinz (AAN 27.9.2016). Verschiedene militante Gruppen - afghanische, ausländische, sowie salafistische Kämpfer innerhalb der Taliban - trugen dazu bei, die Taliban in Nangarhar zu destabilisieren - viele von ihnen schlossen sich dem ISKP an (AAN 27.9.2016).

Im Februar 2019 galt Nangarhar als eine der ISKP-Hochburgen Afghanistans (UNSC 1.2.2019). Die Schätzungen über die Stärke des ISKP gehen auseinander: so geht eine Quelle von rund 3.000 Kämpfern im Osten Afghanistans (Provinzen Nangarhar und Kunar) aus (UNAMA 24.2.2019), während die ISKP-Stärke von einer anderen Quelle in ganz Afghanistan - jedoch insbesondere in Nangarhar und den angrenzenden östlichen Provinzen - im Juni 2019 auf 2.500-4.000 Kämpfer geschätzt wurde (UNSC 13.6.2019).

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten