Entscheidungsdatum
22.11.2019Norm
B-VG Art. 133 Abs4Spruch
W191 1425810-3/3E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Rosenauer als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch Verein Menschenrechte Österreich, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 23.10.2019, Zahl 811279209-190936245, zu Recht:
A)
In teilweiser Stattgebung der Beschwerde gegen Spruchpunkt VII. wird das Einreiseverbot auf § 53 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 FPG gestützt und die Dauer auf drei Jahre bemessen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
1. Verfahrensgang:
1.1. Vorverfahren:
1.1.1. Der Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste irregulär und schlepperunterstützt in Österreich ein und stellte am 25.10.2011 einen (ersten) Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG).
1.1.2. In seiner Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes und Einvernahme durch das Bundesasylamt (in der Folge BAA) gab der BF, jeweils im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari, im Wesentlichen an, dass er im Zuge seiner Tätigkeit als Englischlehrer ein Mädchen kennengelernt habe, das ihn zu verführen versucht hätte. Sie hätte ihm einen Heiratsantrag gemacht. Als die Familie des Mädchens davon erfahren hätte, sei er von ihren Angehörigen verfolgt und mit dem Tode bedroht worden. Sie hätten ihn über seine Kursteilnehmer ausrichten lassen, dass sie ihn umbringen würden, sobald sie ihn erwischen würden.
1.1.3. Mit Bescheid vom 14.03.2012 wies das BAA diesen (ersten) Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 25.10.2011 gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm den Status eines Asylberechtigten ebenso wie gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zu (Spruchpunkt II.) und verband diese Entscheidung gemäß § 10 Abs. 1 Z 2 AsylG mit einer Ausweisung nach Afghanistan.
1.1.4 Das gegen diesen Bescheid eingebrachte Rechtsmittel der Beschwerde wies der Asylgerichtshof (in der Folge AsylGH) mit Erkenntnis vom 13.08.2013, Zahl C13 425.810-1/2012/3E, zugestellt am 27.08.2013, als unbegründet ab.
1.1.5. Am 08.09.2013 wurde der BF bei der Polizei wegen Diebstahls und Betrugs angezeigt. Es seien aus einem im Fahrzeug befindlichen Handschuhfach 2.000 Euro gestohlen worden. Außerdem habe der BF der Anzeigenlegerin im Zeitraum Juli bis August 2013 durch Vortäuschung von Tatsachen 200 Euro in betrügerischer Absicht herausgelockt und sich dadurch unrechtmäßig bereichert. Nachdem der BF den Schaden offenbar wieder gutgemacht hatte, zog die Anzeigenlegerin ihre Anzeige wieder zurück.
1.1.6. Am 07.11.2013 wurde der BF wegen Übertretung der fremdenpolizeilichen Vorschriften angezeigt, da er sich am 30.10.2013 noch immer im Bundesgebiet aufgehalten hatte, über sein Asylverfahren aber bereits rechtskräftig negativ entschieden worden war, gegen ihn eine rechtskräftige Ausweisung erlassen worden war und er keine der im § 31 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 (in der Folge FPG) genannten Voraussetzungen für den rechtmäßigen Aufenthalt erfüllte. Im Zuge der Personenkontrolle am 30.10.2013 wurde ihm die Aufenthaltsberechtigungskarte gemäß AsylG aufgrund des rechtskräftig negativ abgeschlossenen Asylverfahrens abgenommen.
Mit Schreiben vom 21.03.2014 regte der BF die Ausstellung einer Karte für Geduldete nach § 46a Abs. 1a FPG an.
1.1.7. Am 02.01.2015 stellte der BF einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK gemäß § 55 AsylG.
Am 21.05.2015 stellte er einen zweiten (Folge-) Antrag auf internationalen Schutz aufgrund geänderter Umstände.
Darin brachte er vor, dass er am 05.07.2014 die gebürtige Österreicherin XXXX (die vormalige Anzeigenlegerin) geheiratet habe. Im Falle einer Rückkehr in sein Heimatland fürchte er um sein Leben. Er möchte bei seiner Ehefrau in Österreich bleiben.
Als Beweismittel legte er die Heiratsurkunde vom 05.07.2014, seinen Meldezettel, seine Geburtsurkunde und eine Passkopie seiner Ehefrau vor.
1.1.8. In der am 01.07.2015 durchgeführten Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA) gab der BF an, dass er manchmal mit seinem Onkel väterlicherseits, der in Baghlan lebe, über Facebook Kontakt habe. Diesem gehe es finanziell schlecht. Er sei Landwirt. Einmal im Monat telefoniere er mit seinen Eltern. Sie würden noch in seinem Heimatdorf leben. Seine Geschwister seien bei einem Vorfall ums Leben gekommen. Sein Vater handle mit Autos und seine Mutter sei zu Hause. Seine Eltern hätten auch zwei Grundstücke gehabt. Eines habe sein Vater verkauft, um das Geld an einen Autohändler zu verleihen, und das zweite würden sie noch besitzen, es werde für den Gemüseanbau genutzt. Seine Angaben aus dem Vorverfahren halte er vollinhaltlich aufrecht. Inzwischen habe er gehört, dass sein Leben nach wie vor in Gefahr sei. Wenn er zurückkehre, würden sie ihn umbringen. Die Brüder des Mädchens, mit dem er sich immer wieder heimlich getroffen hätte, würden im Dorf nach dem BF fragen. Das Mädchen sei damals misshandelt worden und ihre Familie hätte sie sogar töten wollen. Da die Freunde des BF damals gemeint hätten, dass es für ihn gefährlich sei, sei er geflüchtet.
Befragt nach dem Vorfall bezüglich seiner Geschwister schilderte der BF, dass seine Schwester vor ca. acht Monaten auf dem Weg zur Schule mit einem Messer umgebracht worden sei. Der BF gehe davon aus, dass sie von den Brüdern des Mädchens umgebracht worden sei. Seine Mutter habe ihm aber nichts Näheres über den Vorfall erzählen wollen. Sein Bruder sei im Zuge eines Selbstmordattentats ums Leben gekommen. Der BF glaube aber, dass dies auch diese Leute gewesen seien. Ein weiterer Bruder und eine weitere Schwester würden bei seinen Eltern leben. Beweise für sein Vorbringen gebe es keine, der BF wisse aber, dass es so gewesen sei. Der Vater des Mädchens sei ein großer einflussreicher Mann. Seinen Namen gab er abweichend von seinen Angaben im Erstverfahren an.
Befragt zu seinen zwischenzeitlich geänderten Umständen gab er an, dass er geheiratet habe, nun glücklich sei und sich hier zu Hause fühle. Seine Frau würde ihn seit zwei Jahren unterstützen. Er beziehe keine Unterstützung und wolle Kinder haben. Er hätte inzwischen auch eine Arbeit gefunden, aber er habe keine Arbeitserlaubnis. Der BF legte ein Deutschzertifikat A2, eine Arbeitszusage für ein geringfügiges Beschäftigungsverhältnis bei einem Einzelunternehmer, Unterstützungserklärungen und diverse andere Dokumente vor.
Mit Stellungnahme vom 23.06.2016 legte der BF eine Einstellungszusage bei einem Spenglereibetrieb vor.
1.1.9. Mit Bescheid vom 12.11.2015, Zahl 811279209/150541586/BMI-BFA_STM_RD, wies das BFA den (zweiten) Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 21.05.2015 gemäß § 68 Abs. 1 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz 1991 - AVG wegen entschiedener Sache zurück (Spruchpunkt I.). Sein Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 ERMK vom 02.01.2015 wurde gemäß § 55 AsylG abgewiesen und gemäß § 10 Abs. 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-VG gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 3 FPG erlassen (Spruchpunkt II.). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise betrage "2" [zwei] Wochen [richtig: 14 Tage] ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt III.).
Begründend führte das BFA im Wesentlichen aus, dass sich der objektive und entscheidungsrelevante Sachverhalt im Fall des BF gegenüber dem früheren Bescheid nicht verändert habe, weshalb im gegenständlichen Fall entschiedene Sache im Sinne des § 68 AVG vorliege und daher der Antrag zurückzuweisen sei.
Zu Spruchpunkt II. führte die Behörde in ihrer Begründung aus, dass der BF aufgrund der Begründung von Anknüpfungspunkten gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK in einem Stadium des ungewissen Aufenthaltes nicht schützenswert erscheine. Würde sich ein Fremder in einer solchen Situation erfolgreich auf sein Privat- und Familienleben berufen können, würde dies dem Ziel eines geordneten Fremdenwesens und dem geordneten Zuzug von Fremden zuwiderlaufen. Weiters sei von keiner starken sozialen Bindung zu Österreich auszugehen, da sich der BF erst ca. vier Jahre im Bundesgebiet aufhalte und somit von einer relativ kurzen Aufenthaltsdauer auszugehen sei. Der Umstand, dass er gut Deutsch spreche, stelle kein über das übliche Maß hinausgehendes Integrationsmerkmal dar. In beruflicher Hinsicht liege ebensowenig eine berücksichtigungswürdige besondere Integration vor. Insgesamt stelle seine Ausweisung keinen Eingriff in Art. 8 EMRK dar und die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 Abs. 1 AsylG sei daher nicht in Betracht gekommen.
1.1.10. Gegen diesen Bescheid vom 12.11.2015 erhob der BF mit Schreiben seines damaligen anwaltlichen Vertreters rechtzeitig das Rechtsmittel der Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG). Da sich die Lage in seinem Herkunftsland seit Rechtskraft des Erstverfahrens massiv verschlechtert habe, habe er am 21.05.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Moniert wurden im Wesentlichen Verfahrensmängel.
1.1.11. Mit Schriftsatz vom 17.02.2017 löste der vormalige anwaltliche Vertreter sein Vollmachtverhältnis in dieser Rechtssache auf.
1.1.12. Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Graz vom 14.07.2017, 004 Hv 75/2016p, wurde der BF wegen Begehung des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften gemäß § 27 Abs. 2a zweiter Fall Suchtmittelgesetz (SMG) zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von vier Monaten verurteilt.
Am 29.07.2017 wurde der BF mit Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Graz aufgrund des Verdachts der Begehung der Vergehen des unerlaubten Umganges mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall, Abs. 2a zweiter Fall, Abs. 3 SMG in Untersuchungshaft genommen.
1.1.13. Das BVwG führte am 19.10.2017 eine mündliche Beschwerdeverhandlung mit dem BF, der sich zu diesem Zeitpunkt noch in Untersuchungshaft befand, durch. Mit der Ladung wurden ihm die aktuellen Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan übermittelt. Das BFA entschuldigte seine Nichtteilnahme an der Verhandlung und beantragte die Abweisung der Beschwerde.
Aus einem Auszug aus dem Zentralen Melderegister ergab sich, dass der BF geschieden war, was dieser in der Verhandlung bestätigte. Er gab an, dass er vier Jahre lang mit seiner Frau zusammengelebt habe, sie habe ihn immer finanziell unterstützt, da er keinen "Bescheid" gehabt habe. Er habe nicht arbeiten gehen dürfen und keine Zukunft gehabt. Sie habe ihn aber nicht mehr weiter unterstützen und finanzieren können, daher habe sie entschieden, dass sie sich scheiden lasse. Seit Juni 2017 sei er geschieden. Das Scheidungsurteil werde er nachreichen. Danach habe er eine schlechte Frau kennengelernt. Wegen ihr habe er die Straftaten nach dem Suchtmittelgesetz begangen.
Auf die Frage, wie lange sich der BF noch in Haft befinden würde, antwortete der ihn begleitende Justizwachebeamte "bis 27.06.2018". Der BF gab an, dass er in etwa drei Monaten die Möglichkeit auf vorzeitige Haftentlassung habe.
Befragt nach seinen Wohnverhältnissen, bevor er in Haft gekommen sei, gab der BF an, dass er noch immer bei seiner Ex-Frau gemeldet sei, gewohnt habe er aber bei seiner neuen Freundin. Seit er im Gefängnis sei, sei er jedoch nicht mehr mit ihr befreundet.
Über Befragen zu seinem Leben in Afghanistan gab der BF an, dass er fünf Jahre (im Widerspruch zu seinen Angaben im Erstverfahren: neun Jahre) in die Schule gegangen sei. Er habe zehn Monate Englisch gelernt und dann für ca. drei Monate - etwas später gab er an, dass es fünf gewesen wären - Englischkurse gegeben. Die Kursbesucher seien zwischen 13 und 20 Jahre alt gewesen. Eigentlich hätte er immer eine Lehre als Koch machen wollen, aber keine Möglichkeit dazu gehabt.
Zu seiner Familie habe er nach wie vor Kontakt. Sie lebe noch immer in seiner Heimat. Sein Vater arbeite nach wie vor in der Landwirtschaft. Auch sein Onkel lebe noch in dem Dorf, wo er herkomme. Seine Tante, die in Kabul gelebt habe, wohne jedoch nicht mehr dort.
In Österreich habe er Freunde und noch Kontakt zu seiner Ex-Schwiegermutter und Ex-Frau. Sie würden ihn derzeit auch im Gefängnis besuchen.
Laut Gerichtsbeschluss vom 27.06.2017 wurde die Ehe des BF einvernehmlich geschieden.
1.1.14. Mit Erkenntnis vom 20.11.2017, W11 1425810-2/18E, wies das BVwG die Beschwerde gegen diesen (zweiten) Bescheid des Bundesamtes vom 12.11.2015 als unbegründet ab.
In der Erkenntnisbegründung traf das BVwG Feststellungen zur Person des BF, zu seinem Vorbringen und zur Lage in seinem Herkunftsstaat.
Beweiswürdigend wurde im Wesentlichen ausgeführt (Auszug aus der Erkenntnisbegründung, Schreibfehler teilweise korrigiert):
"[...] Die Feststellung, dass sich ein neuer Sachverhalt, der für die Beurteilung einer etwaigen Verfolgung nach der Genfer Flüchtlingskonvention relevant wäre, nicht ergeben hat, bzw. nicht festgestellt werden kann, gründet auf den folgenden Erwägungen. Mit dem Folgeantrag brachte der Beschwerdeführer in seiner Einvernahme vor dem BFA zwar vor, dass seine Schwester umgebracht worden sei und auch sein Bruder nicht mehr am Leben sei und er dahinter einen Racheakt der Familienangehörigen des Mädchens vermute, da der Beschwerdeführer Schande über ihre Familie gebracht habe. Dieser Einvernahme ging jedoch die Erstbefragung durch Beamte der Landespolizeidirektion - im Mai 2015 - zu seinem Folgeantrag voraus und erwähnte er diese neuen, möglicherweise asylrelevanten, Umstände mit keinem Wort. Hingegen schilderte er zu diesem Zeitpunkt nur, dass er nunmehr infolge der Heirat mit einer österreichischen Staatsbürgerin ein berücksichtigungswürdiges Familienleben habe und sich daher in seinem Fall ein geänderter Sachverhalt darstelle. Dem Gericht erscheint es nicht nachvollziehbar, dass derartig wichtige Ereignisse nicht umgehend mit der ersten Möglichkeit zur näheren Begründung des Folgeantrages geschildert und erzählt werden. Aus diesem Grund erscheint es äußerst fraglich, ob sich dahinter - der Vermutung des Beschwerdeführers entsprechend - tatsächlich ein Racheakt der Familienangehörigen des Mädchens verbirgt, oder ob es auf schlichtweg tragische Ereignisse zurückzuführen ist, die nichts mit dem Mädchen von damals zu tun haben. An diesem Punkt ist zu erwähnen, dass dem Beschwerdeführer betreffend seine Fluchtgeschichte bereits im Erstantragsverfahren keinerlei Glauben geschenkt wurde, weder durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, noch qualifizierte der Asylgerichtshof nach erfolgter Beschwerde die Schilderungen des Beschwerdeführers als glaubwürdig. Da er auch keinerlei konkrete Angaben zum Tod seiner Geschwister machen kann, bleibt es überhaupt fraglich, ob diese tatsächlich nicht mehr am Leben sind. Es deutet eher darauf hin, dass der Beschwerdeführer diese Geschichte entweder frei erfunden hat, um sie in weiterer Folge als Begründung für seinen Folgeantrag zu verwenden, oder die tragischen Ereignisse, die womöglich tatsächlich passiert sind, etwas umgedeutet hat und nun als stützende Pfeiler für seine Fluchtgeschichte verwendet. Hinzu kommt, dass er vor der Behörde angab, seine Schwester sei auf dem Weg zur Schule mit einem Messer erstochen worden, vor dem Bundesverwaltungsgericht in der mündlichen Verhandlung jedoch angab, sie sei erschossen worden. Dass sein Bruder infolge eines Selbstmordattentates getötet worden sei, wie er in der Einvernahme vor der Behörde schilderte, erwähnte er in der mündlichen Verhandlung nicht. Auf die Frage, ob außer seiner Schwester sonst noch jemandem in seiner Familie etwas passiert sei, antwortete er mit "Nein.".
Aufgrund der unterschiedlichen Schilderungen, sowie auch aus dem Umstand, dass der Beschwerdeführer keine konkreteren Angaben machen konnte, ist nicht davon auszugehen, dass sich dahinter ein fluchtrelevantes Vorbringen verbirgt."
Rechtlich beurteilend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass sich die Lage des BF betreffend seine Person sowie betreffend seinen Herkunftsstaat gegenüber der Entscheidung des AsylGH vom 13.08.2013 [im Wesentlichen] nicht geändert habe. Zwar stehe ihm eine Rückkehr in seine Herkunftsprovinz Baghlan aufgrund der dortigen volatilen Sicherheitslage nicht zur Verfügung, doch sei ihm eine interne Fluchtalternative in Kabul zumutbar, zumal ihm dorthin auch eine Unterstützung seiner zahlreichen in Afghanistan lebenden Verwandten zuteil würde.
Auch die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß Art. 8 EMRK nach § 55 AsylG käme - zumal nach der Scheidung des BF - nicht in Betracht.
Diese Entscheidung erwuchs mit seiner Zustellung in Rechtskraft. Ein Gerichtshof des öffentlichen Rechts wurde gegen diese Entscheidung - wie schon nicht gegen die vormalige Entscheidung des AsylGH - nicht angerufen.
1.1.15. Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 22.08.2017, 171 HV 21/2017a, wurde der BF wegen § 27 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall, Abs. 2a zweiter Fall, Abs. 3 SMG zu einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten, zuzüglich vier Monate aus einer Vorverurteilung aufgrund derselben schädlichen Neigung, verurteilt.
1.1.16. Bei einem Freigang am 09.02.2018 flüchtete der BF aus der Haft und reiste nach Frankreich.
1.1.17. Nach Dublin-Konsultationen zwischen den Mitgliedstaaten Österreich und Frankreich betreffend die Zuständigkeit in Asylangelegenheiten wurde der BF von der französischen Justiz an die österreichischen Behörden ausgeliefert und am 25.06.2019 wieder in der Justizanstalt in Graz inhaftiert.
1.2. Gegenständliches Verfahren:
1.2.1. Der BF stellte am 20.09.2019 gegenständlichen (dritten) Antrag auf internationalen Schutz.
1.2.2. In seiner Erstbefragung am selben Tag vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF im Wesentlichen an, dass er aus Afghanistan geflohen sei, da er private Probleme gehabt habe. Sie hätten ein normales Leben gehabt, aber im Dorf seien die Taliban gewesen. Geändert habe sich, dass sein Vater und sein Bruder getötet worden seien. Die Taliban würden auch nach dem BF suchen und ihn umbringen wollen. Sie wollten sie zwingen, mit ihnen zu kämpfen.
Er würde gerne in Österreich bleiben, habe viele österreichische Freunde und die Sprache gelernt. Er habe Fehler gemacht und wolle nun ein anständiges und korrektes Leben führen.
Belege für sein Vorbringen legte der BF auch diesmal nicht vor.
1.2.3. Mit Verfahrensanordnung ohne Datum, dem BF offenbar in seiner Einvernahme am 16.10.2019 übergeben, wurde ihm mitgeteilt, dass die Behörde beabsichtige, den gegenständlichen Antrag zurückzuweisen, da sie davon ausgehe, dass entschiedene Sache im Sinne des § 68 AVG vorliege.
In seiner Einvernahme vor einem Referenten des BFA, im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari, gab der BF im Wesentlichen Folgendes an: Er sei gesund. In Frankreich, wohin er im Juni 2018 gegangen sei und wo er ebenfalls einen Asylantrag gestellt habe, habe er eine Tazkira, in Österreich habe er keine Dokumente. In Wien wohne ein Onkel, zu dem der Kontakt seit dem Aufenthalt des BF in Frankreich abgebrochen sei, und in Graz habe er eine österreichische Freundin, er sei mit ihr etwa zwei Jahre zusammen.
Er stamme aus Pol-e Khomri in der Provinz Baghlan, sei sunnitischer Moslem und Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und habe acht Jahre die Schule besucht. Zu seinem Familienstand gab der BF an (Auszug aus der Einvernahmeniederschrift, Schreibfehler teilweise korrigiert):
"Geschieden, keine Kinder. Ich war in Österreich verheiratet. 2014 habe ich in Österreich in Graz geheiratet, ich hoffte Unterstützung zu bekommen und ein Bleiberecht, aber nach vier Jahren haben wir uns getrennt, weil sie mir nicht weiterhelfen konnte. Sie hat auch jemand anderen Reichen kennengelernt. Er war ein Türke."
Der BF gab an, seine Mutter und ein Onkel mütterlicherseits lebten noch zu Hause. Als er nach Österreich gekommen sei, habe er erfahren, dass sein Vater und sein Bruder von den Taliban umgebracht worden seien. Dies sei 2017 gewesen, seine Mutter habe das eine Zeitlang vor ihm verheimlicht, um ihn zu schonen. Sie habe es ihm Mitte 2018 erzählt,
Zu seinem Fluchtgrund befragt gab der BF an:
"VP [Verfahrenspartei]: Weil ich nicht getötet werden möchte, ich habe mit 16 meine Heimat verlassen und bin hierhergekommen, um in Sicherheit zu leben. Die Lage in Afghanistan ist sehr schlecht, man kann kein normales Leben führen, in die Schule gehen und arbeiten, die Sicherheit ist nicht gegeben. Ich bin da, um Sicherheit zu genießen und mein Leben aufzubauen. Wäre ich in Afghanistan geblieben, hätte ich entweder das gleiche Schicksal wie mein Vater und Bruder erlitten, oder ich wäre für die Taliban rekrutiert worden und für den Krieg ausgebildet worden.
LA [Leiter der Amtshandlung]: Aus welchem Grund geriet Ihre Familie ins Visier der Taliban?
VP: Es ist nicht nur meine Familie dort in Gefahr, sondern alle im Dorf, besonders die, die Kinder haben. Entweder müssen sie kooperieren, oder sie werden getötet. Die Polizei kann nicht für Sicherheit sorgen, es traut sich auch keiner hinzugehen aus Angst vor den Taliban.
LA: Warum sind Ihr Vater und Bruder getötet worden?
VP: Die Taliban sind dort wie Zöllner, man muss für die Grundstücke dort Steuern zahlen, und das war meinem Vater nicht recht. Er ging zur Polizei, und das hat ihn das Leben gekostet. Es gibt keine Institution, die den Fall aufklären möchte. Die anderen im Dorf können sich auch nicht wehren.
LA: Wie sind jene Verwandten umgebracht worden?
VP: Ich war nicht dabei, wie es mir erzählt wurde, waren mein Vater und Bruder auf dem Grundstück, und eine Gruppe ist mit einem Auto gekommen, ausgestiegen und haben sie einfach erschossen. Das war am Abend, das genaue Datum weiß ich nicht.
LA: Haben Sie somit all Ihre Gründe für die Asylantragstellung in Vorlage gebracht?
VP: Ja.
LA: Möchten Sie Feststellungen zu Afghanistan zur Kenntnis gebracht erhalten?
VP: Nein.
RB [Rechtsberatung]: War das Ihre erste Verurteilung in Österreich?
VP: Zweimal, einmal war ich unschuldig und wurde trotzdem für vier Monate bedingt verurteilt. Beim zweiten Mal war ich wirklich schuldig und wurde zu elf Monaten verurteilt, davon sieben Monate unbedingt.
RB: Besucht Sie Ihre Freundin?
VP: Ja.
RB: Haben sie Kontakt zur Familie in Afghanistan?
VP: Ja, zu meiner Mutter. Nachfrage: ich weiß nicht genau, wie alt sie ist, vielleicht 45.
LA: Haben Sie ein Verbrechen außerhalb Österreichs begangen?
VP: Nein.
LA: Warum sind Sie in Österreich in Haft?
VP: Jeder begeht im Leben mal einen Fehler. In den acht Jahren, in denen ich in Österreich bin, habe ich nichts verbrochen, gelegentlich habe ich Marihuana konsumiert, im Stadtpark hat mich die Polizei mit der Droge erwischt. Nachfrage: Ich bin wegen Drogenhandel verurteilt worden.
LA: Wann werden Sie entlassen?
VP: Nächste Woche Donnerstag (24.10.2019).
LA: Wo werden Sie dann wohnen?
VP: XXXX , in Graz, ich habe die Adresse im Kasten, eine österreichische Betreuerin hilft mir da weiter, oder ich werde bei meiner Freundin wohnen.
[...]
Ja. Gut. Ich möchte hinzufügen, ich war minderjährig, als ich meine Familie verlassen habe, dort ist meine Heimat so unsicher, dass man nicht einmal einkaufen gehen kann ohne Angst. Ich habe hier nun fast zehn Jahre verbracht, die Sprache gelernt, B2 Deutschkurs gemacht, die Kultur kennengelernt und bitte um eine Chance, damit ich mich beweisen kann und etwas für mich und auch das Land Österreich tun kann. [...]"
1.2.4. Mit - verfahrensgegenständlich angefochtenem - Bescheid vom 23.10.2019 wies das BFA den (dritten) Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 20.09.2019 gemäß § 68 Abs. 1 AVG bezüglich Asyl und subsidiärem Schutz wegen entschiedener Sache zurück (Spruchpunkte I. und II.). In den Spruchpunkten III. bis VI wurde gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG getroffen und dem BF ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt. Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1a FPG bestehe keine Frist für die freiwillige Ausreise des BF.
In Spruchpunkt VII. wurde gegen den BF gemäß § 53 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 Z 6 FPG ein auf die Dauer von fünf Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen.
Das BFA traf Feststellungen zur Person des BF sowie zur Lage im Herkunftsstaat (offenbar Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation). Die Identität des BF stehe fest. Er leide an keinen erheblichen Erkrankungen.
Das BFA stellte fest, dass die Anträge des BF auf internationalen Schutz in zwei Vorverfahren rechtskräftig abgewiesen worden seien und er im gegenständlichen Asylverfahren - den Fluchtgrund betreffend - keinen glaubhaften neuen Sachverhalt, welcher sich nach Abschluss des Vorverfahrens ereignet hätte, vorgebracht hätte.
Da somit kein neuer entscheidungsrelevanter Sachverhalt feststellbar sei, sei der Folgeantrag wegen entschiedener Sache zurückzuweisen.
Es bestehe durch die erlassene Entscheidung kein unverhältnismäßiger Eingriff in Rechte gemäß Art. 3 und 8 EMRK. Der BF habe zwar Bekannt- und Freundschaften in Österreich, diese seien aber entstanden, als er sich seiner ungewissen Lage hätte bewusst sein müssen. Von seiner Frau in Österreich sei er geschieden, zu seinem Onkel in Wien habe er kaum Kontakt, und zu Hause lebe noch seine Familie (Mutter, Onkel mütterlicherseits).
Der BF könne zwar gute Kenntnisse der deutschen Sprache, aber keine sonstigen erheblichen Integrationserfolge vorweisen. Gegen ihn sprächen zwei Verurteilungen wegen Suchtmitteldelikten, eine davon mit mehrmonatiger unbedingter Freiheitsstrafe.
Beweiswürdigend wurde zum Fluchtvorbringen im Wesentlichen ausgeführt, dass es sich bei seinen aktuellen Angaben zweifellos um ein unglaubhaft gesteigertes Vorbringen handle. Der BF habe im letzten Verfahren noch angegeben, dass seine Schwester umgebracht worden sei. Diesmal verliere er darüber kein Wort und gebe an gehört zu haben, sein Vater und ein Bruder seien erschossen worden. Der BF habe dazu keine zeitlichen Angaben und den genauen Ablauf der Ereignisse nicht schildern können. Der BF habe während seines Aufenthaltes in Österreich offenbar wiederholt Unwahrheiten angegeben, um auf dem Weg des Asylrechts seine Migration aus Afghanistan zu begründen.
Der Sachverhalt - sowohl bezüglich der individuellen Situation des BF, als auch bezüglich der Lage im Herkunftsstaat - habe sich gegenüber dem Zeitpunkt der Vorentscheidung nicht erheblich geändert und liege sohin entschiedene Sache im Sinne des § 68 AVG vor.
Aufgrund des festgestellten Sachverhaltes sei eine Rückkehrentscheidung zu erlassen gewesen. Eine hinreichende Interessenabwägung wurde vorgenommen.
Die Erlassung des Einreiseverbotes, befristet auf zwei Jahre, stütze sich insbesondere auch auf das Fehlverhalten des BF, der seiner Ausreiseverpflichtung nicht nachgekommen sei, auf die von ihm begangenen Straftaten, wegen derer er zu Freiheitsstrafen verurteilt worden sei, sowie auf seine Mittellosigkeit. Damit gefährde der BF die öffentliche Ordnung oder Sicherheit.
1.2.5. Dem Verwaltungsakt liegen eine Geburtsurkunde des BF mit deutscher und englischer Übersetzung, ausgestellt von der Botschaft der Islamischen Republik Afghanistan in Wien am 11.03.2014, und seine Tazkira (afghanisches Personaldokument) mit deutscher Übersetzung vom 06.12.2013 ein.
1.2.6. Mit Schreiben seines gewillkürten Vertreters vom 06.11.2019 brachte der BF fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde an das BVwG gegen Spruchpunkt VII. des Bescheides vom 23.10.2019 wegen Rechtswidrigkeit infolge der "Verletzung von Verfahrensvorschriften" und Rechtswidrigkeit des Inhaltes ein.
Begründend wurde im Wesentlichen moniert, dass sich die belangte Behörde nicht mit dem Familien- und Privatleben des BF in Österreich auseinandergesetzt habe. Der BF habe einen Freundeskreis und eine gute, namentlich genannte Freundin. Die für ihn sprechenden Integrationserfolge seien nicht hinreichend berücksichtigt worden.
Darüberhinaus habe der BF ein laufendes Verfahren in Frankreich. Der vorliegende Bescheid hindere ihn an der Verfolgung dieses Verfahrens.
Beantragt wurde, den Bescheid zu beheben und an das BFA zurückzuverweisen, in eventu das "unbefristete Einreisverbot" zu beheben, in eventu das "verhängte Einreisverbot" herabzusetzen und "(falls als notwendig erachtet)" eine mündliche Beschwerdeverhandlung anzuberaumen.
1.3. Beweisaufnahme:
Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:
* Einsicht in die dem erkennenden Gericht vorliegenden Akten und Vorakten des BFA und des BVwG samt Vorakten, insbesondere in die Niederschriften der Erstbefragung am 20.09.2019 und der Einvernahme vor dem BFA am 16.10.2019 sowie die gegenständliche Beschwerde vom 06.11.2019
* Einsicht in aktenkundliche Dokumentationsquellen des BFA betreffend Afghanistan (offenbar Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA vom 09.01.2017, Aktenseiten 137 bis 309 des Verwaltungsaktes)
1.4. Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens (Sachverhaltsfeststellungen):
Das BVwG geht auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens von folgendem für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhalt aus:
1.4.1. Zur Person des BF:
Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan und stammt aus Pol-e Khomri, Provinz Baghlan. Er ist sunnitischer Moslem und Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken. Der BF hat nach seinen Angaben mehrere Jahre die Schule besucht und spricht Dari als Muttersprache. Er hat in Afghanistan bis zu seiner Ausreise bei seiner Familie gelebt.
Im Bundesgebiet ist der BF von seiner österreichischen Ehefrau geschieden und hat nun eine Freundin, die ihn finanziell und emotional unterstützt. Ein Abhängigkeitsverhältnis liegt nicht vor. Der BF verfügt mittlerweile über gute Deutschkenntnisse. Weitere bedeutende integrationsrelevante Umstände hat der BF weder angegeben noch belegt.
Der BF wurde strafgerichtlich zweimal zu Freiheitsstrafen wegen Suchtgiftdelikten verurteilt:
Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Graz vom 14.07.2017, 004 Hv 75/2016p, wurde der BF wegen Begehung des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften gemäß § 27 Abs. 2a zweiter Fall SMG zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von vier Monaten verurteilt.
Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 22.08.2017, 171 HV 21/2017a, wurde der BF wegen § 27 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall, Abs. 2a zweiter Fall, Abs. 3 SMG zu einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten, zuzüglich vier Monate aus einer Vorverurteilung aufgrund derselben schädlichen Neigung, verurteilt.
1.4.2. Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:
Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan ("Gesamtaktualisierung am 13.11.2019", Schreibfehler teilweise korrigiert):
"[...] 2. Politische Lage
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.04.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.05.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).
Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.01.2004).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.02.2015), und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.05.2019).
In Folge der Präsidentschaftswahlen 2014 wurde am 29.09.2014 Mohammad Ashraf Ghani als Nachfolger von Hamid Karzai in das Präsidentenamt eingeführt. Gleichzeitig trat sein Gegenkandidat Abdullah Abdullah das Amt des Regierungsvorsitzenden (CEO) an - eine per Präsidialdekret eingeführte Position, die Ähnlichkeiten mit der Position eines Premierministers aufweist. Ghani und Abdullah stehen an der Spitze einer Regierung der nationalen Einheit (National Unity Government, NUG), auf deren Bildung sich beide Seiten in Folge der Präsidentschaftswahlen verständigten (AA 15.04.2019; vgl. AM 2015, DW 30.9.2014). Bei der Präsidentenwahl 2014 gab es Vorwürfe von Wahlbetrug in großem Stil (RFE/RL 29.05.2019). Die ursprünglich für den 20.04.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.09.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019).
Parlament und Parlamentswahlen
Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für fünf Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.04.2019).
Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.04.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.03.2019).
Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.01.2017; vgl. USDOS 13.03.2019, Casolino 2011).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 02.09.2019).
Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (AA 15.04.2019; vgl. USDOS 13.03.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.09.2019 statt; ein vorläufiges Ergebnis wird laut der unabhängigen Wahlkommission (IEC) für den 14.11.2019 erwartet (RFE/RL 20.10.2019).
Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. In der Provinz Kandahar musste die Stimmabgabe wegen eines Attentats auf den Provinzpolizeichef um eine Woche verschoben werden, und in der Provinz Ghazni wurde die Wahl wegen politischer Proteste, welche die Wählerregistrierung beeinträchtigten, nicht durchgeführt (s.o.). Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen. Durch Wahl bezogene Gewalt kamen 56 Personen ums Leben, und 379 wurden verletzt. Mindestens zehn Kandidaten kamen im Vorfeld der Wahl bei Angriffen ums Leben, wobei die jeweiligen Motive der Angreifer unklar waren (USDOS 13.03.2019).
Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 06.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.05.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als "Katastrophe" und die beiden Wahlkommissionen als "ineffizient" (AAN 17.05.2019).
Politische Parteien
Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.05.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.01.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.01.2004, USDOS 29.05.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.01.2004).
Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 02.09.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.03.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 02.09.2019; vgl. AAN 06.05.2018, DOA 17.03.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 02.09.2019).
Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert, und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht, und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.03.2019).
Die Hezb-e Islami wird von Gulbuddin Hekmatyar, einem ehemaligen Warlord, der zahlreicher Kriegsverbrechen beschuldigt wird, geleitet. Im Jahr 2016 kam es zu einem Friedensschluss, und Präsident Ghani sicherte den Mitgliedern der Hezb-e Islami Immunität zu. Hekmatyar kehrte 2016 aus dem Exil nach Afghanistan zurück und kündigte im Jänner 2019 seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen 2019 an (CNA 19.01.2019).
Im Februar 2018 hat Präsident Ghani in einem Plan für Friedensgespräche mit den Taliban diesen die Anerkennung als politische Partei in Aussicht gestellt (DP 16.06.2018). Bedingung dafür ist, dass die Taliban Afghanistans Verfassung und einen Waffenstillstand akzeptieren (NZZ 27.01.2019). Die Taliban reagierten nicht offiziell auf den Vorschlag (DP 16.06.2018; s. folgender Abschnitt, Anm.).
Friedens- und Versöhnungsprozess
Hochrangige Vertreter der Taliban sprachen zwischen Juli 2018 (DZ 12.08.2019) - bis zum plötzlichen Abbruch durch den US-amerikanischen Präsidenten im September 2019 (DZ 08.09.2019) - mit US-Unterhändlern über eine politische Lösung des nun schon fast 18 Jahre währenden Konflikts. Dabei ging es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan nicht zu einem sicheren Hafen für Terroristen wird. Die Gespräche sollen zudem in offizielle Friedensgespräche zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban münden. Die Taliban hatten es bisher abgelehnt, mit der afghanischen Regierung zu sprechen, die sie als "Marionette" des Westens betrachten - auch ein Waffenstillstand war Thema (DZ 12.08.2019; vgl. NZZ 12.08.2019; DZ 08.09.2019).
Präsident Ghani hatte die Taliban mehrmals aufgefordert, direkt mit seiner Regierung zu verhandeln, und zeigte sich über den Ausschluss der afghanischen Regierung von den Friedensgesprächen besorgt (NYT 28.01.2019; vgl. DP 28.01.2019, MS 28.01.2019). Bereits im Februar 2018 hatte Präsident Ghani die Taliban als gleichberechtigte Partner zu Friedensgesprächen eingeladen und ihnen eine Amnestie angeboten (CR 2018). Ein für Mitte April 2019 in Katar geplantes Dialogtreffen, bei dem die afghanische Regierung erstmals an den Friedensgesprächen mit den Taliban beteiligt gewesen wäre, kam nicht zustande (HE 16.05.2019). Im Februar und Mai 2019 fanden in Moskau Gespräche zwischen Taliban und bekannten afghanischen Oppositionspolitikern, darunter der ehemalige Staatspräsident Hamid Karzai und mehrere Warlords, statt (Qantara 12.02.2019; vgl. TN 31.05.2019). Die afghanische Regierung war weder an den beiden Friedensgesprächen in Doha, noch an dem Treffen in Moskau beteiligt (Qantara 12.02.2019; vgl. NYT 07.03.2019), was Unbehagen unter einigen Regierungsvertretern auslöste und die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Regierungen beeinträchtigte (REU 18.03.2019; vgl. WP 18.03.2019).
Vom 29.04.2019 bis 03.05.2019 tagte in Kabul die "große Ratsversammlung" (Loya Jirga). Dabei verabschiedeten deren Mitglieder eine Resolution mit dem Ziel, einen Friedensschluss mit den Taliban zu erreichen und den innerafghanischen Dialog zu fördern. Auch bot Präsident Ghani den Taliban einen Waffenstillstand während des Ramadan von 06.05.2019 bis 04.06.2019 an, betonte aber dennoch, dass dieser nicht einseitig sein würde. Des Weiteren sollten 175 gefangene Talibankämpfer freigelassen werden (BAMF 06.05.2019). Die Taliban nahmen an dieser von der Regierung einberufenen Friedensveranstaltung nicht teil (HE 16.05.2019).
3. Sicherheitslage
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 03.09.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison - was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.04.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.06.2019; vgl. AJ 12.04.2019; NYT 12.04.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.04.2019; vgl. NYT 12.04.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.06.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt - dies hatte zum Ziel, die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.07.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.01.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss, als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten - als Reaktion auf einen Anschlag - absagte (DZ 08.09.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).
Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 6.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.04.2019; vgl. NYT 19.07.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 03.09.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 07.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.08. - 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. (SIGAR 30.04.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte, die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren, und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran, ihr Ziel zu erreichen (USDOD 6.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 03.09.2019).
So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich es keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 03.09.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 07.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 07.12.2018; vgl. ARN 23.06.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit - insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan (UNGASC 03.09.2019).
Für das gesamte Jahr 2018 registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.02.2019).
[...]
Für den Berichtszeitraum 10.05. - 08.08.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevante Vorfälle - eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 03.09.2019). Für den Berichtszeitraum 08.02 - 09.05.2019 registrierte die UN insgesamt 5249 sicherheitsrelevante Vorfälle - ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.06.2019).
Für den Berichtszeitraum 10.05 - 08.08.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle, bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet - 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UNGASC 03.09.2019).
Im Gegensatz dazu registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit
29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).
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Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56% auf 54% der Distrikte ab, die Kontrolle bzw. Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15% auf 12%. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29% auf 34%. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5% zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6% der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast zwei Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.01.2019).
Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39% der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37% von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20% der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4% der Distrikte (MA 14.01.2019).
Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation (SIGAR 30.04.2019). Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.07.2019). Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet (SIGAR 30.04.2019; vgl. NYT 19.07.2019).
Zivile Opfer
Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 01.01. - 30.09.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) - dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41% der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September - im Gegensatz zu 2019 - von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 17.10.2019).
Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) (SIGAR 30.04.2019) berichtet, bzw. dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5% bzw. 11% bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die meisten zivilen Opfer wurden im Jahr 2018 in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab verzeichnet, wobei die beiden Provinzen mit der höchsten zivilen Opferanzahl - Kabul (1.866) und Nangarhar (1.815) - 2018 mehr als doppelt so viele Opfer zu verzeichnen hatten wie die drittplatzierte Provinz Helmand (880 zivile Opfer) (UNAMA 24.02.2019; vgl. SIGAR 30.04.2019). Im Jahr 2018 stieg die Anzahl an dokumentierten zivilen Opfern aufgrund von Handlungen der regierungsfreundlichen Kräfte um 24% gegenüber 2017. Der Anstieg ziviler Opfer durch Handlungen regierungsfreundlicher Kräfte im Jahr 2018 wird auf verstärkte Luftangriffe, Suchoperationen der ANDSF und regierungsfreundlicher bewaffneter Gruppierungen zurückgeführt (UNAMA 24.02.2019).
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High-Profile Angriffe (HPAs)