TE Vwgh Erkenntnis 2020/5/5 Ra 2019/19/0460

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Veröffentlicht am 05.05.2020
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Index

40/01 Verwaltungsverfahren

Norm

AVG §37
AVG §39 Abs2
AVG §45 Abs2
AVG §47

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zens sowie den Hofrat Dr. Pürgy und die Hofrätin Dr.in Lachmayer als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, über die Revision des N M H, vertreten durch Mag. Mirko Matkovits, Rechtsanwalt in 7000 Eisenstadt, Colmarplatz 1, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. August 2019, Zl. W246 2184083-1/19E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger aus Kunduz, stellte am 8. Februar 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz. Begründend brachte er vor, seine Herkunftsregion sei von den Taliban erobert worden. Außerdem gehöre sein Cousin den „Arbaki“, einer Gruppe bewaffneter Rebellen, an, welche die Menschen erpresse und ihnen ihren Besitz abnehme. Dieser Cousin habe den Revisionswerber aufgefordert, sich den Rebellen anzuschließen, was er aber nicht gewollt habe. Außerdem hätte eine Mitgliedschaft bei den Rebellen Probleme mit den Taliban nach sich ziehen können. Der Revisionswerber habe sich diesbezüglich auch an die Polizei gewendet, welche ihm aber nicht habe helfen können. Aus diesem Grund sei der Revisionswerber in den Iran gegangen. Auch sein Bruder hätte rekrutiert werden sollen und sei deswegen nach Kabul umgezogen. Der Revisionswerber sei nach einem Monat wieder abgeschoben worden, bei einem Telefonat mit seinem Bruder habe dieser ihm aber mitgeteilt, dass er keinesfalls nach Afghanistan zurück könne. Der Revisionswerber sei deswegen nach Europa geflohen. Nach seiner Ausreise sei die Mutter des Revisionswerbers von dessen Cousin erschossen worden, sein Bruder und sein Halbbruder seien inzwischen verschollen. Zur Untermauerung dieses Vorbringens legte der Revisionswerber mehrere Schreiben vor.

2        Mit Bescheid vom 19. Dezember 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Revisionswerbers ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

3        Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision an den Verwaltungsgerichtshof gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

4        Das BVwG führte - soweit hier maßgeblich - aus, dem Revisionswerber drohe bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht die Gefahr, aufgrund seiner Weigerung, für die Rebellengruppe tätig zu sein, physischer und/oder psychischer Gewalt ausgesetzt zu sein. Sein Fluchtvorbringen habe Ungereimtheiten bzw. Widersprüche aufgewiesen und sei gesteigert worden, weshalb es nicht glaubwürdig sei. Auch die vorgelegten Schreiben würden das BVwG nicht von der Glaubwürdigkeit der Fluchtgeschichte überzeugen, zumal diese (wie schon die belangte Behörde ausgeführt habe) teils von dem Revisionswerber nahestehenden Personen stammen würden. Der Revisionswerber könne zwar nicht in seine volatile Herkunftsprovinz zurückkehren, allerdings stehe ihm eine innerstaatliche Fluchtalternative in Herat und Mazar-e Sharif offen.

5        Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:

6        Die Revision bemängelt in ihrer Zulässigkeitsbegründung im Wesentlichen eine unzureichende Auseinandersetzung mit den vorgelegten Beweismitteln. Die zum Nachweis der Verfolgung des Revisionswerbers vorgelegten Urkunden im Umfang von fünf Seiten seien in Dari verfasst und nur bei der Einvernahme durch die belangte Behörde von einem Dolmetscher für die Sprache Paschtu kursorisch im Rahmen der Niederschrift, welche überdies nur 18 Zeilen umfasse, übersetzt worden. Diese zentralen Dokumente, welche teils von offiziellen Stellen stammen würden, seien ohne nähere inhaltliche Prüfung als bloße Gefälligkeitsschreiben abgetan worden. Mangels ausreichender Übersetzung sei weder die belangte Behörde noch das BVwG in der Lage gewesen, die Beweismittel einer Würdigung zu unterziehen, den entscheidungsrelevanten Sachverhalt festzustellen und in der Folge eine richtige rechtliche Beurteilung vorzunehmen. Ohne ausreichende Erörterung der Beweismittel sei die Annahme der Unglaubwürdigkeit des Vorbringens aufgrund von angeblichen Widersprüchen jedoch nicht zulässig.

7        Die Revision ist zulässig. Sie ist auch begründet.

8        Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits festgehalten, dass grundsätzlich die Behörde die Pflicht zur Feststellung des entscheidungswesentlichen Sachverhaltes trifft und diese nicht auf die Partei abgewälzt werden kann (vgl. VwGH 27.5.2019, Ra 2019/14/0153, mwN).

9        Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat das Verwaltungsgericht neben der Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhaltes erforderlichen Beweise auch die Pflicht, auf das Parteivorbringen, soweit es für die Feststellung des Sachverhaltes von Bedeutung sein kann, einzugehen. Das Verwaltungsgericht darf sich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzen (vgl. VwGH 5.3.2020, Ra 2018/19/0686; Ra 2018/19/0711, je mwN).

10       Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits ausgesprochen, dass ein bloß allgemeiner Verdacht nicht genügt, um im Verfahren vorgelegten Urkunden generell den Beweiswert abzusprechen (VwGH 5.3.2020, Ra 2018/19/0711, mwN).

11       Diesen Anforderungen wird das angefochtene Erkenntnis nicht gerecht. Soweit aus dem Verwaltungsakt ersichtlich, wurden die vorgelegten Dokumente weder einer ausführlichen, exakten Übersetzung zugeführt noch Ermittlungen oder inhaltliche Erwägungen zu ihrer Echtheit und Richtigkeit angestellt, sondern der Inhalt tatsächlich lediglich zusammenfassend durch den Dolmetscher im Rahmen der Einvernahme wiedergegeben. Dem Einvernahmeprotokoll und dem Bescheid der belangten Behörde ist zu entnehmen, dass sich in den Dokumenten ein Schreiben des Schwagers des Revisionswerbers betreffend dessen Ausreisegründe, ein Stempel des Dorfältesten, ein Stempel des Polizeichefs der Terrorismusabteilung der Provinz Kunduz, Unterschriften der „Distriktenhauptmannschaft“, Bestätigungen der Dorfältesten, die Todesbestätigung der Mutter des Revisionswerbers, ein Ersuchen um Bearbeitung einer Anzeige, ein Schreiben des Polizeikommandanten der Provinz Kunduz wonach „der Genannte“ (dem Zusammenhang nach der Cousin des Revisionswerbers) eine schlechte Person sei, gegen deren Drohung nichts getan werden könne, und eine Bestätigung der Dorfbewohner, wonach der Halbbruder des Revisionswerbers verschwunden sei, samt Fingerabdruck des Dorfältesten und Stempel, handle.

12       Mit dem schlichten Verweis, bei den vorgelegten Schreiben handle es sich teils um Gefälligkeitsschreiben von dem Revisionswerber nahestehenden Personen, legt das BVwG weder offen, wie es zu dieser Ansicht gelangt, noch auf welche Schreiben es sich dabei konkret bezieht, weshalb die anderen Schreiben nicht relevant seien oder warum die Dokumente aus diesem Grund nicht näher zu prüfen wären. Dieser Annahme fehlt auch eine tragfähige Begründung, zumal sich auf den Dokumenten dem Vorbringen und den Angaben des Dolmetschers nach offizielle Stempel befinden würden und das BVwG bei der Darstellung des Verfahrensganges selbst angibt, bei den Schreiben handle es sich unter anderem um solche der Dorfältesten, der Polizei und eines Polizeikommandanten. Das BVwG hat sich insofern ohne ausreichende Ermittlungen und ohne tragfähige Begründung über die vorgelegten Beweismittel hinweggesetzt.

13       Die übergangenen Beweismittel betreffen sowohl dem Vorbringen des Revisionswerbers als auch der kursorischen Übersetzung des Dolmetschers nach den Kern des Fluchtvorbringens, zudem befänden sich in den vorgelegten Dokumenten dem Vorbringen der Revision zufolge auch noch gänzlich unberücksichtigte Passagen, weshalb dem Verfahrensfehler die Relevanz auch nicht im Vorhinein abgesprochen werden kann.

14       Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

15       Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 5. Mai 2020

Schlagworte

Beweismittel Urkunden Sachverhalt Sachverhaltsfeststellung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019190460.L00

Im RIS seit

29.09.2020

Zuletzt aktualisiert am

29.09.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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