TE Vwgh Erkenntnis 2020/5/6 Ra 2019/14/0311

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Veröffentlicht am 06.05.2020
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof

Norm

VwGG §42 Abs3

Beachte

Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):Ra 2019/14/0312Ra 2019/14/0313Ra 2019/14/0314

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Präsident Dr. Thienel sowie den Hofrat Mag. Eder und die Hofrätin Mag. Schindler als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Gnilsen, über die Revisionen 1. der A B, und 2. des C D, beide in X, beide vertreten durch Mag. Susanna Perl-Böck, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Wollzeile 1, gegen die Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichts je vom 8. Mai 2019, 1. W197 2187388- 1/10E und 2. W197 2187390-1/9E, jeweils betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl)

Spruch

I. den Beschluss gefasst:

Die Revisionen werden, soweit sie sich gegen die Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten richten, zurückgewiesen.

II. zu Recht erkannt:

In ihrem übrigen Umfang werden die angefochtenen Erkenntnisse wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat den revisionswerbenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von jeweils EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Die revisionswerbenden Parteien sind Staatsangehörige Afghanistans. Die Erstrevisionswerberin ist die Mutter des Zweitrevisionswerbers. Die Erstrevisionswerberin reiste aufgrund eines Visums nach Österreich zu ihrem Ehemann, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wurde. Sie stellte am 14. September 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005). Am 6. Juli 2017 stellte sie als gesetzliche Vertreterin für den am 15. Juni 2017 geborenen Zweitrevisionswerber ebenfalls einen Antrag auf internationalen Schutz.

2 Infolge Straffälligkeit des Ehemannes bzw. Vaters der revisionswerbenden Parteien leitete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) im Jahr 2017 ein Aberkennungsverfahren ein. Mit Bescheid vom 19. Jänner 2018 erkannte das BFA ihm den mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 28. November 2011 zuerkannten Status des subsidiär Schutzberechtigten von Amts wegen ab, entzog ihm die erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigten, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise legte die Behörde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest. Unter einem erließ sie gegen ihn ein für die Dauer von zehn Jahren befristetes Einreiseverbot. 3 Mit Bescheiden vom 22. Jänner 2018 (hinsichtlich der Erstrevisionswerberin) und vom 19. Jänner 2018 (hinsichtlich des Zweitrevisionswerbers) wies das BFA die Anträge der revisionswerbenden Parteien sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten als auch des Status der subsidiär Schutzberechtigten ab, erteilte ihnen keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen sie eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass ihre Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise legte die Behörde jeweils mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.

4 Das BVwG wies mit Erkenntnis vom 8. Mai 2019 die vom Ehemann bzw. Vater der revisionswerbenden Parteien gegen den Aberkennungsbescheid erhobene Beschwerde als unbegründet ab. Begründend führte das BVwG im Wesentlichen aus, dass dieser an jener Krankheit, die entscheidend für die Zuerkennung von subsidiärem Schutz an ihn gewesen sei, nicht mehr leide. Ihm sei eine Rückkehr in den Herkunftsstaat in der jetzigen Situation ohne Beeinträchtigung seiner in § 8 Abs. 1 AsylG 2005 geschützten Rechte möglich und verwies ihn (implizit) auf eine innerstaatliche Fluchtalternative in Kabul. Dabei ging es davon aus, dass die Familie gemeinsam nach Afghanistan zurückehren werde. Es sei ihm möglich und zumutbar, in Kabul eine berufliche Tätigkeit zu finden, um ein für seinen Lebensunterhalt und den seiner Familie ausreichendes Einkommen zu erwirtschaften.

5 Mit den Erkenntnissen ebenfalls vom 8. Mai 2019 wies das BVwG - nach Durchführung einer Verhandlung - die von den revisionswerbenden Parteien erhobenen Beschwerden als unbegründet ab und sprach jeweils aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei. Begründend führte das BVwG im Wesentlichen aus, dass die revisionswerbenden Parteien eine asylrelevante Verfolgung nicht glaubhaft gemacht hätten. Hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten verwies das BVwG auf die Möglichkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Kabul, Mazar-e Sharif oder Herat. Da seine Eltern jung und arbeitsfähig seien, sei auch nicht davon auszugehen, dass der minderjährige Zweitrevisionswerber im Fall der Rückkehr nach Afghanistan seiner Lebensgrundlage beraubt sein werde. Da gegen "allesamt ebenfalls im Verfahren befindlichen Familienmitglieder (...) mit zugleich ergehenden Erkenntnissen des heutigen Tages ebenfalls gleichlautende Rückkehrentscheidungen getroffen" worden seien, sei auch kein Eingriff in das Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK zu befürchten. 6 Gegen diese Erkenntnisse wenden sich die vorliegenden außerordentlichen Revisionen, in denen im Wesentlichen geltend gemacht wird, das BVwG sei von der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, indem es zur Frage des Vorhandenseins einer innerstaatlichen Fluchtalternative die Richtlinien des UNHCR vom 30. August 2018 vollkommen unbeachtet gelassen und auf den minderjährigen Zweitrevisionswerber nicht ausreichend Bedacht genommen habe.

7 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revisionen nach Vorlage derselben und der Verfahrensakten durch das BVwG sowie nach Einleitung des Vorverfahrens - es wurde keine Revisionsbeantwortung erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

8 Die Revisionen sind teilweise zulässig und begründet.

9 Der Verwaltungsgerichtshof hat sich in seinem Erkenntnis vom 17. Dezember 2019, Ra 2019/18/0381, betreffend den Revisionsfall des Ehemannes bzw. Vaters der revisionswerbenden Parteien mit den in den Revisionen aufgeworfenen Rechtsfragen im Zusammenhang mit der Frage, ob eine Rückkehr in den Herkunftsstaat ohne Beeinträchtigung der in § 8 Abs. 1 AsylG 2005 geschützten Rechte möglich ist, bereits ausführlich auseinandergesetzt und das dortige Erkenntnis des BVwG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

10 Zusammengefasst hat der Verwaltungsgerichtshof in dieser Entscheidung festgehalten, dass das BVwG die gebotene Auseinandersetzung mit den aktuellen UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30. August 2018, die angesichts der gegenwärtigen Sicherheits-, Menschenrechts- und humanitären Lage eine interne Schutzalternative in der Stadt Kabul für grundsätzlich nicht verfügbar ansehen, zur Gänze unterlassen und sein Verfahren mit einem Verfahrensmangel belastet habe. Außerdem habe das BVwG nicht darauf Bedacht genommen, dass es sich bei einem Minderjährigen nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes um eine besonders vulnerable und besonders schutzbedürftige Person handle. Diese besondere Vulnerabilität sei bei der Beurteilung, ob bei Rückkehr in die Heimat eine Verletzung der durch Art. 2 und 3 EMRK geschützten Rechte drohe, im Speziellen zu berücksichtigen. Dies erfordere insbesondere eine konkrete Auseinandersetzung damit, welche Rückkehrsituation die Familie - mit zumindest einem minderjährigen Kind - fallbezogen in Afghanistan tatsächlich vorfinden werde. Diesem Erfordernis entspreche das angefochtene Erkenntnis nicht. Es enthalte keine Erwägungen dazu, welche konkrete Rückkehrsituation die Familie in Kabul vorfinden würde. Die nicht näher begründete Überlegung des BVwG, dem dortigen Revisionswerber - also dem Ehemann und Vater der hier revisionswerbenden Parteien -

werde es möglich und zumutbar sein, in Kabul eine berufliche Tätigkeit zu finden, um ein für seinen Lebensunterhalt und den seiner Familie ausreichendes Einkommen zu erwirtschaften, reiche dafür jedenfalls nicht.

11 Auch die hier angefochtenen Erkenntnisse setzen sich mit den Richtlinien des UNHCR vom 30. August 2018 nicht auseinander. Sie enthalten ebenfalls keine Erwägungen dazu, welche konkrete Rückkehrsituation die Familie in den Städten Kabul, Mazar-e Sharif und Herat vorfinden würde. Der Umstand, dass das BVwG in Bezug auf die revisionswerbenden Parteien neben Kabul auch eine innerstaatliche Fluchtalternative in den Städten Mazar-e Sharif und Herat angenommen hat, vermag fallbezogen am Ergebnis nichts zu ändern. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes problematisiert der UNHCR die Verfügbarkeit einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative für afghanische Staatsangehörige auch in Bezug auf andere Städte als Kabul und macht diese von einer sorgfältigen Prüfung für den jeweiligen Antragsteller unter Berücksichtigung seiner persönlichen Umstände - wie im vorliegenden Fall die Minderjährigkeit des Zweitrevisionswerbers - abhängig (vgl. VwGH 26.3.2019, Ra 2019/19/0043, mwN).

12 Es lässt sich nicht ausschließen, dass das bei Berücksichtigung der aktuellen Berichtslage und bei Vermeidung der aufgezeigten Ermittlungs- und Begründungsmängel ein anderes Ergebnis zwar nicht in Bezug auf die Zuerkennung von Asyl, wohl aber in Bezug auf die Frage der Zuerkennung von subsidiärem Schutz, möglich wäre. Von den revisionswerbenden Parteien wurde damit insoweit auch die Relevanz dieses Verfahrensmangels aufgezeigt.

13 Insbesondere erweist sich als wesentlich, dass das BVwG bei der Beurteilung der Verfügbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative erkennbar darauf abgestellt hat, dass die Familie aufgrund mit Erkenntnissen des BVwG vom selben Tag rechtskräftig erlassener Rückkehrentscheidungen gemeinsam nach Afghanistan zurückkehren werde und in erster Linie der Ehemann bzw. Vater der revisionswerbenden Parteien für die Existenzsicherung sorgen könne.

14 Gemäß § 42 Abs. 3 VwGG wirkt die Aufhebung eines Erkenntnisses eines Verwaltungsgerichts durch den Verwaltungsgerichtshof "ex tunc". Das bedeutet, dass der Rechtszustand im Nachhinein so zu betrachten ist, als ob das aufgehobene Erkenntnis von Anfang an nicht erlassen worden wäre (vgl. VwGH 17.9.2019, Ra 2018/14/0118, mwN). Aufgrund der Aufhebung das den Ehemann und Vater der revisionswerbenden Parteien betreffende Erkenntnis des BVwG stellt sich die den hier bekämpften Erkenntnissen zugrunde liegende Prämisse, dass dieser wesentlich zur Existenzsicherung beitragen könne, als unzutreffend dar.

15 Die angefochtenen Erkenntnisse waren daher in Bezug auf die Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten sowie der rechtlich darauf aufbauenden Aussprüche, die ihre Grundlage verlieren, gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

16 Hinsichtlich der Abweisung des Begehrens auf Zuerkennung des Status der Asylberechtigten vermögen hingegen die Revisionen, die insoweit lediglich substanzloses Vorbringen enthalten, nicht aufzuzeigen, dass der Verwaltungsgerichtshof eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG zu lösen hätte. Insoweit waren die Revisionen mangels Vorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG gemäß § 34 Abs. 1 und Abs. 3 VwGG zurückzuweisen.

17 Von der Durchführung der beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof war gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abzusehen. 18 Der Ausspruch über den Kostenersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 20

14.

Wien, am 6. Mai 2020

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019140311.L00

Im RIS seit

16.06.2020

Zuletzt aktualisiert am

16.06.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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