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10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)Norm
AlVG 1977 §1 Abs1 litaBeachte
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bachler und Hofrat Dr. Strohmayer als Richter sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterin, unter Mitwirkung der Schriftführerin Klima, LL.M., über die Revision der D GmbH in W, vertreten durch Dr. Martin Leitner, Dr. Ralph Trischler, Dr. Peter Kraus und Dr. Bernhard Hofmann, Rechtsanwälte in 1070 Wien, Lindengasse 38/3, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 11. Oktober 2019, Zl. W228 2004331-1/31E, betreffend Pflichtversicherung nach dem ASVG und dem AlVG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Wien; mitbeteiligte Parteien: 1. Wiener Gebietskrankenkasse (nunmehr Österreichische Gesundheitskasse) in 1110 Wien, Wienerbergstraße 15-19, 2. Pensionsversicherungsanstalt in 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, 3. Allgemeine Unfallversicherungsanstalt in 1200 Wien, Adalbert-Stifter-Straße 65-67, 4. N M in W, zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat der revisionswerbenden Partei Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.
Begründung
1 Mit dem in Revision gezogenen Erkenntnis hat das Bundesverwaltungsgericht in Bestätigung des Bescheides des Landeshauptmanns von Wien vom 3. August 2012 festgestellt, dass die Viertmitbeteiligte auf Grund ihrer Beschäftigung bei der revisionswerbenden Partei in näher genannten Zeiträumen zwischen dem 1. September 2000 und dem 30. Juni 2008 der Voll-(Kranken-, Unfall-, Pensions-) und Arbeitslosenversicherungspflicht gemäß § 4 Abs. 1 Z 1 iVm § 4 Abs. 2 ASVG und § 1 Abs. 1 lit. a AlVG sowie vom 1. Februar bis 30. Juni 2000 der Unfallversicherung nach § 7 Z 3 lit. a ASVG unterliegt. Die Viertmitbeteiligte sei als Tanzlehrerin und später als Klavierlehrerin für die revisionswerbende Partei tätig gewesen. Ihre Tätigkeit sei vom Musikkoordinator der revisionswerbenden Partei organisiert worden. Die Schüler hätten sich mit Formularen der revisionswerbenden Partei zu den Musikunterrichtseinheiten angemeldet. Die Unterrichtseinheiten seien außerhalb des Regelunterrichts ausschließlich in den Räumlichkeiten der revisionswerbenden Partei erteilt worden. Der Musikkoordinator habe die benötigten Räumlichkeiten eingeteilt, sie vor den jeweiligen Unterrichtseinheiten aufgesperrt und danach wieder zugesperrt. Eine versäumte Unterrichtseinheit sei zu einem passenden Termin nachgeholt worden. Die revisionswerbende Partei habe einen Teil des von den Eltern gezahlten Entgelts pro Unterrichtseinheit an die Viertmitbeteiligte weitergeleitet und sich einen Differenzbetrag einbehalten. Es habe keinen direkten Geldfluss zwischen den Eltern der Schüler und der Viertmitbeteiligten gegeben. Diese habe ihre Tätigkeit stets persönlich ausgeübt, sich nicht vertreten lassen und ihren Urlaub ausschließlich während der Ferien konsumiert. Sie sei ab ca. 2007 für eine weitere Bildungseinrichtung als Musiklehrerin tätig gewesen. Ihren Lebensunterhalt habe sie aus den Einnahmen aus dem Vertragsverhältnis mit der revisionswerbenden Partei bestritten.
2 Die Anträge der revisionswerbenden Partei auf Vernehmung der Zeugen W. L. und U. G. hat das Bundesverwaltungsgericht mit der Begründung abgewiesen, dass von deren Einvernahme auf Grund des lange zurückliegenden Zeitraums keine weitere Klärung des Sachverhalts zu erwarten sei.
3 In rechtlicher Hinsicht führte das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Viertmitbeteiligte in die betriebliche Struktur der revisionswerbenden Partei eingebunden gewesen sei. Die Merkmale für das Bestehen persönlicher Abhängigkeit im Sinn des § 4 Abs. 2 ASVG seien gegeben.
4 Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
5 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich außerordentliche Revision.
6 Die Viertmitbeteiligte hat eine Revisionsbeantwortung erstattet, in der sie die Zurück- bzw. Abweisung der Revision beantragt. Die übrigen Parteien haben sich an dem Revisionsverfahren nicht beteiligt.
7 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
8 Die revisionswerbende Partei bringt zur Zulässigkeit der Revision im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG vor, diese hänge von einer Rechtsfrage grundlegender Bedeutung ab, weil das Bundesverwaltungsgericht durch die in vorwegnehmender Beweiswürdigung erfolgte Abweisung der Anträge auf Vernehmung zweier Zeugen tragende Grundsätze des Verfahrensrechts verletzt habe.
9 Die revisionswerbende Partei habe die Zeugen U. G. und W. L. zum Beweis dafür beantragt, dass es kein Verbot gegeben habe, Schüler außerhalb der Schule zu unterrichten, dass die Viertmitbeteiligte bei der Gestaltung der Arbeitszeit und des Arbeitsortes nicht an die Vorgaben der revisionswerbenden Partei gebunden gewesen sei, dass ein Unterricht außerhalb der Schule möglich gewesen sei, dass die revisionswerbende Partei nicht die Viertmitbeteiligte, sondern die Schüler beaufsichtigt habe, dass es keine Kontrollen der Unterrichtsstunden gegeben habe, dass die Musikkoordinatoren nicht Vorgesetzte der Musiklehrer gewesen seien und keine Berechtigung gehabt hätten, ihnen Weisungen zu erteilen, dass die Abhaltung, das Ausmaß, die Form und die Qualität des Unterrichts für die revisionswerbende Partei unerheblich gewesen seien, dass die Viertmitbeteiligte frei habe entscheiden können, wo und wie sie ihre Tätigkeit ausrichte, dass sie innerhalb der Schule nach Belieben Werbung für ihre Tätigkeit habe betreiben dürfen, dass sich die revisionswerbende Partei von dem Entgelt von € 17,25 für eine Unterrichtsstunde vereinbarungsgemäß € 5,25 für die Nutzung des Klaviers und der Räumlichkeit einbehalten habe, sodass den Musiklehrern € 12,-- pro Unterrichtsstunde verblieben seien, dass es den Musiklehrern frei gestanden sei, sich vertreten zu lassen und Ersatzstunden zu organisieren, dass die Musiklehrer eigene Instrumente in die Schule hätten mitnehmen dürfen, dass es ihnen frei gestanden sei, anderen Tätigkeiten nachzugehen, dass sie eigene Betriebsmittel (Noten und Unterrichtsmaterial) verwendet hätten und dass sie für die Nutzung der Räumlichkeiten und der Musikinstrumente ein Entgelt bezahlt hätten, weitere Betriebsmittel der Schule jedoch nicht hätten benutzen dürfen.
10 Die Revision ist zulässig und berechtigt.
11 Rechtsfragen des Verfahrensrechts sind von grundsätzlicher Bedeutung iSd Art. 133 Abs. 4 B-VG, wenn tragende Grundsätze des Verfahrensrechts auf dem Spiel stehen bzw. wenn die in der angefochtenen Entscheidung getroffene Beurteilung grob fehlerhaft erfolgt ist und zu einem die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Ergebnis geführt hätte. Die Entscheidung über die Revision muss von der Lösung dieser geltend gemachten Rechtsfrage abhängen. Der Verfahrensmangel muss für den Verfahrensausgang relevant, das heißt abstrakt geeignet sein, im Falle eines mängelfreien Verfahrens zu einer anderen - für die revisionswerbende Partei günstigeren - Sachverhaltsgrundlage zu führen (VwGH 28.9.2018, Ra 2018/08/0190, mwN).
12 Zu den tragenden Grundsätzen des Verfahrensrechts gehört die Pflicht des Bundesverwaltungsgerichts, beantragte Beweise aufzunehmen. Das Bundesverwaltungsgericht ist - auch im Hinblick auf die das verwaltungsgerichtliche Verfahren beherrschenden Grundsätze der Amtswegigkeit (§ 39 Abs. 2 AVG iVm § 17 VwGVG) und der materiellen Wahrheit (§ 37 AVG iVm § 17 VwGVG) - verpflichtet, für die Durchführung aller zur Klärung des Sachverhalts erforderlichen Beweise zu sorgen und auf das Parteivorbringen, soweit es für die Feststellung des Sachverhalts von Bedeutung sein kann, einzugehen. Beweisanträge dürfen nur dann abgelehnt werden, wenn die Beweistatsachen als wahr unterstellt werden, es auf sie nicht ankommt oder das Beweismittel an sich nicht geeignet ist, über den Gegenstand der Beweisaufnahme einen Beweis zu liefern und damit zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts beizutragen. Das Bundesverwaltungsgericht ist verpflichtet, erforderliche Beweise aufzunehmen. Es darf sich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge nicht ohne Ermittlungen und ohne eine dem Gesetz entsprechende Begründung hinwegsetzen (nochmals VwGH 28.9.2018, Ra 2018/08/0190, mwN). Ob von einer Beweisaufnahme in diesem Sinn Abstand genommen werden kann, ist eine einzelfallbezogene Beurteilung, die nur dann eine Rechtsfrage von grundsätzliche Bedeutung aufwirft, wenn sie unvertretbar war.
13 Keinen der genannten Gründe, die eine Ablehnung der Anträge der revisionswerbenden Partei auf Vernehmung der beiden Zeugen hätten rechtfertigen können, hat das BVwG im vorliegenden Fall ins Treffen geführt. Die beantragten Zeugenbeweise sind demnach insbesondere nicht von vornherein ungeeignet, Grundlage für Sachverhaltsfeststellungen zu sein, aus denen sich das behauptete Fehlen einer persönlichen Abhängigkeit der Viertmitbeteiligten im Rahmen einer Abwägung iSd § 4 Abs. 2 ASVG ableiten lassen könnte.
14 Der in seiner Allgemeinheit jedenfalls unzutreffende Hinweis darauf, die in Rede stehenden Zeugen würden sich an länger zurückliegende Sachverhalte nicht erinnern können, stellt keine gesetzesentsprechende Rechtfertigung für die Unterlassung einer beantragten Beweisaufnahme, sondern eine vorgreifende Beweiswürdigung dar. Das Bundesverwaltungsgericht hat mit seiner Vorgangsweise gegen tragende Grundsätze des Verfahrensrechts verstoßen.
15 Das angefochtene Erkenntnis war gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
16 Die Zuerkennung von Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014, BGBl. II Nr. 518/2013.
17 Ein Ersatz für eine Eingabengebühr war wegen der sachlichen Abgabenfreiheit (vgl. § 110 ASVG) nicht zuzusprechen.
Wien, am 6. Mai 2020
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019080162.L00Im RIS seit
02.07.2020Zuletzt aktualisiert am
14.07.2020