Index
001 Verwaltungsrecht allgemeinNorm
AlVG 1977 §10Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bachler, den Hofrat Dr. Strohmayer, die Hofrätin Dr. Julcher sowie die Hofräte Mag. Berger und Mag. Stickler als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Klima, LL.M., über die Revision des Arbeitsmarktservice St. Pölten, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 22. Mai 2019, W164 2173466-2/3E, betreffend Verlust des Anspruches auf Notstandshilfe (mitbeteiligte Partei: C R in F, vertreten durch Dr. Peter Zawodsky, Rechtsanwalt in 1060 Wien, Gumpendorfer Straße 71), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Begründung
1 Mit Bescheid vom 4. Juli 2017 sprach das revisionswerbende Arbeitsmarktservice (AMS) aus, dass der Mitbeteiligte gemäß § 10 iVm. § 38 AlVG den Anspruch auf Notstandshilfe für den Zeitraum von 14. Juni 2017 bis 25. Juli 2017 verloren habe. Eine Nachsicht werde nicht erteilt. Der angeführte Zeitraum verlängere sich um die in ihm liegenden Zeiträume, während derer Krankengeld bezogen worden sei.
2 Mit Beschwerdevorentscheidung vom 20. September 2017 gab das AMS der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde des Mitbeteiligten mit der Maßgabe keine Folge, dass der Mitbeteiligte den Anspruch auf Notstandshilfe im Zeitraum von 14. Juni 2017 bis 8. August 2017 verloren habe.
3 Begründend führte das AMS aus, der Mitbeteiligte sei nach einem von der Pensionsversicherungsanstalt eingeholten Gutachten arbeitsfähig. Er sei zu einer ihm zumutbaren vollversicherten Beschäftigung in einem sozialökonomischen Betrieb zugewiesen worden. Die Annahme dieser Beschäftigung habe er dadurch vereitelt, dass er zu einem am 14. Juni 2017 angesetzten Vorstellungsgespräch nicht erschienen sei. Der Mitbeteiligte habe sich für dieses Vorstellungsgespräch entschuldigt und sich auf eine Erkrankung berufen, wobei er auch eine ärztliche Bestätigung vorgelegt habe, in der eine Arbeitsunfähigkeit vom 13. Juni 2017 bis 20. Juni 2017 samt Ausgehzeiten angegeben gewesen sei. Aufgrund der Umstände des Falles sei jedoch davon auszugehen, dass der Mitbeteiligte die Erkrankung bloß vorgetäuscht habe, um nicht bei dem Vorstellungsgespräch erscheinen zu müssen. Er habe sich bereits achtmal in gleicher Weise durch die Behauptung, krank zu sein, für konkrete Beschäftigungsangebote bzw. Wiedereingliederungsmaßnahmen entschuldigt. Darauf angesprochen habe der Mitbeteiligte gegenüber einer Betreuerin des AMS am 29. Juni 2017 geäußert, dass er „das so machen müsse“, weil ihm sonst „das Geld“ gesperrt würde. Es sei auch davon auszugehen, dass die behandelnde Ärztin des Mitbeteiligten die vom Mitbeteiligten angegebenen „psychosomatischen Beschwerden“ gar nicht habe beurteilen können. Hinsichtlich des Mitbeteiligten sei bereits mehrmals ein Verlust des Anspruches auf die Leistung nach § 10 Abs. 1 AlVG ausgesprochen worden, wobei er seitdem auch keine neue Anwartschaft erworben habe. Es handle sich daher um eine „weitere Pflichtverletzung“ im Sinn des § 10 Abs. 1 zweiter Satz AlVG. Die Mindestdauer des Anspruchsverlustes betrage daher acht Wochen, sodass der Ausgangsbescheid insofern zu korrigieren sei.
4 Der Mitbeteiligte stellte einen Vorlageantrag und beantragte die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.
5 Mit dem ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung ergangenen angefochtenen Erkenntnis gab das Bundesverwaltungsgericht der Beschwerde des Mitbeteiligten Folge und hob die Beschwerdevorentscheidung des AMS vom 20. September 2017 ersatzlos auf. Es sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
6 Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht aus, das AMS habe den Mitbeteiligten zu einer Stelle bei einem Beschäftigungsprojekt zugewiesen. Dort sei ein Vorstellungsgespräch für den 14. Juni 2017 angesetzt gewesen. Der Mitbeteiligte habe sich am 13. Juni 2017 beim AMS krankgemeldet und sei daher nicht zu dem Vorstellungsgespräch erschienen. Er habe eine ärztliche Bestätigung vorgelegt, mit der eine Arbeitsunfähigkeit im Zeitraum von 13. Juni 2017 bis 20. Juni 2017 bescheinigt worden sei. Im Zuge einer Niederschrift vom 29. Juni 2017 habe der Mitbeteiligte gegenüber dem AMS angegeben, an psychischen Problemen und psychosomatischen Beschwerden zu leiden. Es lägen keine „konkreten Anhaltspunkte“ dafür vor, dass die ärztliche Bestätigung unrichtig wäre. Entgegen den Ausführungen des AMS könne dies auch nicht daraus abgeleitet werden, dass der Mitbeteiligte sich in der Vergangenheit häufig an jenen Tagen krankgemeldet habe, an denen er zu einer Beschäftigung oder Wiedereingliederungsmaßnahme hätte erscheinen sollen.
7 Indem das AMS in der Beschwerdevorentscheidung die Dauer des Verlustes der Notstandshilfe ausgedehnt habe, habe es die Sache des Verfahrens überschritten. Über die Beschwerde sei daher nur in den durch den Ausgangsbescheid vorgegebenen Grenzen zu entscheiden. Nach der Rechtsprechung seien Arbeitslose nicht verhalten, sich zu bewerben, wenn und solange sie infolge einer Erkrankung arbeitsunfähig seien. Es ergebe sich daher keine vorsätzliche Vereitelung durch den Mitbeteiligten, sodass auch kein Anlass für „weitere Überprüfungen“ bestehe. Ein Tatbestand, der zur Verhängung einer Sanktion nach § 10 Abs. 1 AlVG führen könnte, liege somit nicht vor.
8 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die außerordentliche Revision. Nach Einleitung des Vorverfahrens hat der Mitbeteiligte eine Revisionsbeantwortung erstattet. Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
9 Das AMS bringt zur Zulässigkeit seiner Revision vor, das Bundesverwaltungsgericht sei von (näher genannter) Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, indem es zu Klärung des entscheidungswesentlichen Sachverhaltes keine mündliche Verhandlung durchgeführt habe. Auch sei entgegen der Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes durch die mit der Beschwerdevorentscheidung erfolgte Korrektur der Dauer des Verlusts des Anspruchs auf Notstandshilfe die Identität der Sache gewahrt geblieben. Dazu fehle jedoch Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes.
10 Die Revision ist im Sinn dieses Vorbringens zulässig und berechtigt.
Sache des Verfahrens des Bundesverwaltungsgerichtes
11 Zunächst ist klarzustellen, dass die Revision damit im Recht ist, dass das AMS mit seiner Beschwerdevorentscheidung die durch den Ausgangsbescheid begrenzte Sache des Verfahrens nicht überschritten hat.
12 Es entspricht der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass die Beschwerdevorentscheidung gemäß § 14 VwGVG - nicht anders als die Entscheidung des Verwaltungsgerichts gemäß §§ 28 und 31 VwGVG - eine Entscheidung über die Beschwerde ist, die diese, soweit kein Vorlageantrag gestellt wird, auch endgültig erledigt. Schon daraus folgt, dass die Sache des Verfahrens in diesem Stadium nicht anders begrenzt werden kann als im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht selbst. § 14 VwGVG verweist zudem (auch) ausdrücklich auf § 27 VwGVG, der den zulässigen Prüfungsumfang für das Verwaltungsgericht festlegt. Zur Sache des Verfahrens vor dem Verwaltungsgericht und dem äußersten Rahmen seiner Prüfbefugnis hat der Verwaltungsgerichtshof schon wiederholt ausgeführt, dass es sich dabei jedenfalls nur um jene Angelegenheit handelt, die den Inhalt des Spruchs des Ausgangsbescheides gebildet hat (vgl. VwGH 8.5.2018, Ro 2018/08/0011).
13 Inhalt des Spruchs des Ausgangsbescheides und damit Sache des Verfahrens war im vorliegenden Fall ein Anspruchsverlust gemäß § 38 iVm. § 10 AlVG aufgrund der dem Mitbeteiligten vom AMS vorgeworfenen Vereitelung der Beschäftigung (vgl. in diesem Sinn nochmals VwGH 8.5.2018, Ro 2018/08/0011). In dem damit vorgegebenen Rahmen der Prüfbefugnis war im Beschwerdeverfahren zu entscheiden.
14 Ein Verbot der reformatio in peius (Verschlechterungsverbot) gibt es im Beschwerdeverfahren nach dem VwGVG nicht (vgl. VwGH 9.9.2019, Ro 2016/08/0009, mwN; vgl. etwa auch zur Abänderung der Dauer eines Führerscheinentzuges VwGH 9.9.2014, Ra 2014/11/0044). Dies hat im Sinn des zuvor Gesagten auch für das Verhältnis der Beschwerdevorentscheidung zum Ausgangsbescheid Geltung. Anderes gilt gemäß § 42 VwGVG lediglich in Verwaltungsstrafverfahren; ein solches liegt hier aber nicht vor (vgl. dazu, dass es sich bei dem Ausspruch nach § 10 AlVG um keine Strafe handelt VwGH 4.9.2013, 2011/08/0092, mwN).
15 Gemäß § 10 Abs. 1 AlVG verliert eine arbeitslose Person bei Vorliegen einer Pflichtverletzung nach dieser Bestimmung für die Dauer der Weigerung, mindestens jedoch für die Dauer der auf die Pflichtverletzung folgenden sechs Wochen, den Anspruch auf Arbeitslosengeld. Die Mindestdauer des Anspruchsverlustes erhöht sich mit jeder weiteren Pflichtverletzung nach dieser Bestimmung um weitere zwei Wochen auf acht Wochen. Die Erhöhung der Mindestdauer des Anspruchsverlustes gilt jeweils bis zum Erwerb einer neuen Anwartschaft. Liegt eine Pflichtverletzung nach § 10 Abs. 1 AlVG vor, hat es zu den in der Bestimmung vorgesehenen Sanktionen zu kommen.
16 Angesichts des klaren Wortlauts dieser Regelung und ihrer Funktion liegt deren Anwendung nicht im Ermessen des AMS. Dieses hat nur insofern Spielraum, als der Anspruchsverlust gemäß § 10 Abs. 3 AlVG in berücksichtigungswürdigen Fällen ganz oder teilweise nachzusehen ist (vgl. VwGH 4.9.2013, 2012/08/0305). Hat das AMS eine Sanktion erlassen, die diesen Bestimmungen nicht entspricht, ist dies im Beschwerdeverfahren daher zu korrigieren, wobei es im Sinn des § 14 Abs. 1 VwGVG dem AMS freisteht diese Korrektur (bereits) durch Erlassung einer Beschwerdevorentscheidung vorzunehmen.
17 Im vorliegenden Fall hat das AMS in seiner Beschwerdevorentscheidung die Dauer des Anspruchsverlustes gegenüber dem Ausgangsbescheid auf acht Wochen verlängert und dies darauf gegründet, dass eine „weitere Pflichtverletzung“ im Sinn des § 10 Abs. 1 AlVG vorliege. Die Sache des Verfahrens wurde dadurch nicht überschritten (vgl. in diesem Sinn auch schon VwGH 4.6.2008, 2007/08/0165).
Verpflichtung zur Durchführung einer Verhandlung
18 Gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG kann das Verwaltungsgericht ungeachtet eines Parteiantrags von einer Verhandlung dann absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 EMRK noch Art. 47 GRC entgegenstehen.
19 Die Unterlassung der Durchführung einer gebotenen Verhandlung kann nicht nur von jener Partei, die den Verhandlungsantrag gestellt hat, sondern von jeder Verfahrenspartei geltend gemacht werden. Wurde nämlich bereits - wie hier vom Mitbeteiligten als Beschwerdeführer - ein Verhandlungsantrag gestellt, so sind die anderen Parteien - somit vorliegend das AMS als belangte Behörde im Verfahren des Bundesverwaltungsgerichtes - nicht gehalten, einen eigenen Verhandlungsantrag zu stellen. Dies ergibt sich daraus, dass der Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß § 24 Abs. 3 VwGVG nur mit Zustimmung der anderen Parteien zurückgezogen werden kann (vgl. VwGH 2.5.2019, Ro 2019/08/0009, mwN).
20 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes gehört es im Fall widersprechender prozessrelevanter Behauptungen zu den grundlegenden Pflichten des Verwaltungsgerichts, dem auch in § 24 VwGVG verankerten Unmittelbarkeitsprinzip Rechnung zu tragen und sich als Gericht im Rahmen einer - bei der Geltendmachung von „civil rights“ (zu denen auch Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung zählen) in der Regel auch von Amts wegen durchzuführenden - mündlichen Verhandlung einen persönlichen Eindruck von der Glaubwürdigkeit von Zeugen bzw. Parteien zu verschaffen und insbesondere darauf seine Beweiswürdigung zu gründen (etwa VwGH 27.9.2019, Ra 2019/08/0113).
21 Im vorliegenden Fall liegen einander widersprechende prozessrelevante Behauptungen in diesem Sinn vor. Es trifft zu, dass der Mitbeteiligte nicht verhalten gewesen wäre, zu dem für den 14. Juni 2017 angesetzten Vorstellungsgespräch zu erscheinen, wenn er daran - wie vom Bundesverwaltungsgericht angenommen - durch eine (akute) Erkrankung gehindert gewesen wäre, sodass diesfalls auf sein Fernbleiben ein Verlust des Anspruches nach § 10 Abs. 1 AlVG nicht gestützt werden könnte (vgl. idS VwGH 19.9.2007, 2006/08/0189). Das AMS hat dem Mitbeteiligten aber im Wesentlichen vorgeworfen, eine nicht vorliegende Erkrankung - auch durch unrichtige Angaben gegenüber der behandelnden Ärztin - bewusst vorgeschoben zu haben, um dadurch zu verschleiern, dass der Wahrnehmung des Vorstellungsgesprächs durch ihn tatsächlich kein Hindernis im Wege gestanden sei. Träfe dies zu, könnte eine Vereitelung der Annahme einer Beschäftigung im Sinn des § 10 Abs. 1 Z 1 AlVG vorliegen (vgl. näher zu den Voraussetzungen dieses Tatbestandes etwa VwGH 27.08.2019, Ra 2019/08/0065). Das Bundesverwaltungsgericht hätte daher eine Verhandlung durchführen und seine Beweiswürdigung auf die Ergebnisse dieser Verhandlung gründen müssen.
22 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
Wien, am 6. Mai 2020
Schlagworte
Ermessen VwRallg8European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019080114.L00Im RIS seit
03.07.2020Zuletzt aktualisiert am
14.07.2020