Index
E3L E19103000Norm
AsylG 2005 §11Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer, den Hofrat Dr. Sutter und die Hofrätin Dr.in Sembacher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des M Y, vertreten durch Mag.a Michaela Krömer, LL.M., Rechtsanwältin in 3100 St. Pölten, Riemerplatz 1, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 4. November 2019, W264 2168533-1/25E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl),
Spruch
1. zu Recht erkannt:
Das angefochtene Erkenntnis wird insoweit, als damit die Beschwerde des Revisionswerbers gegen die Spruchpunkte II. bis IV. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 1. August 2017 abgewiesen wurde (Nichtgewährung von subsidiärem Schutz und darauf aufbauende Entscheidungen), wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
2. den Beschluss gefasst:
Im Übrigen (Nichtgewährung von Asyl) wird die Revision zurückgewiesen.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von 1.346,04 € binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Das Kostenmehrbegehren wird abgewiesen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein der Volksgruppe der Paschtunen zugehöriger afghanischer Staatsangehöriger aus der Provinz Kunar, stellte am 12. April 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz. Begründend brachte er vor, für die Amerikaner als Reinigungskraft gearbeitet zu haben, weshalb er von den Taliban einen Drohbrief erhalten habe, in dem er aufgefordert worden sei, seine Tätigkeit aufzugeben. Andernfalls würden diese ihn umbringen. Durch die Explosion einer Landmine sei er schließlich verletzt worden und an einem Auge erblindet.
2 Mit Bescheid vom 1. August 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des Revisionswerbers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.), und legte eine zweiwöchige Frist für die freiwillige Ausreise fest (Spruchpunkt IV.).
3 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung - mit dem angefochtenen Erkenntnis als unbegründet ab (Spruchpunkt A) und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig (Spruchpunkt B).
4 Begründend führte das BVwG insbesondere aus, der Revisionswerber habe eine asylrelevante Verfolgung nicht glaubhaft machen können. Hinsichtlich der Nichtgewährung subsidiären Schutzes erwog es, dass die Herkunftsprovinz des Revisionswerbers volatil sei und ihm im Falle einer Rückkehr die reale Gefahr einer Verletzung seiner in Art. 2 und 3 EMRK gewährleisteten Rechte drohe. Der Revisionswerber könne jedoch auf eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative in den Städten Herat oder Mazar-e Sharif verwiesen werden. Er sei laut einem augenfachärztlichen Sachverständigengutachten trotz seines erblindeten Auges als erwerbsfähig anzusehen. Er sei nicht lebensbedrohlich krank, zudem volljährig und verfüge über Schulbildung sowie Berufserfahrung. Im Rahmen der Rückkehrentscheidung führte das BVwG eine näher begründete Interessenabwägung im Sinne des § 9 BFA-VG durch und kam zu dem Ergebnis, dass die öffentlichen Interessen gegenüber den privaten des Revisionswerbers überwögen.
5 Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zu ihrer Zulässigkeit insbesondere vorbringt, der Revisionswerber sei aufgrund seines erblindeten Auges nicht voll leistungsfähig und gesund. Sein Gesundheitszustand sei nur betreffend § 3 AsylG 2005, jedoch nicht betreffend § 8 AsylG 2005 gewürdigt worden. Auch seien Art. 3 EMRK sowie die herangezogenen UNHCR-Richtlinien unrichtig angewandt worden. Das BVwG hätte unter Berücksichtigung dieser Umstände zu dem Schluss kommen müssen, dass für den halb erblindeten Revisionswerber eine Rückkehr nach Afghanistan ohne Unterstützungsnetzwerk mit unbilligen Härten verbunden wäre. Des Weiteren sei die vom BVwG durchgeführte Beweiswürdigung unvertretbar, weil sie den Gesundheitszustand des Revisionswerbers ignoriere, obwohl ihm ein dreißigprozentiger Behindertenstatus zugesprochen worden sei und er Anspruch auf einen Behindertenpass hätte.
6 Die belangte Behörde erstattete keine Revisionsbeantwortung.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
7 Die Revision ist im Sinne der Zulassungsbegründung zulässig; sie ist teilweise auch begründet.
8 Vorauszuschicken ist, dass sich die Revision zwar gegen das angefochtene Erkenntnis insgesamt wendet, im Zulässigkeitsvorbringen sowie in ihrer Begründung aber keine Umstände vorbringt, die eine Asylgewährung rechtfertigen würden.
9 Soweit das BVwG daher die Beschwerde des Revisionswerbers gegen die Nichtzuerkennung des Status eines Asylberechtigten abgewiesen hat, war der Revision kein Erfolg beschieden und war sie daher in diesem Punkt zurückzuweisen.
10 Berechtigung kommt der Revision aber in Bezug auf den verbleibenden Anfechtungsumfang zu.
11 Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung bereits mehrfach erkannt, welche Kriterien erfüllt sein müssen, um von einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative sprechen zu können. Demzufolge reicht es nicht aus, dem Asylwerber entgegen zu halten, dass er in diesem Gebiet keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erwarten hat. Es muss ihm vielmehr möglich sein, im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Ob dies der Fall ist, erfordert eine Beurteilung der allgemeinen Gegebenheiten im Herkunftsstaat und der persönlichen Umstände des Asylwerbers. Es handelt sich letztlich um eine Entscheidung im Einzelfall, die auf der Grundlage ausreichender Feststellungen über die zu erwartende Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit getroffen werden muss (vgl. VwGH 13.12.2018, Ra 2018/18/0533, mwN). Dabei hat sich das BVwG auch mit den Richtlinien des UNHCR zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30. August 2018 sowie den Vorgaben der EASO Country Guidance Notes zu Afghanistan in adäquater Weise auseinanderzusetzen (VwGH 17.9.2019, Ra 2019/14/0160, mwN).
12 Im Zusammenhang mit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative setzte sich das BVwG im Revisionsfall mit dem Gesundheitszustand des Revisionswerbers auseinander. Dieser weise laut des augenfachärztlichen Sachverständigengutachtens vom 4. Februar 2018 eine dreißigprozentige Behinderung gemäß der Einschätzungsverordnung des Bundesministers für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz bei „einseitiger Blindheit links und normalem Sehvermögen des rechten Auges“ auf. Trotz der körperlichen Funktionsbeeinträchtigung stehe die einseitige Erblindung des Revisionswerbers einer Erwerbsfähigkeit nicht entgegen. Laut Bescheid des Bundesamts für Soziales und Behindertenwesen (BASB) vom 12. Februar 2018 sei ein Behindertenpass erst ab einer fünfzigprozentigen Behinderung auszustellen. Der dem BVwG nach der mündlichen Verhandlung vorgelegte MRT-Befund betreffend Gehirn und Kleinhirnbrückenwinkel habe einen „unauffällige[n] Befund“ ergeben. In Zusammenschau mit dem Bescheid des BASB, dem augenfachärztlichen Sachverständigengutachten sowie damit, dass dem BVwG keine anderslautenden medizinischen Beweismittel über Gesundheitsbeeinträchtigungen vorgelegt worden seien, sei davon auszugehen, dass der Revisionswerber an keiner lebensbedrohlichen Krankheit leide und die einseitige Erblindung einer Erwerbsfähigkeit nicht entgegenstehe.
13 Vor diesem Hintergrund sei dem Revisionswerber - so das BVwG - trotz seiner Erblindung auf dem linken Auge auch die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative zumutbar. Der Revisionswerber sei nämlich ein volljähriger Mann, der die Landessprache spreche, im afghanischen Familienverband sozialisiert worden sei und in Afghanistan über ein familiäres Netzwerk verfüge. Er könne auf dessen Unterstützung bzw. auf die seiner Volksgruppe zurückgreifen und Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen. Er verfüge über eine in Afghanistan nicht für jedermann erlangbare (kurzzeitige) Schulbildung sowie Berufserfahrung als Hirte und Reinigungskraft, sodass er sich sein wirtschaftliches Überleben sichern könne.
14 Damit hat sich das BVwG nicht ausreichend mit der Erblindung des Revisionswerbers und deren möglichen Auswirkungen auf seine Lebenssituation im Falle der Rückkehr auseinandergesetzt und ist insofern auch von den Leitlinien in der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen (vgl. VwGH 21.3.2018, Ra 2018/18/0021, mwN).
15 Zur Lage in Afghanistan zog das BVwG zwar aktuelle Länderberichte sowie die aktuellen UNHCR-Richtlinien vom 30. August 2018 und den EASO-Bericht „Country Guidance Afghanistan“ vom Juni 2018 heran, es setzte sich dabei jedoch in unzureichendem Ausmaß mit den persönlichen Umständen des Revisionswerbers hinsichtlich seiner spezifischen Vulnerabilität auseinander. Den vom BVwG herangezogenen Länderberichten ist nämlich zu entnehmen, dass in Afghanistan eine angespannte Arbeitsmarktsituation herrscht, die Arbeitslosigkeit hoch ist und es sogar für gut ausgebildete und gut qualifizierte Personen schwierig ist, einen Arbeitsplatz zu finden. Diese Umstände finden in den beweiswürdigenden Erwägungen und in der rechtlichen Beurteilung des BVwG allerdings nur insoweit Berücksichtigung, als es ausführt, nicht zu verkennen, dass der Zugang zu Arbeit nur eingeschränkt möglich sei, der Revisionswerber jedoch über Berufserfahrung verfüge und sich seine Existenzgrundlage sichern könne.
16 Auch wenn nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes Schwierigkeiten bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche grundsätzlich noch nicht die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative begründen, sofern es sich um einen volljährigen, arbeitsfähigen und gesunden jungen Mann handle (vgl. etwa VwGH 31.10.2019, Ra 2019/20/0309, mwN), so ist im Revisionsfall doch zu beachten, dass aufgrund der einseitigen Erblindung des Revisionswerbers gerade nicht von einem vollständig gesunden Mann ausgegangen werden kann. Die besondere Vulnerabilität des Revisionswerbers hätte in diesem Zusammenhang daher vom BVwG stärker berücksichtigt werden müssen und eine spezifischere Auseinandersetzung mit den ihn bei Rückkehr zu erwartenden Umständen erfordert.
17 Vor dem Hintergrund der festgestellten körperlichen Einschränkung des Revisionswerbers sowie der angespannten Arbeitsmarktsituation hätte sich das BVwG daher mit den für den Revisionswerber in Frage kommenden Arbeitsmöglichkeiten sowie dem Zugang zu diesen und der daraus resultierenden Versorgungslage des Revisionswerbers in einer spezifischeren und konkreten Form auseinandersetzen müssen.
18 Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das BVwG bei Vermeidung der aufgezeigten Ermittlungs- und Begründungsmängel zu einem anderen Verfahrensergebnis gelangen hätte können, war das angefochtene Erkenntnis in Bezug auf die Nichtzuerkennung subsidiären Schutzes und die darauf aufbauenden Spruchpunkte gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
19 Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 7. Mai 2020
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019180488.L00Im RIS seit
17.07.2020Zuletzt aktualisiert am
17.07.2020