Entscheidungsdatum
27.12.2019Norm
AsylG 2005 §2 Abs1 Z13Spruch
W270 2203966-1/9E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. GRASSL über die Beschwerde des XXXX geb. XXXX , StA. AFGHANISTAN, vertreten durch das Land Kärnten als Kinder- und Jugendhilfeträger, dieses wiederum vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 24.07.2018, Zl. XXXX , betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung, zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. XXXX (in Folge: "Beschwerdeführer") stellte am 22.04.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
2. Bei seiner am selben Tag stattgefundenen Erstbefragung vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab er befragt zu seinen Fluchtgründen an, dass in seiner Heimat die Sicherheitslage sehr schlecht sei. Die Taliban würden grundlos Menschen töten, so auch seinen Vater. Aus Angst vor dem Krieg und den Taliban habe er Afghanistan verlassen. Da seine Familie außerdem sehr arm und er der älteste Sohn sei, würde er hier arbeiten wollen, um die Familie zu versorgen.
3. Bei seiner Einvernahme vor der belangten Behörde am 07.05.2018 gab der Beschwerdeführer zu den Gründen für seine Asylantragstellung befragt im Wesentlichen an, dass es in seinem Heimatdorf viele Taliban gegeben hätte. Diese hätten vom Vater des Beschwerdeführers zwei Mal verlangt, dass er den Beschwerdeführer zu den Taliban schicke, damit dieser mit ihnen zusammenarbeite. Nach der zweiten Ablehnung seines Vaters hätten die Taliban diesen erschossen. Der Onkel und die Mutter des Beschwerdeführers hätten daraufhin beschlossen, dass er weggehen müsse.
4. Mit Stellungnahme vom 11.05.2018 erstattete der Beschwerdeführer Vorbringen zu seiner derzeitigen familiären Situation, zur Sicherheitslage in Nangarhar sowie zur Gefahr einer Zwangsrekrutierung. Zusätzlich legte der Beschwerdeführer einen Ambulanzbericht betreffend Gelenksschmerzen vor.
5. Die belangte Behörde wies den gegenständlichen Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 i.V.m.
§ 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) mit Bescheid vom 24.07.2018 ab. Dem Beschwerdeführer wurde mit gegenständlichem Bescheid der Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt (Spruchpunkt II.) und diesem gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 23.07.2019 erteilt (Spruchpunkt III.).
Die belangte Behörde begründete ihren Bescheid im Wesentlichen damit, dass der Beschwerdeführer eine ihm aktuell drohenden, individuell gegen ihn gerichtete Gefahr einer Verfolgung nicht habe glaubhaft machen können. Der Beschwerdeführer sei gesund und verfüge auch über eine mindestens sechsjährige Schulbildung, welche ihm bei der Arbeitssuche von Vorteil wäre. Überdies verfüge er in seiner Heimatprovinz über Familienangehörige, die auch in der Lage seien, ihn finanziell zu unterstützen. Da es sich bei der Heimatprovinz des Beschwerdeführers um eine der volatilen Provinzen Afghanistans handle und die Anreise dorthin mit hoher Wahrscheinlichkeit ein verstärktes Risiko für die Unversehrtheit des Beschwerdeführers mit sich bringen würde, könne ihm eine Rückkehr dorthin nicht zugemutet werden. Hinsichtlich der Städte Kabul, Mazar-e Sharif und Herat könne die Gefahr einer Bedrohung im Sinne des Art. 3 EMRK zwar nicht festgestellt werden, aufgrund seiner Minderjährigkeit sei der Beschwerdeführer jedoch nicht rückführbar.
6. In der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde wurde insbesondere eine Rechtswidrigkeit infolge der Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgrund einer Mangelhaftigkeit des Ermittlungsverfahrens und einer mangelhaften Beweiswürdigung sowie eine unrichtige rechtliche Beurteilung gerügt. Darüber hinaus legte er Beweismittel zur Gefährdung durch Zwangsrekrutierungen vor.
7. Gemeinsam mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht wurden dem Beschwerdeführer das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation sowie weitere länderkundliche und sonstige Informationen im Rahmen des Parteiengehörs zur Kenntnis gebracht.
8. Am 14.10.2019 fand am Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung statt, in deren Rahmen der Beschwerdeführer insbesondere nochmals zu den geltend gemachten Fluchtgründen sowie seinem Leben in Österreich einvernommen wurde und weitere Urkunden zu seiner Integration vorlegte. In der mündlichen Verhandlung wurden von Seiten des Bundesverwaltungsgerichtes noch weitere länderkundliche und sonstige Informationen in das Verfahren eingeführt und dem Beschwerdeführer diesbezüglich eine Frist zur Stellungnahme eingeräumt, von welcher der Beschwerdeführer keinen Gebrauch machen wollte.
9. Mit Parteiengehör vom 14.11.2019, dem Beschwerdeführer zugestellt am 18.11.2019 wurde dem Beschwerdeführer das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019 zur Kenntnis gebracht und die Möglichkeit zur Stellungnahme eingeräumt. Von dieser Möglichkeit machte der Beschwerdeführer keinen Gebrauch.
I. Feststellungen:
1. Zur Person des Beschwerdeführers:
1.1. Identität, Herkunft und Sprachkenntnisse:
1.1.1. Der Beschwerdeführer trägt den Namen " XXXX " und ist Staatsbürger der Islamischen Republik Afghanistan. Er wurde dort am XXXX in der Provinz Nangarhar, im Distrikt Khogyani, im Dorf XXXX geboren und ist dort bis zu seinem dreizehnten Lebensjahr aufgewachsen.
1.1.2. Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Paschtu. Neben dieser hat er noch Kenntnisse der Sprachen Dari und Deutsch. Der Beschwerdeführer kann diese Sprachen auch lesen und schreiben.
1.2. Volksgruppe und Religion:
Der Beschwerdeführer gehört der afghanischen Volksgruppe der Paschtunen an und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam.
1.3. Familiäre Situation und wirtschaftliche Lage:
1.3.1. Der Vater des Beschwerdeführers ist bereits verstorben. Die Mutter und die Geschwister des Beschwerdeführers leben nunmehr in der Nähe der Stadt Jalalabad.
1.3.2. Der Onkel väterlicherseits versorgt die Familie des Beschwerdeführers.
1.3.3. Der Beschwerdeführer steht regelmäßig - ungefähr einmal pro Monat - mit seiner Familie in Kontakt.
1.4. Ausbildung und Berufserfahrung:
1.4.1. Der Beschwerdeführer hat in Afghanistan sechs Jahre lang eine staatliche Grundschule besucht.
1.4.2. Der Beschwerdeführer verfügt über Arbeitserfahrung in der Landwirtschaft, weil er seinem Vater nach der Schule gelegentlich bei der Arbeit geholfen hat.
1.5. Gesundheitszustand:
Der Beschwerdeführer leidet an weder an schweren physischen noch psychischen Erkrankungen oder Gebrechen. Er befindet sich weder in ärztlicher noch medikamentöser Behandlung.
1.6. Ausreise aus Afghanistan und Antragstellung in Österreich:
Der Beschwerdeführer reiste ungefähr im Februar 2016 aus Afghanistan aus und stellte schließlich am 22.04.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
2. Zum individuellen Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers:
2.1. Der Beschwerdeführer wurde in seinem Herkunftsstaat weder von den Taliban noch sonstigen Personen persönlich bedroht, noch wurde eine sonstige Handlung oder Maßnahme gegen diesen gesetzt.
2.2. Festgestellt wird weiters, dass der Vater des Beschwerdeführers seitens der Taliban nicht aufgefordert wurde, diesen seinen Sohn zu übergeben. Insbesondere wurde der Vater des Beschwerdeführers nicht aufgrund seiner Weigerung, den Beschwerdeführer zu den Taliban zu schicken, von diesen ermordet.
2.3. Der Beschwerdeführer hatte in seinem Herkunftsstaat weder Probleme mit den Behörden noch wurde er wegen seiner Nationalität, seinem Geschlecht, seiner sexuellen Orientierung oder seinem Bekenntnis zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam, seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Paschtunen oder wegen einer Zugehörigkeit zu einer anderen gesellschaftlichen Gruppe bedroht oder wurde sonst eine Handlung oder Maßnahme aus diesen Gründen gegen ihn gesetzt.
3. Zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich:
3.1. Der Beschwerdeführer lebt in einer Unterkunft in Sekirn am Wörthersee.
3.2. In Österreich lebt der Neffe des Beschwerdeführers. Er selbst ist ledig.
3.3. Der Beschwerdeführer hat in Österreich bereits zahlreiche integrative Maßnahmen gesetzt. Derzeit befindet sich der Beschwerdeführer in seinem zweiten Lehrjahr für den Lehrberuf Koch im Unternehmen " XXXX ".
3.4. Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.
4. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
4.1. Zur allgemeinen Lage in Afghanistan:
4.1.1. Sicherheitslage:
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil, nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten. Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen, waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni.
Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten. Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand.
Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September - im Gegensatz zu 2019 - von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge).
Sowohl im gesamten Jahr 2018, als auch in den ersten fünf Monaten 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen. Diese Angriffe sind stetig zurückgegangen. Zwischen 1.6.2018 und 30.11.2018 fanden 59 HPAs in Kabul statt, zwischen 1.12.2018 und 15.5.2019 waren es 6 HPAs.
(Auszug bzw. Zusammenfassung entscheidungsrelevanter Passagen aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan, Gesamtaktualisierung am 13.11.2019 [in Folge: "LIB"], Abschnitt 3. "Sicherheitslage")
4.1.2. Regierungsfeindliche Gruppierungen:
Allgemeines
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität.
Taliban
Die USA sprechen seit rund einem Jahr mit hochrangigen Vertretern der Taliban über eine politische Lösung des langjährigen Afghanistan-Konflikts. Dabei geht es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan kein sicherer Hafen für Terroristen wird. Beide Seiten hatten sich jüngst optimistisch gezeigt, bald zu einer Einigung zu kommen. Während dieser Verhandlungen haben die Taliban Forderungen eines Waffenstillstandes abgewiesen und täglich Operationen ausgeführt, die hauptsächlich die afghanischen Sicherheitskräfte zum Ziel haben. Zwischen 1.12.2018 und 31.5.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zu Ziel. Das wird als Versuch gewertet, in den Friedensverhandlungen ein Druckmittel zu haben.
Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada - Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub - Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar - und Serajuddin Haqqani Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes. Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan. Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert, welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde.
Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind. Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt. Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000. Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen.
Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll 12 Ableger, in acht Provinzen betreibt (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden.
Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren.
(Auszüge bzw. Zusammenfassung entscheidungsrelevanter Passagen aus dem LIB, Abschnitt. 3. "Sicherheitslage")
4.1.3. Grundversorgungs- und Wirtschaftslage:
Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt. Trotz Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, erheblicher Anstrengungen der afghanischen Regierung und kontinuierlicher Fortschritte belegte Afghanistan 2018 lediglich Platz 168 von 189 des Human Development Index. Die Armutsrate hat sich laut Weltbank von 38% (2011) auf 55% (2016) verschlechtert. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant: Außerhalb der Hauptstadt Kabul und der Provinzhauptstädte gibt es vielerorts nur unzureichende Infrastruktur für Energie, Trinkwasser und Transport.
Die afghanische Wirtschaft ist stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Das Budget zur Entwicklungshilfe und Teile des operativen Budgets stammen aus internationalen Hilfsgeldern. Jedoch konnte die afghanische Regierung seit der Fiskalkrise des Jahres 2014 ihre Einnahmen deutlich steigern.
Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor (einschließlich illegaler Aktivitäten), der 80 bis 90 % der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tatsächliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft, wobei der landwirtschaftliche Sektor gemäß Prognosen der Weltbank im Jahr 2019 einen Anteil von 18,7% am Bruttoinlandsprodukt (BIP) hat (Industrie: 24,1%, tertiärer Sektor: 53,1%). Das BIP Afghanistans betrug im Jahr 2018 19,36 Mrd. US-Dollar. Die Inflation lag im Jahr 2018 durchschnittlich bei 0,6% und wird für 2019 auf 3,1% prognostiziert.
Afghanistan erlebte von 2007 bis 2012 ein beispielloses Wirtschaftswachstum. Während die Gewinne dieses Wachstums stark konzentriert waren, kam es in diesem Zeitraum zu Fortschritten in den Bereichen Gesundheit und Bildung. Seit 2014 verzeichnet die afghanische Wirtschaft ein langsames Wachstum (im Zeitraum 2014-2017 durchschnittlich 2,3%, 2003-2013: 9%) was mit dem Rückzug der internationalen Sicherheitskräfte, der damit einhergehenden Kürzung der internationalen Zuschüsse und einer sich verschlechternden Sicherheitslage in Verbindung gebracht wird. Im Jahr 2018 betrug die Wachstumsrate 1,8%. Das langsame Wachstum wird auf zwei Faktoren zurückgeführt: einerseits hatte die schwere Dürre im Jahr 2018 negative Auswirkungen auf die Landwirtschaft, andererseits verringerte sich das Vertrauen der Unternehmer und Investoren. Es wird erwartet, dass sich das Real-BIP in der ersten Hälfte des Jahres 2019 vor allem aufgrund der sich entspannenden Situation hinsichtlich der Dürre und einer sich verbessernden landwirtschaftlichen Produktion erhöht.
(Auszug bzw. Zusammenfassung aus dem LIB, Abschnitt 21. "Grundversorgung")
4.1.4. Rechtsschutz und Justizwesen in Afghanistan:
Gemäß Artikel 116 der Verfassung ist die Justiz ein unabhängiges Organ der Islamischen Republik Afghanistan. Die Judikative besteht aus dem Obersten Gerichtshof (Stera Mahkama, Anm.), den Berufungsgerichten und den Hauptgerichten, deren Gewalten gesetzlich geregelt sind. In islamischen Rechtsfragen lässt sich der Präsident von hochrangigen Rechtsgelehrten des Ulema-Rates (Afghan Ulama Council - AUC) beraten. Dieser Ulema-Rat ist eine von der Regierung unabhängige Körperschaft, die aus rund 2.500 sunnitischen und schiitischen Rechtsgelehrten besteht.
Das afghanische Justizwesen beruht sowohl auf dem islamischen [Anm.:
Scharia] als auch auf dem nationalen Recht; letzteres wurzelt in den deutschen und ägyptischen Systemen. Die rechtliche Praxis in Afghanistan ist komplex: Einerseits sieht die Verfassung das Gesetzlichkeitsprinzip und die Wahrung der völkerrechtlichen Abkommen - einschließlich Menschenrechtsverträge - vor, andererseits formuliert sie einen unwiderruflichen Scharia-Vorbehalt. Ein Beispiel dieser Komplexität ist das neue Strafgesetzbuch, das am 15.02.2018 in Kraft getreten ist. Die Organe der afghanischen Rechtsprechung sind durch die Verfassung dazu ermächtigt, sowohl das formelle, als auch das islamische Recht anzuwenden.
Obwohl das islamische Gesetz in Afghanistan üblicherweise akzeptiert wird, stehen traditionelle Praktiken nicht immer mit diesem in Einklang; oft werden die Bestimmungen des islamischen Rechts zugunsten des Gewohnheitsrechts missachtet, welches den Konsens innerhalb der Gemeinschaft aufrechterhalten soll. Unter den religiösen Führern in Afghanistan bestehen weiterhin tiefgreifende Auffassungsunterschiede darüber, wie das islamische Recht tatsächlich zu einer Reihe von rechtlichen Angelegenheiten steht.
Gemäß dem allgemeinen Scharia-Vorbehalt in der Verfassung darf kein Gesetz im Widerspruch zum Islam stehen. Eine Hierarchie der Normen ist nicht gegeben, sodass nicht festgelegt ist, welches Gesetz in Fällen des Konflikts zwischen traditionellem, islamischem Recht und seinen verschiedenen Ausprägungen einerseits und der Verfassung und dem internationalen Recht andererseits, zur Anwendung kommt. Diese Unklarheit und das Fehlen einer Autoritätsinstanz zur einheitlichen Interpretation der Verfassung führen nicht nur zur willkürlichen Anwendung eines Rechts, sondern auch immer wieder zu Menschenrechtsverletzungen und stehen Fortschritten im Menschenrechtsbereich entgegen. Wenn keine klar definierte Rechtssetzung angewendet werden kann, setzen Richter und lokale Schuras das Gewohnheitsrecht durch. Es gibt einen Mangel an qualifiziertem Justizpersonal und manche lokale und Provinzbehörden, darunter auch Richter, haben nur geringe Ausbildung und fundieren ihre Urteile auf ihrer persönlichen Interpretation der Scharia, ohne das staatliche Recht, Stammesrecht oder örtliche Gepflogenheiten zu respektieren. Diese Praktiken führen oft zu Entscheidungen, die Frauen diskriminieren.
Trotz erheblicher Fortschritte in der formellen Justiz Afghanistans, bemüht sich das Land auch weiterhin für die Bereitstellung zugänglicher und gesamtheitlicher Leistungen; weit verbreitete Korruption sowie Versäumnisse vor allem in den ländlichen Gebieten gehören zu den größten Herausforderungen. Auch ist das Justizsystem weitgehend ineffektiv und wird durch Drohungen, Befangenheit, politischer Einflussnahme und weit verbreiteter Korruption beeinflusst. Das Recht auf ein faires und öffentliches Verfahren ist in der Verfassung verankert, wird aber in der Praxis selten durchgesetzt. Rechtsstaatliche (Verfahrens-)Prinzipien werden nicht konsequent und innerhalb des Landes uneinheitlich angewandt.
Dem Gesetz nach gilt für alle Bürgerinnen und Bürger die Unschuldsvermutung und Angeklagte haben das Recht, beim Prozess anwesend zu sein und Rechtsmittel einzulegen; jedoch werden diese Rechte nicht immer respektiert. Beschuldigte werden von der Staatsanwaltschaft selten über die gegen sie erhobenen Anklagen genau informiert. Die Beschuldigten sind dazu berechtigt, sich von einem Pflichtverteidiger vertreten und beraten zu lassen; jedoch wird dieses Recht aufgrund eines Mangels an Strafverteidigern uneinheitlich umgesetzt. Dem Justizsystem fehlen die Kapazitäten, um die große Zahl an neuen oder veränderten Gesetzen zu absorbieren. Der Zugang zu Gesetzestexten wurde verbessert, jedoch werden durch die schlechte Zugänglichkeit immer noch einige Richter und Staatsanwälte in ihrer Arbeit behindert.
Richterinnen und Richter
Das Justizsystem leidet unter mangelhafter Finanzierung und insbesondere in unsicheren Gebieten einem Mangel an Richtern. Die Unsicherheit im ländlichen Raum behindert eine Justizreform, jedoch ist die Unfähigkeit des Staates, eine effektive und transparente Gerichtsbarkeit herzustellen, ein wichtiger Grund für die Unsicherheit im Land.
Die Rechtsprechung durch unzureichend ausgebildete Richter basiert in vielen Regionen auf einer Mischung aus verschiedenen Gesetzen. Ein Mangel an Richterinnen - insbesondere außerhalb von Kabul - schränkt den Zugang von Frauen zum Justizsystem ein, da kulturelle Normen es Frauen verbieten, mit männlichen Beamten zu tun zu haben. Nichtsdestotrotz, gibt es in Afghanistan zwischen 250 und 300 Richterinnen. Der Großteil von ihnen arbeitet in Kabul; aber auch in anderen Provinzen wie in Herat, Balkh, Takhar und Baghlan.
Der Zugriff der Anwälte auf Verfahrensdokumente ist oft beschränkt. Richter und Anwälte erhalten oft Drohungen oder Bestechungen von örtlichen Machthabern oder bewaffneten Gruppen. Berichten zufolge zeigt sich die Richterschaft respektvoller und toleranter gegenüber Strafverteidigern, jedoch kommt es immer wieder zu Übergriffen auf und Bedrohung von Strafverteidigern durch die Staatsanwaltschaft oder andere Dienststellen der Exekutive. Anklage und Verhandlungen basieren vorwiegend auf unverifizierten Zeugenaussagen, einem Mangel an zuverlässigen forensischen Beweisen und willkürlichen Entscheidungen, die oft nicht veröffentlicht werden.
Einflussnahme durch Verfahrensbeteiligte oder Unbeteiligte sowie Zahlung von Bestechungsgeldern verhindern Entscheidungen nach rechtsstaatlichen Grundsätzen in weiten Teilen des Justizsystems. Es gibt eine tief verwurzelte Kultur der Straflosigkeit in der politischen und militärischen Elite des Landes. Im Juni 2016 wurde auf Grundlage eines Präsidialdekrets das "Anti-Corruption Justice Center" (ACJC) eingerichtet, um gegen korrupte Minister, Richter und Gouverneure vorzugehen. Der afghanische Generalprokurator Farid Hamidi engagiert sich landesweit für den Aufbau des gesellschaftlichen Vertrauens in das öffentliche Justizwesen. Das ACJC, zu dessen Aufgaben auch die Verantwortung für große Korruptionsfälle gehört, verhängte Strafen gegen mindestens 67 hochrangige Beamte, davon 16 Generäle der Armee oder Polizei sowie sieben Stellvertreter unterschiedlicher Organisationen, aufgrund der Beteiligung an korrupten Praktiken. Alleine von 1.12.2018-1.3.2019 wurden mehr als 30 hochrangige Personen der Korruption beschuldigt und bei einer Verurteilungsrate von 94% strafverfolgt. Unter diesen Verurteilten befanden sich vier Oberste, ein stellvertretender Finanzminister, ein Bürgermeister, mehrere Polizeichefs und ein Mitglied des Provinzialrates.
(Zusammenfassung aus dem LIB, Abschnitt 4. "Rechtsschutz/Justizwesen")
4.1.5. Sicherheitsbehörden in Afghanistan:
Im Zeitraum 2011 - 2014 wurde die Verantwortung für die Sicherheitsoperationen in Afghanistan schrittweise auf die afghanischen Sicherheitskräfte (ANSF) übertragen. Die ANSF setzt sich aus staatlichen Sicherheitskräften zusammen, darunter die afghanische Nationalarmee (ANA), die afghanische Luftwaffe (AAF), die afghanische Nationalpolizei (ANP), die afghanische lokale Polizei (ALP) und das National Directorate for Security (NDS), welches als Geheimdienst fungiert.
Die Wirksamkeit der afghanischen Streitkräfte hängt nach wie vor von der internationalen Unterstützung ab, um die Kontrolle über das Territorium zu sichern und zu behalten und die operative Kapazität zu unterstützen.
Die Polizeipräsenz ist auch in den Städten stärker und die Polizeibeamten sind verpflichtet, Richtlinien wie den ANP-Verhaltenskodex und die Richtlinien zum Einsatz von Gewalt einzuhalten. Die Reaktion der Polizei wird jedoch als unzuverlässig und inkonsistent bezeichnet, die Polizei hat eine schwache Ermittlungskapazität, es fehlt an forensischer Ausbildung und technischem Wissen. Der Polizei wird auch weit verbreitete Korruption, Gönnerschaft und Machtmissbrauch vorgeworfen:
Einzelpersonen in den Institutionen können ihre Machtposition missbrauchen und Erpressung zur Ergänzung ihres niedrigen Einkommens einsetzen. Es kam weiterhin zu willkürlichen Verhaftungen und Inhaftierungen durch die Polizei, und Folter ist bei der Polizei endemisch. Untätigkeit, Inkompetenz, Straffreiheit und Korruption führen zu Leistungsschwächen.
(Auszug bzw. Zusammenfassung entscheidungsrelevanter Passagen aus dem Country Guidance: Afghanistan, Juni 2019 [in Folge:
"EASO-Länderleitfaden Afghanistan"], des European Asylum Support Office [in Folge: "EASO"], abrufbar https://www.easo.europa.eu/country-guidance, abgerufen 16.12.2019, S. 122 mit Verweis auf weitere Quellen)
4.1.6. Folter und unmenschliche Behandlung:
Laut der afghanischen Verfassung (Artikel 29) sowie dem Strafgesetzbuch (Penal Code) und dem afghanischen Strafverfahrensrecht (Criminal Procedure Code) ist Folter verboten. Auch ist Afghanistan Vertragsstaat der vier Genfer Abkommen von 1949, des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) sowie des römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC). Wenngleich Afghanistan die UN-Konvention gegen Folter ratifiziert hat, Gesetze zur Kriminalisierung von Folter erlassen hat und eine Regierungskommission zur Folter einsetzte, hat die Folter seit Regierungsantritt im Jahr 2014 nicht wesentlich abgenommen - auch werden keine hochrangigen Beamten, denen Folter vorgeworfen wird, strafrechtlich verfolgt.
Die Verfassung und das Gesetz verbieten solche Praktiken, dennoch gibt es zahlreiche Berichte über Misshandlung durch Regierungsbeamte, Sicherheitskräfte, Mitarbeiter von Haftanstalten und Polizisten. Obwohl es Fortschritte gab, ist Folter in afghanischen Haftanstalten weiterhin verbreitet. Rund ein Drittel der Personen, die im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt in Afghanistan festgenommen wurden, sind gemäß einem Bericht der UNAMA von Folter betroffen. Es gibt dagegen keine Berichte über Folter in Haftanstalten, die der Kontrolle des General Directorate for Prison and Detention Centres des afghanischen Innenministeriums unterliegen. Trotz gesetzlicher Regelung erhalten Inhaftierte nur selten rechtlichen Beistand durch einen Strafverteidiger.
Der Anteil der Personen, die über Folter berichteten, ist in den vergangenen Jahren leicht gesunken. Auch existieren große Unterschiede abhängig von der geografischen Lage der Haftanstalt:
wurde bei einer Befragung durch UNAMA durchschnittlich von rund 31% der Befragten (45 Häftlinge) in ANP-Anstalten von Folter oder schlechter Behandlung berichtet (wenngleich dies ein Rückgang zum Vorjahreswert ist, der 45% betrug), so gaben 77% der Befragten (22 Häftlinge) aus einer ANP-Anstalt in Kandahar an, gefoltert und schlecht behandelt zu werden. Anstalten des NDS in Kandahar und Herat, konnten erwähnenswerte Verbesserungen vorweisen, während die Behandlung von Häftlingen in den Provinzen Kabul, Khost und Samangan auch weiterhin besorgniserregend war. Die Arten von Misshandlung umfassen schwere Schläge, Elektroschocks, das Aufhängen an den Armen für längere Zeit, Ersticken, Quetschen der Hoden, Verbrennungen, Schlafentzug, sexuelle Übergriffe und Androhung der Exekution.
Die afghanische Regierung hat Kontrollmechanismen eingeführt, um Fälle von Folter verfolgen und verhindern zu können. Allerdings sind diese weder beim NDS noch bei der afghanischen Polizei durchsetzungsfähig. Daher erfolgt eine Sanktionierung groben Fehlverhaltens durch Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden bisher nur selten. Die Rechenschaftspflicht der Sicherheitskräfte für Folter und Missbrauch ist schwach, intransparent und wird selten durchgesetzt. Eine unabhängige Beobachtung durch die Justiz bei Ermittlungen oder Fehlverhalten ist eingeschränkt bis inexistent. Mitglieder der ANP und ALP sind sich ihrer Verantwortung weitgehend nicht bewusst und unwissend gegenüber den Rechten von Verdächtigen.
Das Gesetz sieht Entschädigungszahlungen für die Opfer von Folter vor, jedoch ist die Barriere für einen Beweis der Folter sehr hoch. Für eine Entschädigungszahlung ist der Nachweis von physischen Anzeichen von Folter am Körper eines Inhaftierten notwendig.
(Zusammenfassung aus dem LIB, Abschnitt 6. "Folter und unmenschliche Behandlung")
4.1.7. Binnenflüchtlinge:
Im Jahresverlauf 2018 verstärkten sich Migrationsbewegungen innerhalb des Landes aufgrund des bewaffneten Konfliktes und einer historischen Dürre. UNHCR berichtet für das gesamte Jahr 2018 von ca. 350.000-372.000 Personen, die aufgrund des bewaffneten Konfliktes zu Binnenvertriebenen (IDPs, internally displaced persons) wurden. Trotz des im Zeitvergleich hohen Ausmaßes der Gewalt war im Jahr 2018 das Ausmaß der konfliktbedingten Vertreibungen geringer als im Jahr 2017, als ca. 450.000-474.000 Menschen durch den Konflikt innerhalb Afghanistans vertrieben wurden. Aufgrund der Dürre, vorwiegend in den Provinzen Herat und Badghis, kommen ca. 287.000 IDPs hinzu. Nach Angaben von UNOCHA sind im ersten Halbjahr 2019 rund 210.000 neue Konflikt induzierte Binnenflüchtlinge hinzugekommen. Mehr als die Hälfte von ihnen stammen aus den Provinzen Takhar, Faryab und Kunar.
Die Gesamtzahl von Binnenflüchtlingen lag IDMC zufolge Stand Jahresende 2018 bei ca. 2,598,000 Menschen.
Die meisten IDPs stammen aus unsicheren ländlichen Ortschaften und kleinen Städten und suchen nach relativ besseren Sicherheitsbedingungen sowie Regierungsdienstleistungen in größeren Gemeinden und Städten innerhalb derselben Provinz.
Die Mehrheit der Binnenflüchtlinge lebt, ähnlich wie Rückkehrer aus Pakistan und Iran, in Flüchtlingslagern, angemieteten Unterkünften oder bei Gastfamilien. Die Bedingungen sind prekär. Der Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung und wirtschaftlicher Teilhabe ist stark eingeschränkt. Der hohe Konkurrenzdruck führt oft zu Konflikten. Ein Großteil der Binnenflüchtlinge ist auf humanitäre Hilfe angewiesen.
Der begrenzte Zugang zu humanitären Hilfeleistungen führt zu Verzögerungen bei der Identifizierung, Einschätzung und zeitnahen Unterstützung von Binnenvertriebenen. Diesen fehlt weiterhin Zugang zu grundlegendem Schutz, einschließlich der persönlichen und physischen Sicherheit sowie Unterkunft.
IDPs sind in den Möglichkeiten eingeschränkt, ihren Lebensunterhalt zu erwirtschaften. Oft kommt es nach der ersten Binnenvertreibung zu einer weiteren Binnenwanderung. Mehr als 80% der Binnenvertriebenen benötigen Nahrungsmittelhilfe. Vor allem binnenvertriebene Familien mit einem weiblichen Haushaltsvorstand haben oft Schwierigkeiten, grundlegende Dienstleistungen zu erhalten, weil sie keine Identitätsdokumente besitzen.
Die afghanische Regierung kooperiert mit dem Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR), IOM und anderen humanitären Organisationen, um IDPs, Flüchtlingen, Rückkehrern und anderen betroffenen Personen Schutz und Unterstützung zu bieten. Die Unterstützungsfähigkeit der afghanischen Regierung bezüglich vulnerabler Personen - inklusive Rückkehrern aus Pakistan und Iran - ist beschränkt und auf die Hilfe durch die internationale Gemeinschaft angewiesen. Die Regierung hat einen Exekutivausschuss für Vertriebene und Rückkehrer sowie einen politischen Rahmen und einen Aktionsplan eingerichtet, der erfolgreiche Integration von Rückkehrern und Binnenvertriebenen fördert sowie humanitäre und entwicklungspolitische Aktivitäten erstellt und diese koordiniert.
(Auszug bzw. Zusammenfassung aus dem LIB, Abschnitt 20. "IDPs und Flüchtlinge")
4.1.8. Zur sozioökonomischen Situation in afghanischen Städten allgemein:
UNHCR macht darauf aufmerksam, dass nur wenige Städte von Angriffen regierungsfeindlicher Kräfte, die gezielt gegen Zivilisten vorgehen, verschont bleiben. UNHCR stellt fest, dass gerade Zivilisten, die in städtischen Gebieten ihren tagtäglichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aktivitäten nachgehen, Gefahr laufen, Opfer dieser Gewalt zu werden.678 Zu solchen Aktivitäten zählen etwa der Weg zur Arbeit und zurück, die Fahrt in Krankenhäuser und Kliniken, der Weg zur Schule; den Lebensunterhalt betreffende Aktivitäten, die auf den Straßen der Stadt stattfinden, wie Straßenverkäufe; sowie der Weg zum Markt, in die Moschee oder an andere Orte, an denen viele Menschen zusammentreffen.
Im Hinblick auf die Prüfung der Zumutbarkeit verweist UNHCR auf die allgemeine Bemerkung des Amtes der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten in seinem Überblick von 2018 über den Bedarf an humanitärer Hilfe, in der es heißt:
"Insgesamt halten sich heute über 54 Prozent der Binnenvertriebenen (IDPs) in den Provinzhauptstädten Afghanistans auf, was den Druck auf die ohnehin überlasteten Dienstleistungen und Infrastruktur weiter erhöht und die Konkurrenz um Ressourcen zwischen der Aufnahmegemeinschaft und den Neuankömmlingen verstärkt." Außerdem herrscht, wie in Abschnitt II.D beschrieben, in den nördlichen und westlichen Teilen Afghanistans die seit Jahrzehnten schlimmste Dürre, weshalb die Landwirtschaft als Folge des kumulativen Effekts jahrelanger geringer Niederschlagsmengen zusammenbricht. Am schlimmsten betroffen sind die Provinzen Balkh, Ghor, Faryab, Badghis, Herat und Jowzjan.
Dazu kamen 2016 über eine Million aus Iran und Pakistan zurückkehrender Afghanen, gefolgt von weiteren 620 000 Heimkehrern im Jahr 2017. Der Protection Cluster in Afghanistan stellte schon im April 2017, nach den Rückkehrerströmen von 2016, aber noch vor den meisten Rückkehrern des Jahres 2017, Folgendes fest: "Der enorme Anstieg der Zahl der Heimkehrer [aus Pakistan und Iran] führte zu einer extremen Belastung der bereits an ihre Grenzen gelangten Aufnahmekapazität der wichtigsten Provinz- und Distriktzentren Afghanistans, nachdem sich viele Afghanen den Legionen von Binnenvertriebenen anschlossen, da sie aufgrund des sich zuspitzenden Konflikts nicht in ihre Herkunftsgebiete zurückkehren konnten. [...] Mit begrenzten Lebensgrundlagen, ohne soziale Schutznetze und angewiesen auf schlechte Unterkünfte sind die Vertriebenen nicht nur mit einem erhöhten Risiko der Schutzlosigkeit in ihrem alltäglichen Leben konfrontiert, sondern werden auch in erneute Vertreibung und negative Bewältigungsstrategien gezwungen, wie etwa Kinderarbeit, frühe Verheiratung, weniger und schlechtere Nahrung usw."
Laut der Erhebung über die Lebensbedingungen in Afghanistan 2016-2017 leben 72,4 Prozent der städtischen Bevölkerung Afghanistans in Slums, informellen Siedlungen oder unter unzulänglichen Wohnverhältnissen.
Außerdem wird berichtet, dass das Armutsniveau in Afghanistan ansteigt: Der Anteil der Bevölkerung, der unter der nationalen Armutsgrenze lebt, ist von 34 Prozent in den Jahren 2007/2008 auf 55 Prozent im Zeitraum 2016/2017 gestiegen.
(Auszug bzw. Zusammenfassung entscheidungsrelevanter Passagen aus den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018, HCR/EG/AFG/18/02 [abrufbar unter:
http://www.refworld.org/country,,,,AFG„5b8900109,0.html (abgerufen am 16.12.2019); in Folge: "UNHCR-Richtlinien"], Pkt. C.3.)
4.2. Lage in der Heimatprovinz bzw. dem Heimatdistrikt des Beschwerdeführers:
4.2.1. Allgemeines:
Nangarhar liegt im Osten Afghanistans, an der afghanisch-pakistanischen Grenze. Die Provinz grenzt im Norden an Laghman und Kunar, im Osten und Süden an Pakistan (Tribal Distrikts Kurram, Khyber und Mohmand der Provinz Khyber Pakhtunkhwa) und im Westen an Logar und Kabul. Die Provinzhauptstadt von Nangarhar ist Jalalabad. Die Provinz ist in die folgenden Distrikte unterteilt:
Achin, Bati Kot, Behsud, Chaparhar, Dara-e-Nur, Deh Bala (auch Haska Mena), Dur Baba, Goshta, Hesarak, Jalalabad, Kama, Khugyani, Kot, Kuzkunar, Lalpoor, Muhmand Dara, Nazyan, Pachiragam, Rodat, Sher Zad, Shinwar und Surkh Rud sowie dem temporären Distrikt Spin Ghar.
Die afghanische zentrale Statistikorganisation (CSO) schätzte die Bevölkerung von Nangarhar für den Zeitraum 2019-20 auf 1.668.481 Personen - davon 263.312 Einwohner in der Hauptstadt Jalalabad. Die Bevölkerung besteht hauptsächlich aus Paschtunen, gefolgt von Pashai, Arabern und Tadschiken. Mitglieder der Sikh- und Hindu-Gemeinschaft lebten in der Provinz Nangarhar, insbesondere in und um Jalalabad. Viele von ihnen haben Afghanistan aus unterschiedlichen Gründen wie z.B. Unsicherheit verlassen. Mit Stand September 2018 lebten noch 60 Familien in der Gemeinde in Nangarhar.
Die asiatische Autobahn AH-1 führt durch die Distrikte Surkhrod, Jalalabad, Behsud, Rodat, Batikot, Shinwar, Muhmand Dara zum afghanisch-pakistanischen Grenzübergang Torkham. Die Provinz, die an die ehemaligen Stammesgebiete unter Bundesverwaltung (FATA) Pakistans grenzt, dient als inoffizieller Korridor für in- und ausländische Aufständische.
Laut dem UNODC Opium Survey 2018 war Nangarhar in der östlichen Region die führende Provinz beim Schlafmohnanbau, obwohl die Anbaufläche 2018 im Vergleich zu 2017 um 9% gesunken ist. Der Rückgang betraf die Distrikte Khogyani, Chaparhar und Lalpoor, während in Kot, Shinwar und Achin ein Anstieg verzeichnet wurde. Die meisten staatlich durchgeführten Mohnvernichtungsaktionen fanden in der Provinz Nangarhar statt.
4.2.2. Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure:
In Nangarhar, die als strategische Provinz gilt, war seit 2011 eine Verschlechterung der politischen und sicherheitspolitischen Situation zu beobachten. Korruption, lokale Machtkämpfe und das Versagen, effektive Dienstleistungen zu erbringen, untergruben das Vertrauen der Bevölkerung in die afghanische Regierung, die die Bevölkerung ungeschützt gegen Aufständische zurückließ, aber auch der Rückzug der internationalen Streitkräfte in der Provinz ab dem Jahr 2013 trug dazu bei. Nichtsdestotrotz sind Bemühungen der Regierung auf dem Weg, um Sicherheit zu gewährleisten, Landraub und Korruption vorzubeugen sowie die Koordinierung zwischen den Sicherheits- und Rechtsorganen zu verbessern. So arbeitet die UNAMA auch weiterhin auf lokaler Ebene mit ansässigen Gemeinschaften und Behörden, um Frieden und Konfliktlösungsbemühungen umzusetzen und voranzutreiben; so auch in der Provinz Nangarhar, wo UNAMA eine Friedensjirga zwischen zwei Stämmen im Distrikt Sher Zad einberief - an der zum ersten Mal auch Frauen eine aktive Rolle einnahmen. Diese Jirga führte zu einem Beschluss über die Verteilung von Wasser, der auch angenommen wurde.
Auch ebnete ein politisches und militärisches Vakuum, das die Provinz seit Jahren heimgesucht hatte, rund um das Jahr 2016 den Weg für den Aufstieg des afghanischen Zweiges des Islamischen Staates, dem Islamischen Staat in der Provinz Khorasan (ISKP). So erleichterten beispielsweise Stammesrivalitäten innerhalb des Distriktes Shinwar den Aufstieg des ISKP in der Provinz. Verschiedene militante Gruppen - afghanische, ausländische, sowie salafistische Kämpfer innerhalb der Taliban - trugen dazu bei, die Taliban in Nangarhar zu destabilisieren - viele von ihnen schlossen sich dem ISKP an.
Im Februar 2019 galt Nangarhar als eine der ISKP-Hochburgen Afghanistans. Die Schätzungen über die Stärke des ISKP gehen auseinander: so geht eine Quelle von rund 3.000 Kämpfern im Osten Afghanistans (Provinzen Nangarhar und Kunar) aus, während die ISKP-Stärke von einer anderen Quelle in ganz Afghanistan - jedoch insbesondere in Nangarhar und den angrenzenden östlichen Provinzen - im Juni 2019 auf 2.500-4.000 Kämpfer geschätzt wurde.
Der ISKP wurde in Nangarhar inzwischen zurückgedrängt, auch wenn er noch ein gewisses Territorium kontrolliert: Seine frühere Hochburg in den Spin Ghar-Bergen ist auf kleinere Inseln im Distrikt Achin zusammengeschrumpft. Durch große terroristische Angriffe in Städten führt der ISKP den Konflikt weiter - insbesondere in Kabul-Stadt und Nangarhar beanspruchte die Gruppe Terroranschläge für sich. Für das Jahr 2018 verzeichnete UNAMA beispielsweise 17 Selbstmord- und komplexe Angriffe in Nangarhar, die dem ISKP zugeschrieben wurden und 738 zivile Opfer forderten (222 Tote und 516 Verletzte).
Die Taliban sind in Nangahar aktiv und kontrollieren manche Gebiete; wie z.B. in den Distrikten Khugyani und Sher Zad (REU 24.4.2019).
Militärische Spezialeinheiten, auch als "counter-terrorism pursuit teams" bezeichnet, sind in den Provinzen Nangarhar und Khost tätig. Diese Kräfte, die inoffiziell von der US Central Intelligence Agency (CIA) ausgebildet und beaufsichtigt werden und für die Bekämpfung des Aufstands zuständig sind; diesen werden außergerichtliche Tötungen und Folter vorgeworfen. Die in Nangarhar aktive Miliz wird 02-Einheit genannt. Sie wird vom afghanischen Geheimdienst NDS befehligt und von der CIA unterstützt und ausgebildet. NDS-Operationen stehen außerhalb der Befehlskette der ANDSF, weswegen Quellen eine mangelnde Rechenschaftspflicht für die Handlungen der NDS-Einheiten kritisieren.
In Bezug auf die Anwesenheit regulärer staatlicher Sicherheitskräfte liegt die Provinz Nangarhar unter der Verantwortung des 201. ANA Corps, das unter die NATO-Mission Train, Advise, and Assist Command - East (TAAC-E) fällt, welche von US-amerikanischen und polnischen Streitkräften geleitet wird.
4.2.3. Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung:
Im Jahr 2018 dokumentierte UNAMA 1.815 zivile Opfer (681 Tote und 1.134 Verletzte) in der Provinz Nangarhar. Dies entspricht einer Steigerung von 111% gegenüber 2017. Die Hauptursachen dafür waren Selbstmord- und komplexe Angriffe, gefolgt von IEDs und Bodengefechten. Die Zahl der zivilen Opfer durch IEDs vervierfachte sich und erreichte zum ersten Mal fast das gleiche Niveau wie Kabul. Im ersten Halbjahr 2019 befand sich Nangarhar hinsichtlich der Anzahl an zivilen Opfern nach Kabul und Helmand mit 401 erfassten Opfern (163 Tote, 238 Verletzte) an dritter Stelle, wobei in Nangarhar allerdings 100 zivile Todesopfer mehr zu verzeichnen waren, als beispielsweise in Kabul mit einer deutlich höheren Anzahl an zivilen Verletzten.
Seit dem Jahr 2018 intensivierten die staatlichen Sicherheitskräfte ihr Vorgehen gegen den ISKP. Bei rund 300 Luft- und Bodenoperationen in ganz Afghanistan seit April 2018, jedoch vorwiegend in den Distrikten Khugyani, Pachiragam und Kot der Provinz Nangarhar, wurden ca. 1.200 IS-Kämpfer getötet. Bei regelmäßigen Operationen in der Provinz werden neben ISKP-Kämpfern, deren hochrangige ISKP-Vertreter auch Talibanaufständische getötet. Auch wurde im April 2019 die Sicherheitsoperation Khalid durch die afghanische Regierung gestartet, die sich auf die südlichen Regionen, Nangarhar im Osten, Farah im Westen, sowie Kunduz, Takhar und Baghlan im Nordosten, Ghazni im Südosten und Balkh im Norden konzentrierte.
Immer wieder kommt es auch zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen Mitgliedern der Taliban und des ISKP.
4.2.4. IDPs - Binnenvertriebene:
UNOCHA meldete für den Zeitraum 1.1.-31-12.2018 12.236 konfliktbedingt Binnenvertriebene aus der Provinz Nangarhar, von denen 10.461 innerhalb der Provinz neu siedelten. Von UNOCHA wurden für den Zeitraum 1.1.-30.6.2019 18.377 Binnenvertriebene in Nangarhar erfasst, von denen die meisten innerhalb der Provinz umsiedelten. Im Zeitraum 1.1.-31.12.2018 meldete UNOCHA 11.274 Vertriebene in die Provinz Nangarhar, von denen die meisten (10.461) aus der Provinz selbst stammten. Im Zeitraum 1.1.-30.6.2019 meldete UNOCHA 21.215 konfliktbedingt in die Provinz Nangarhar vertriebene Personen, die vor allem aus der Provinz selbst, sowie in geringerem Ausmaß aus Kunar stammten. Im Jahr 2018 galt die Provinz Nangarhar als eine der Hauptprovinzen, die sowohl Ursprung als auch Ziel für von Vertreibung und Konflikten betroffenen Gemeinschaften sind.
(Auszüge bzw. Zusammenfassung entscheidungsrelevanter Passagen aus dem LIB, Abschnitt. 3.22. "Nangarhar")
4.2.5. Lage in der Heimatprovinz des Beschwerdeführers im Jahr 2015/2016:
Laut dem Long War Journal (LWJ) ist Nangarhar eine strategische Provinz für die Taliban und die Koalition. Die Provinz grenzt an die pakistanische Stammesorganisation Khyber und beherbergt die Hauptversorgungsroute aus Pakistan. Schützen greifen auch Zivilisten auf der Autobahn Kabul-Jalalabad an. Die Taliban griffen Checkpoints und Patrouillen der Sicherheitskräfte an. Indirekte zivile Opfer wurden durch Hinterhalte auf ANSF-Vertreter und Konvois, Raketenstarts (Bezirk Bati Kot), Straßenbomben (Bezirk Achin und Sherzad) und Explosionen (Jalalabad) verursacht. Zivilisten waren auch Opfer von Kämpfen zwischen Aufständischen und ANSF. Diese Kämpfe hinderten die Landwirte daran, ihre Ernten zu ernten. Seit dem Frühjahr 2015 greift IS die Taliban an und es gab mehrere heftige Schlachten in Dehbala, Chapahar, Khogyani, Nazyan, Achin, wo Stammesälteste und mindestens 70 Zivilisten getötet wurden, und in Kot. Im Bezirk Muhmand Dara wurden laut einem Artikel 3 Zivilisten getötet und Häuser in Brand gesetzt. In den von den IS kontrollierten Bezirken (Kot, Achin und Dehbala) hat die Anwesenheit von IS-Kämpfern Auswirkungen auf das tägliche Leben der Zivilbevölkerung: Vieh und Ernte werden beschlagnahmt, Schulen, islamische Madrassen und Kliniken werden geschlossen, Stromleitungen und Mobilfunkmasten werden zerstört, Familien müssen die Hälfte ihrer Söhne schicken, um mit ihnen zu kämpfen und "verfügbare Frauen" eindeutig zu identifizieren: Witwen und unverheiratete Frauen. Menschen, die beschuldigt werden, Taliban-Anhänger zu sein, werden hingerichtet und ältere Menschen als Geiseln genommen.
Um den Angriffen der Aufständischen entgegenzuwirken, wurden zahlreiche ausländische Drohnen- und Luftangriffe eingesetzt, um sie zu beseitigen, insbesondere in den Bezirken Lalpur, Dehbala, Batikot, Mumand Dara, Khogyani, Chaparhar, Nazyan Sherzad, Achin und Durbaba. Zivilisten werden gezielt angesprochen, wenn sich Sprengungen und Angriffe in öffentlichen Räumen wie Schulen (Behsud, Muhmand Dara), Moscheen (Khogyani, Rodat) und Basaren (Batikot) befinden. Die lokale Presse berichtete über die Ermordung von Stammesältesten, Regierungsvertretern, religiösen Gelehrten und Entführungen und Morden an Zivilisten.
Um ihre Präsenz zu stärken, nutzen die Aufständischen Rivalitäten, Stammeskonflikte, Landstreitigkeiten sowie den Widerstand gegen die Ausrottung des Opiumanbaus, der zwischen 2012 und 2013 um 400 % zugenommen hat.
Im Jahr 2012 war das Haqqqani-Netzwerk vor allem in den Bezirken Hesarak, Sherzad, Chapahar und Jalalabad vertreten. Die poröse Beschaffenheit der südlichen Grenze Afghanistans zur Pakistanischen Kurram Stammesorganisation ermöglichte es dem familienbasierten Haqqani-Netzwerk in Nangarhar, diese Provinz zu nutzen, um die Infiltration zu erleichtern und IMU-Kämpfer nach Kabul und in den Norden Afghanistans zu bringen. Die Taliban sind ebenso wie Gruppen, die mit Hezb-e Islami und den pakistanischen Taliban verbunden sind, im Bezirk Khogyani vertreten. Laut dem Long War Journal unterstützt die Peshawar Regional Military Shura (einer der vier Militärräte der Taliban) Angriffe in der Provinz Nangarhar und die Tora Bora Military Front unter der Leitung von Anwarul Haq Mujahid, die ebenfalls in dieser Region tätig ist. Maulvi Mir Ahmad Gul, Talibans Schattengouverneur für Nangarhar, wurde im Juni 2015 in Pakistan getötet. Der Dschihad-Kommandant in Nangarhar und verantwortlich für den Bezirk Shinwar ist Mullah Faisal. Während Drohnenangriffen und Bodenoperationen wurden die Kommandanten der Taliban identifiziert, verhaftet oder getötet: im Bezirk Batikot: die Kommandanten Khan Afzal, Hanifa und Dr. Omar, Kommandant Sparghay, Kommandant Shamsullah; im Bezirk Chaparhar: Kommandanten Nawab und Moulvi Aziz;
Im Bezirk Dehbala: Kommandant Qari Rafiq, Aimal; im Bezirk Durbaba:
Abdul Qahar alias Haqyar als Schattengouverneur der Taliban; im Bezirk Muhmand Dara: Mullah Daoud; im Bezirk Sherzad: Zarqavi und Noor Alam als Häuptling der Taliban für den Bezirk. Eine große Anzahl pakistanischer Militanter wurde von der afghanischen Armee identifiziert und verhaftet (Durbaba und Batikot-Distrikte). Tehrek-e Taliban und Lashkar-e-Islam, die in Pakistan verboten sind, sind in dieser Provinz aktiv, insbesondere im Distrikt Nyazan, ebenso wie der Jamaat-ul-Ahrar, dessen Kommandant, Maulana Shakeel Ahmed Haqqani, alias Qari Shakeel, in Nangarhar getötet wurde. IS beginnt eine Strategie, die darauf abzielt, die Kontrolle über die Provinz Nangarhar zu übernehmen, stößt aber auf starken Widerstand. Hauptführungskräfte, die der IS die Treue geschworen hatten, wurden angeblich im Bezirk Achin getötet: Gull Zaman (stellvertretender Chef), Jahanyar (Stellvertreter des letzten) und Hafiz Saeed Khan (ehemaliger Leiter des TTP und IS-Emir für die Provinz Khorasan), dessen Tod von der IS abgelehnt wurde. Im Bezirk Chaparhar wurden auch die IS-Kommandanten Ghulam Farooq und Mir Wais getötet.
(Auszug bzw. Zusammenfassung entscheidungsrelevanter Passagen aus dem EASO Country of Origin Information Report Afghanistan, Security Situation, November 2016 [in Folge: "EASO-Bericht Sicherheitslage Jänner 2016], abrufbar unter:
https://coi.easo.europa.eu/administration/easo/PLib/Afghanistan_security_report.pdf, abgerufen am 16.12.2019, Pkt. 2.5.2.)
4.3. Potentielle Risiken für den Beschwerdeführer in Afghanistan:
4.3.1. Situation zur Rekrutierung bzw. Zwangsrekrutierung durch die Taliban:
Allgemeines
Regierungsfeindliche Kräfte nutzen in Gebieten, in denen sie die tatsächliche Kontrolle über das Territorium und die Bevölkerung ausüben, Berichten zufolge verschiedene Methoden zur Rekrutierung von Kämpfern, einschließlich Maßnahmen unter Einsatz von Zwang. Personen, die sich der Rekrutierung widersetzen, sind Berichten zufolge ebenso wie ihre Familienmitglieder gefährdet, getötet oder bestraft zu werden.
Regierungsfeindliche Kräfte rekrutieren, wie berichtet wird, weiterhin Kinder - sowohl Jungen als auch Mädchen - um sie für Selbstmordanschläge, als menschliche Schutzschilde oder für die Beteiligung an aktiven Kampfeinsätzen einzusetzen, um Sprengsätze zu legen, Waffen und Uniformen zu schmuggeln und als Spione, Wachposten oder Späher für die Aufklärung zu dienen.
(Auszug aus den UNHCR-Richtlinien, Pkt. III.A.3.a.)
Die Taliban haben keinen Mangel an Freiwilligen bzw. Rekruten und nutzen die Zwangsrekrutierung nur in Ausnahmefällen. So wird beispielsweise berichtet, dass die Taliban versuchen, Personen mit militärischem Hintergrund, wie beispielsweise Mitglieder des ANSF, zu rekrutieren. Die Taliban nutzen auch die Zwangsrekrutierung in Situationen akuten Drucks. Druck und Zwang zur Aufnahme in die Taliban sind nicht immer gewalttätig und werden oft über die Familie, den Klan oder das religiöse Netzwerk ausgeübt, je nach den örtlichen Gegebenheiten. Es kann gesagt werden, dass die Folgen einer Nichtbefolgung im Allgemeinen ernst sind, einschließlich Berichten über Bedrohungen der Familie der angesprochenen Rekruten, schwere Körperverletzungen und Morde.
Obwohl die Taliban intern keine Kinder rekrutieren, deuten die verfügbaren Informationen darauf hin, dass die Rekrutierung von Kindern, insbesondere von Jungen nach der Pubertät, erfolgt. Kinder können von aufständischen Gruppen auf vielfältige Weise einer Gehirnwäsche unterzogen werden und können in Madrassas indoktriniert werden, einschließlich der Verbringung nach Pakistan zur Ausbildung.
(Zusammenfassung aus EASO, Country of Origin Information Report:
Afghanistan, Recruitment by armed groups, September 2016 [in Folge:
"EASO-Bericht Rekrutierung", abrufbar unter:
https://coi.easo.europa.eu/administration/easo/PLib/Afghanistan_Recruitment_German.pdf, abgerufen am 16.12.2019], Pkt. 1.5., 5.2., 5.2.1.2., 5.2.1.3. und 5.2.1.4.).
4.3.2. Situation von Kindern:
Die Situation der Kinder hat sich in den vergangenen Jahren insgesamt verbessert. So werden mittlerweile rund zwei Drittel aller Kinder eingeschult. Während Mädchen unter der Taliban-Herrschaft fast vollständig vom Bildungssystem ausgeschlossen waren, machen sie von den heute ca. acht Millionen Schulkindern rund drei Millionen aus. Der Anteil der Mädchen nimmt jedoch mit fortschreitender Klassen- und Bildungsstufe ab. Den geringsten Anteil findet man im Süden und Südwesten des Landes (Helmand, Uruzgan, Zabul und Paktika). Laut UNAMA-Berichten sank die Gesamtzahl der konfliktbedingt getöteten oder verletzten Kinder im ersten Halbjahr 2019 gegenüber dem Vorjahr um 13% (327 Todesfälle, 880 Verletzte). Die Beteuerungen regierungsfeindlicher Gruppen, Gewalt gegen Zivilisten und insbesondere Kinder abzulehnen, werden immer wieder durch ihre Aktionen konterkariert. Die afghanische Bevölkerung ist eine der jüngsten und am schnellsten wachsenden der Welt - mit rund 63% der Bevölkerung (27,5 Millionen Afghanen) unter 25 Jahren und 46% (11,7 Millionen Kinder) unter 15 Jahren. Die Volljährig