TE Bvwg Erkenntnis 2020/1/28 W131 2131438-1

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Veröffentlicht am 28.01.2020
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Entscheidungsdatum

28.01.2020

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art. 133 Abs4
VwGVG §28

Spruch

W131 2131438-1/42E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag Reinhard GRASBÖCK über die Beschwerde des XXXX , geb XXXX , StA Afghanistan, vertreten durch XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.07.2016, Zl XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

I. Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 28 VwGVG iVm § 3 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

II. Gemäß § 3 Abs 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (= Bf) reiste im Jahr 2016 illegal in das Bundesgebiet ein und stellte am 11.01.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz. Am selben Tag fand die Erstbefragung des Bf vor einem Organwalter des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt. Am 19.07.2016 wurde der Bf niederschriftlich vor der belangten Behörde zu seinem Antrag auf internationalen Schutz einvernommen. Der Bf gab im verwaltungsbehördlichen Verfahren als Fluchtgrund stets an, dass er Afghanistan in Richtung Iran verlassen habe, weil sein Vater sowie sein Bruder von den Taliban getötet worden seien. Im Iran sei er schlecht behandelt worden und von einer Abschiebung nach Afghanistan bzw einer Teilnahme am Syrienkrieg bedroht gewesen, weshalb er nach Europa gereist sei.

2. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid der belangten Behörde vom 20.07.2016 wies die belangte Behörde den Antrag des Bf auf internationalen Schutz zur Gänze ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei und die Frist für seine freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.

Gleichzeitig stellte die belangte Behörde dem Bf eine Rechtsberatungsorganisation für ein allfälliges Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht (= BVwG) zur Seite.

3. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vom Bf rechtzeitig erhobene Beschwerde, welche am 22.07.2016 mit Unterstützung einer Rechtsberatungsorganisation verfasst wurde. Mit der Beschwerde wird der gegenständlich angefochtene Bescheid zur Gänze wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens, mangelhafter bzw unrichtiger Bescheidbegründung sowie unrichtiger rechtlicher Beurteilung bekämpft.

4. Die belangte Behörde legte die Beschwerde samt dem dazugehörigen Verwaltungsakt dem BVwG zur Entscheidung vor.

5. Am 06.07.2017 wurde eine Beschwerdeergänzung samt Integrationsunterlagen übermittelt.

6. Am 11.06.2018 brachte der Bf weitere Unterlagen, darunter eine Taufbescheinigung der XXXX Christengemeinde in XXXX vom 25.05.2018 sowie eine Austrittserklärung aus der islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich vom 20.04.2018, in Vorlage.

7. Am 19.07.2018 erfolgte eine weitere Eingabe des Bf, worin er darlegte, dass er bisexuell sei und dies bereits im Iran geheim ausgelebt habe. Es sei ihm bislang nicht möglich gewesen, offen über seine sexuelle Orientierung zu sprechen. Dieser Eingabe legte der Bf einen Sozialbericht des Vereins XXXX bei.

8. Mit Schreiben vom 23.07.2018 ersuchte der Bf das BVwG, die von ihm vorgebrachte Konversion nicht als primären Fluchtgrund zu betrachten.

8. Am 24.07.2018 fand vor dem BVwG eine mündliche Beschwerdeverhandlung statt. Im Anschluss an diese Verhandlung behob das BVwG mit mündlich verkündetem Beschluss den angefochtenen Bescheid vom 20.07.2016 gemäß § 28 Abs 3 VwGVG und verwies die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheids an die belangte Behörde zurück. Gegen diesen Beschluss, welcher über Antrag der belangten Behörde am 31.10.2018 schriftlich ausgefertigt wurde, erhob die belangte Behörde Amtsrevision.

9. Mit Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs (=VwGH), Ro 2019/20/0002, wurde der Beschluss des BVwG vom 24.07.2018 wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben.

10. Im zweiten Rechtsgang wurde den Parteien - gemeinsam mit der Ladung zur neuerlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG- das aktuelle Länderinformationsblatt zu Afghanistan vom 13.11.2019, die UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018 sowie weitere Berichte zur Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan übermittelt.

11. Mit Eingabe vom 10.12.2019 erfolgte eine Zeugenbekanntgabe des Bf, seither vertreten durch den im Spruch ausgewiesenen Rechtsvertreter.

12. Am 17.12.2019 fand vor dem BVwG unter Beiziehung eines Dolmetschers für die Sprache Dari und in Anwesenheit des ausgewiesenen Rechtsvertreters des Bf eine mündliche Verhandlung (im zweiten Rechtsgang) statt, im Zuge derer der Bf nach Wiedereröffnung des Beweisverfahrens zu seinem Antrag auf internationalen Schutz einvernommen und die stellig gemachten Zeugen zum Beweisthema der sexuellen sowie religiösen Orientierung des Bf befragt wurden. Vertreter der belangten Behörde sind nicht erschienen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Über den Verfahrensgang hinaus wird Folgendes festgestellt:

1.1. Zur Person des Bf und seiner individuellen Verfolgungs- und Bedrohungslage

Der Bf ist volljähriger Staatsangehöriger Afghanistans und Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken. Er ist ledig und kinderlos. Seine Muttersprache ist Dari.

Der Bf wurde in Afghanistan, in Dar-e Suf, geboren und besuchte dort fünf Jahre die Schule, übersiedelte aber bereits im Alter von etwa zehn Jahren in den Iran, wo er bis zu seiner Ausreise nach Europa im Jahr 2016 lebte. Der Bf reiste im Jänner 2016 in Österreich ein und stellte hier am 11.01.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Der Bf ist bi- bzw homosexuell mit einer Vorliebe für Transfrauen. Seinen ersten (geheimen) sexuellen Kontakt hatte der Bf im Alter von 16 Jahren während seines Aufenthalts im Iran mit einem afghanischen Mann. Danach fand im Iran eine weitere gleichgeschlechtliche Begegnung mit einem anderen Mann statt. Der Bf wurde jedoch von beiden Männern (finanziell) ausgenutzt und damit erpresst, seine sexuelle Orientierung öffentlich zu machen. Der Bf konnte aufgrund seines historisch islamisch-muslimischen Umfelds, welcher Bi- und Homosexualität verbietet, lange überhaupt nicht über seine sexuelle Neigung sprechen und musste diese unterdrücken. In Österreich kam der Bf in Kontakt mit der LGBTIQ (Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Intersex and XXXX) Community. Im Jahr 2018 nahm der Bf (beginnend im Februar 2018) mehrmals monatlich Beratungsgespräche bei XXXX , einem Verein zur Unterstützung von aus den aufgezeigten sexuellen Gründen Geflüchteten in Anspruch und wird bzw wurde von diesem Verein in seinem Coming-Out-Prozess begleitet. Der Bf ist sich seiner homosexuellen bzw bisexuellen Orientierung bewusst, dieses Thema ist für ihn aber nach wie vor schambehaftet. In Österreich bekennt sich der Bf zunehmend zu dieser Orientierung.

Der Bf ausweislich der Verhandlungsergebnisse ist in einem inneren Konflikt zwischen seinem Interesse an der christlichen Religion und seiner sexuellen Neigung. Er entstammt einer sunnitisch-muslimischen Familie und wurde als sunnitischer Moslem erzogen, bezeichnet sich jedoch mittlerweile als Christ, trat im April 2018 aus der islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich aus und wurde am 19.05.2018 - nach Absolvierung eines sechsmonatigen Vorbereitungskurses - von der XXXX Christengemeinde in XXXX , einem Mitglied der XXXX Österreich, getauft. Im April 2019 wurde der Bf in die Evangelische Kirche, A.B., aufgenommen und besucht seither regelmäßig die Gottesdienste und sonstigen Veranstaltungen der evangelischen Pfarrgemeinde A.B. XXXX .

Im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan droht dem Bf aufgrund seiner bi- bzw homosexuellen Orientierung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit landesweit eine Verfolgung aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe.

Der Bf ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

Asylausschlussgründe sind weder substantiiert vorgebracht noch sonst bekannt.

1.2. Zur Lage im Herkunftsstaat

Unter Bezugnahme auf das aktuellste Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 13.11.2019 werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zur Lage in Afghanistan getroffen:

1.2.1. Sexuelle Orientierung und Genderidentität

Das afghanische Strafgesetzbuch verbietet einvernehmlichen Geschlechtsverkehr zwischen zwei Angehörigen desselben Geschlechtes (USDOS 13.3.2019; vgl. FH 4.2.2019, MoJ 15.5.2017: Art. 645, 649). Die afghanische Verfassung kennt kein Verbot der Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung (AA 2.9.2019; vgl. USDOS 13.3.2019, FH 4.2.2019). Entsprechende Forderungen im Rahmen des Universal Periodic Review (UPR)-Verfahrens im Jänner 2014 in Genf, gleichgeschlechtliche Paare zu schützen und nicht zu diskriminieren, wies die afghanische Vertretung (als eine der wenigen nicht akzeptierten Forderungen) zurück. Beim UPR Afghanistans im Januar 2019 standen LGBTTI nicht auf der Agenda. Bisexuelle und homosexuelle Orientierung sowie transsexuelles Leben werden von der breiten Gesellschaft abgelehnt und können daher nicht in der Öffentlichkeit gelebt werden (AA 2.9.2019).

Laut Art. 247 des afghanischen Strafgesetzbuchs werden neben außerehelichem Geschlechtsverkehr auch solche Sexualpraktiken, die üblicherweise mit männlicher Homosexualität in Verbindung gebracht werden, mit langjähriger Haftstrafe sanktioniert. Neben der sozialen Ächtung von Bisexuellen, Homosexuellen und Transsexuellen verstärken Bestimmungen und Auslegung des islamischen Rechts (der Scharia, die z. T. von noch konservativeren vorislamischen Stammestraditionen beeinflusst wird) mit Androhungen von Strafen bis hin zur Todesstrafe den Druck auf die Betroffenen. Organisationen, die sich für den Schutz der sexuellen Orientierung einsetzen, arbeiten im Untergrund (AA 2.9.2019).

Homosexualität wird weitverbreitet tabuisiert und als unanständig betrachtet. Mitglieder der LGBTI-Gemeinschaft haben keinen Zugang zu bestimmten gesundheitlichen Dienstleistungen und können wegen ihrer sexuellen Orientierung ihre Arbeit verlieren (USDOS 13.3.2019). Mitglieder der LGBTI-Gemeinschaft werden diskriminiert, misshandelt, vergewaltigt und verhaftet (USDOS 13.3.2019).

Eine systematische Verfolgung durch staatliche Organe kann nicht nachgewiesen werden, was allerdings an der vollkommenen Tabuisierung des Themas liegt. Es wird jedoch von gewalttätigen Übergriffen bis hin zu Vergewaltigungen homosexueller Männer durch die afghanische Polizei berichtet. Vor allem aufgrund der starken Geschlechtertrennung kommt es immer wieder zu freiwilligen oder erzwungenen homosexuellen Handlungen zwischen heterosexuellen Männern (AA 2.9.2019).

Unter der Scharia ist bereits die Annäherung des äußeren Erscheinungsbilds, etwa durch Kleidung, an das andere Geschlecht verboten. Die Scharia verbietet daher auch die Änderung des Vornamens und der Geschlechtszugehörigkeit transsexueller Personen (AA 2.9.2019). Es gibt nur wenige spezifische Informationen über Transgender oder Intersex-Personen in Afghanistan (DFAT 18.9.2017).

Gespräche über Sexualität, sexuelle Bedürfnisse und sexuelle Probleme sind in der afghanischen Gesellschaft kein akzeptiertes Gesprächsthema (EASO 12.2017; vgl. Bamik 7.2018) und dieses Thema wird geheim gehalten. Zwischen Ehepartnern wird ein solches Gespräch als negativ, beschämend und böse betrachtet. Afghanische Eltern schämen sich, mit ihrem Nachwuchs über Sexualität zu sprechen und an afghanischen Schulen wird keine Sexualkunde unterrichtet (Bamik 7.2018).

Es besteht eine niedrige soziale Toleranz gegenüber Personen mit einer sexuellen Orientierung oder Genderidentität außerhalb der erwarteten Normen der Heterosexualität. Ein solches Bekenntnis ist ein soziales Tabu und wird als unislamisch betrachtet (EASO 12.2017).

Es existieren zahlreiche traditionelle Praktiken, die zwar nicht offiziell anerkannt sind, jedoch teilweise im Stillen geduldet werden. Beispiele dafür sind die Bacha Push und Bacha Bazi. Bacha Push sind junge Mädchen, die sich als Jungen ausgeben, um eine bestimmte Bildung genießen zu können, alleine außer Haus zu gehen oder Geld für die sohn- oder vaterlose Familie zu verdienen (AA 2.9.2019). Bacha Bazi sind Buben oder transsexuelle Kinder, die sexuellem Missbrauch und/oder dem Zwang, bei öffentlichen oder privaten Ereignissen zu tanzen, ausgesetzt sind (MoJ 15.5.2017: Art. 653).

Bei den Bacha Push handelt es sich i. d. R. nicht um eine transsexuelle, sondern eine indirekt gesellschaftlich bedingte Lebensweise. Bei Entdeckung droht Verfolgung durch konservative oder religiöse Kreise, da ein Mädchen bestimmte Geschlechtergrenzen überschritten und sich in Männerkreisen bewegt hat (AA 2.9.2019; vgl. NGI 6.3.2018). Meist erfolgt das Ausgeben der Mädchen als Buben mit der Unterstützung der Familie, beispielsweise weil es in der Familie keinen Sohn gibt. Mit Erreichen der Pubertät kehren die meisten Bacha Push zurück zu ihrem Leben als Mädchen (CAI 28.3.2019; vgl. OF 16.5.2018).

...

1.2.2. Religionsfreiheit

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7% und die Schiiten auf 10 bis 19% der Gesamtbevölkerung geschätzt (CIA 30.4.2019; vgl. AA 2.9.2019). Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha¿i und Christen machen weniger als ein Prozent der Bevölkerung aus (AA 2.9.2019; vgl. CIA 30.4.2019, USDOS 21.6.2019); in Kabul lebt auch weiterhin der einzige jüdische Mann in Afghanistan (UP 16.8.2019; vgl. BBC 11.4.2019). Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (USDOS 21.6.2019; vgl. FH 4.2.2019, MPI 2004). Die Abkehr vom Islam gilt als Apostasie, die nach der Scharia strafbewehrt ist (USODS 21.6.2019; vgl. AA 9.11.2016). Im Laufe des Untersuchungsjahres 2018 gab es keine Berichte über staatliche Verfolgungen aufgrund von Blasphemie oder Apostasie (USDOS 21.6.2019). Auch im Berichtszeitraum davor gab es keine Berichte zur staatlichen Strafverfolgung von Apostasie und Blasphemie (USDOS 29.5.2018).

Konvertiten vom Islam zu anderen Religionen berichteten, dass sie weiterhin vor Bestrafung durch Regierung sowie Repressalien durch Familie und Gesellschaft fürchteten. Das Gesetz verbietet die Produktion und Veröffentlichung von Werken, die gegen die Prinzipien des Islam oder gegen andere Religionen verstoßen (USDOS 21.6.2019). Das neue Strafgesetzbuch 2017, welches im Februar 2018 in Kraft getreten ist (USDOS 21.6.2019; vgl. ICRC o.D.), sieht Strafen für verbale und körperliche Angriffe auf Anhänger jedweder Religion und Strafen für Beleidigungen oder Verzerrungen gegen den Islam vor (USDOS 21.6.2019).

Das Zivil- und Strafrecht basiert auf der Verfassung; laut dieser müssen Gerichte die verfassungsrechtlichen Bestimmungen sowie das Gesetz bei ihren Entscheidungen berücksichtigen. In Fällen, in denen weder die Verfassung noch das Straf- oder Zivilgesetzbuch einen bestimmten Rahmen vorgeben, können Gerichte laut Verfassung die sunnitische Rechtsprechung der hanafitischen Rechtsschule innerhalb des durch die Verfassung vorgegeben Rahmens anwenden, um Gerechtigkeit zu erlangen. Die Verfassung erlaubt es den Gerichten auch, das schiitische Recht in jenen Fällen anzuwenden, in denen schiitische Personen beteiligt sind. Nicht-Muslime dürfen in Angelegenheiten, die die Scharia-Rechtsprechung erfordern, nicht aussagen. Die Verfassung erwähnt keine eigenen Gesetze für Nicht-Muslime (USDOS 21.6.2019).

Die Religionsfreiheit hat sich seit 2001 zwar verbessert, jedoch wird diese noch immer durch Gewalt und Drangsalierung gegenüber religiösen Minderheiten und reformerischen Muslimen behindert (FH 4.2.2019; vgl. USDOS 21.6.2019).

Wegen konservativer sozialer Einstellungen und Intoleranz sowie der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Sicherheitskräfte, individuelle Freiheiten zu verteidigen, sind Personen, die mutmaßlich gegen religiöse und soziale Normen verstoßen, vulnerabel für Misshandlung (FH 4.2.2019). Mitglieder der Taliban und des Islamischen Staates (IS) töten und verfolgen weiterhin Mitglieder religiöser Minderheiten aufgrund ihres Glaubens oder ihrer Beziehungen zur Regierung (USDOS 21.6.2019; vgl. FH 4.2.2019). Da Religion und Ethnie oft eng miteinander verbunden sind, ist es schwierig, einen Vorfall ausschließlich durch die religiöse Zugehörigkeit zu begründen (USDOS 21.6.2019).

Ein Muslim darf eine nicht-muslimische Frau heiraten, aber die Frau muss konvertieren, sofern sie nicht Anhängerin einer anderen abrahamitischen Religion (Christentum oder Judentum) ist. Einer Muslima ist es nicht erlaubt, einen nicht-muslimischen Mann zu heiraten. Konvertiten vom Islam riskieren die Annullierung ihrer Ehe (USDOS 21.6.2019). Ehen zwischen zwei Nicht-Muslimen sind gültig (USE o.D.). Die nationalen Identitätsausweise beinhalten Informationen über das Religionsbekenntnis. Das Bekenntnis zum Islam wird für den Erwerb der Staatsbürgerschaft nicht benötigt. Religiöse Gemeinschaften sind gesetzlich nicht dazu verpflichtet, sich registrieren zu lassen (USDOS 21.6.2019).

Laut Verfassung soll der Staat einen einheitlichen Lehrplan, der auf den Bestimmungen des Islam basiert, gestalten und umsetzen; auch sollen Religionskurse auf Grundlage der islamischen Strömungen innerhalb des Landes entwickelt werden. Der nationale Bildungsplan enthält Inhalte, die für Schulen entwickelt wurden, in denen die Mehrheiten entweder schiitisch oder sunnitisch sind; ebenso konzentrieren sich die Schulbücher auf gewaltfreie islamische Bestimmungen und Prinzipien. Der Bildungsplan beinhaltet Islamkurse, nicht aber Kurse für andere Religionen. Für Nicht-Muslime an öffentlichen Schulen ist es nicht erforderlich, am Islamunterricht teilzunehmen (USDOS 21.6.2019).

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1.2.2.1. Christentum und Konversion zum Christentum

Nichtmuslimische Gruppierungen wie Sikhs, Baha'i, Hindus und Christen machen ca. 0,3% der Bevölkerung aus. Genaue Angaben zur Größe der christlichen Gemeinschaft sind nicht vorhanden (USDOS 21.6.2019). USDOS schätzte im Jahresbericht zur Religionsfreiheit 2009 die Größe der geheimen christlichen Gemeinschaft auf 500 bis 8.000 Personen (USDOS 26.10.2009). Religiöse Freiheit für Christen in Afghanistan existiert; gemäß der afghanischen Verfassung ist es Gläubigen erlaubt, ihre Religion in Afghanistan im Rahmen der Gesetze frei auszuüben. Dennoch gibt es unterschiedliche Interpretationen zu religiöser Freiheit, da konvertierte Christen im Gegensatz zu originären Christen vielen Einschränkungen ausgesetzt sind. Religiöse Freiheit beinhaltet nicht die Konversion (RA KBL 1.6.2017).

Tausende ausländische Christen und einige wenige Afghanen, die originäre Christen und nicht vom Islam konvertiert sind, werden normal und fair behandelt. Es gibt kleine Unterschiede zwischen Stadt und Land. In den ländlichen Gesellschaften ist man tendenziell feindseliger (RA KBL 1.6.2017).

Afghanische Christen sind in den meisten Fällen vom Islam zum Christentum konvertiert. Neben der drohenden strafrechtlichen Verfolgung werden Konvertiten in der Gesellschaft ausgegrenzt und zum Teil angegriffen (AA 2.9.2019). Bei der Konversion vom Islam zum Christentum wird in erster Linie nicht das Christentum als problematisch gesehen, sondern die Abkehr vom und der Austritt aus dem Islam (LIFOS 21.12.2017). Laut islamischer Rechtsprechung soll jeder Konvertit drei Tage Zeit bekommen, um seinen Konfessionswechsel zu widerrufen. Sollte es zu keinem Widerruf kommen, gilt Enthauptung als angemessene Strafe für Männer, während Frauen mit lebenslanger Haft bedroht werden. Ein Richter kann eine mildere Strafe verhängen, wenn Zweifel an der Apostasie bestehen. Auch kann die Regierung das Eigentum des/der Abtrünnigen konfiszieren und dessen/deren Erbrecht einschränken (USDOS 21.6.2019).

Konvertiten vom Islam zum Christentum werden von der Gesellschaft nicht gut behandelt, weswegen sie sich meist nicht öffentlich bekennen. Zur Zahl der Konvertiten gibt es keine Statistik. In den meisten Fällen versuchen die Behörden Konvertiten gegen die schlechte Behandlung durch die Gesellschaft zu unterstützen, zumindest um potenzielles Chaos und Misshandlung zu vermeiden (RA KBL 1.6.2019).

Für christliche Afghanen gibt es keine Möglichkeit der Religionsausübung außerhalb des häuslichen Rahmens (AA 2.9.2019; vgl. USCIRF 4.2018, USDOS 21.6.2019), da es keine öffentlich zugänglichen Kirchen im Land gibt (USDOS 21.6.2019; vgl. AA 2.9.2019). Einzelne christliche Andachtsstätten befinden sich in ausländischen Militärbasen. Die einzige legale christliche Kirche im Land befindet sich am Gelände der italienischen Botschaft in Kabul (WA 11.12.2018; vgl. AA 2.9.2019). Die afghanischen Behörden erlaubten die Errichtung dieser katholischen Kapelle unter der Bedingung, dass sie ausschließlich ausländischen Christen diene und jegliche Missionierung vermieden werde (KatM KBL 8.11.2017).

Gemäß hanafitischer Rechtsprechung ist Missionierung illegal; Christen berichten, die öffentliche Meinung stehe ihnen und der Missionierung weiterhin feindselig gegenüber. Es gibt keine Berichte zu staatlicher Verfolgung aufgrund von Apostasie oder Blasphemie (USDOS 21.6.2019).

Beobachtern zufolge hegen muslimische Ortsansässige den Verdacht, Entwicklungsprojekte würden das Christentum verbreiten und missionieren (USDOS 21.6.2019). Ein christliches Krankenhaus ist seit 2005 in Kabul aktiv (CURE 8.2018); bei einem Angriff durch einen Mitarbeiter des eigenen Wachdienstes wurden im Jahr 2014 drei ausländische Ärzte dieses Krankenhauses getötet (NYP 24.4.2014). Auch gibt es in Kabul den Verein "Pro Bambini di Kabul", der aus Mitgliedern verschiedener christlicher Orden besteht. Dieser betreibt eine Schule für Kinder mit Behinderung (PBdK o.D.; vgl. AF 4.1.2019).

...

1.2.2.2. Apostasie, Blasphemie, Konversion

Glaubensfreiheit, die auch eine freie Religionswahl beinhaltet, gilt in Afghanistan de facto nur eingeschränkt. Die Abkehr vom Islam (Apostasie) wird nach der Scharia als Verbrechen betrachtet, auf das die Todesstrafe steht (AA 2.9.2019).

Jeder Konvertit soll laut islamischer Rechtsprechung drei Tage Zeit bekommen, um seinen Konfessionswechsel zu widerrufen. Sollte es zu keinem Widerruf kommen, gilt Enthauptung als angemessene Strafe für Männer, während Frauen mit lebenslanger Haft bedroht werden. Ein Richter kann eine mildere Strafe verhängen, wenn Zweifel an der Apostasie bestehen. Auch kann die Regierung das Eigentum des/der Abtrünnigen konfiszieren und dessen/deren Erbrecht einschränken. Des Weiteren ist gemäß hanafitischer Rechtsprechung Missionierung illegal. Dasselbe gilt für Blasphemie, die in der hanafitischen Rechtsprechung unter die Kapitalverbrechen fällt (USDOS 21.6.2019) und auch nach dem neuen Strafgesetzbuch unter der Bezeichnung "religionsbeleidigende Verbrechen" verboten ist (MoJ 15.5.2017: Art. 323).

Es gibt keine Berichte über die Verhängung der Todesstrafe aufgrund von Apostasie (AA 2.9.2019); auch auf höchster Ebene scheint die afghanische Regierung kein Interesse zu haben, negative Reaktionen oder Druck hervorzurufen - weder vom konservativen Teil der afghanischen Gesellschaft, noch von den liberalen internationalen Kräften, die solche Fälle verfolgt haben (LIFOS 21.12.2017; vgl. USDOS 21.6.2019) und auch zur Strafverfolgung von Blasphemie existieren keine Berichte (USDOS 21.6.2019).

Es kann jedoch einzelne Lokalpolitiker geben, die streng gegen mutmaßliche Apostaten vorgehen und es kann auch im Interesse einzelner Politiker sein, Fälle von Konversion oder Blasphemie für ihre eigenen Ziele auszunutzen (LIFOS 21.12.2017).

Gefahr bis hin zur Ermordung droht Konvertiten hingegen oft aus dem familiären oder nachbarschaftlichen Umfeld (AA 2.9.2019). Die afghanische Gesellschaft hat generell eine sehr geringe Toleranz gegenüber Menschen, die als den Islam beleidigend oder zurückweisend wahrgenommen werden (LIFOS 21.12.2017; vgl. FH 4.2.2019). Obwohl es auch säkulare Bevölkerungsgruppen gibt, sind Personen, die der Apostasie beschuldigt werden, Reaktionen von Familie, Gemeinschaften oder in einzelnen Gebieten von Aufständischen ausgesetzt, aber eher nicht von staatlichen Akteuren (LIFOS 21.12.2017). Wegen konservativer sozialer Einstellungen und Intoleranz sowie der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Sicherheitskräfte, individuelle Freiheiten zu verteidigen, sind Personen, die mutmaßlich gegen religiöse und soziale Normen verstoßen, vulnerabel für Misshandlung (FH 4.2.2019).

Abtrünnige haben Zugang zu staatlichen Leistungen; es existiert kein Gesetz, Präzedenzfall oder Gewohnheiten, die Leistungen für Abtrünnige durch den Staat aufheben oder einschränken. Sofern sie nicht verurteilt und frei sind, können sie Leistungen der Behörden in Anspruch nehmen (RA KBL 1.6.2017).

...

2. Beweiswürdigung:

2.1. Die Feststellungen zur Person des Bf, sohin zu seiner Staatsangehörigkeit, Herkunftsprovinz, Volksgruppenzugehörigkeit und zu seinem Personenstand sowie zu seinem Werdegang in Afghanistan und im Iran, beruhen auf seinen eigenen Angaben. Das BVwG hat keine Veranlassung, an diesen - im gesamten Verfahren gleich gebliebenen - Aussagen zu zweifeln.

Die Identität des Bf steht mit für das Verfahren ausreichender Sicherheit fest.

Die Feststellung zur strafgerichtlichen Unbescholtenheit des Bf ergibt sich aus dem eingeholten Strafregisterauszug.

2.2. Ob der Bf in seinem Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine gegen ihn gerichtete Verfolgung aufgrund seiner Religion zu erwarten hat, kann - rechtlich vorwegnehmend gemäß § 39 bs 3 AVG - beim Tatsachenergebnis gemäß dem nachfolgenden Punkt 2.3.der Sachverhaltsfeststellungen dz dahinstehen.

2.3. Der Bf konnte glaubhaft vorbringen, dass er in seinem Heimatland wegen seiner Homosexualität bzw Bisexualität (und somit seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe) einer persönlichen Verfolgung unterliegt. Er wird im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer asylrelevanten Verfolgung und einer existentiellen Bedrohung ausgesetzt sein.

Der Bf hat vor dem Hintergrund seiner Sozialisierung in einem homophoben Umfeld weder in der Erstbefragung noch in seiner Einvernahme vor der belangten Behörde von seiner Bi- bzw Homosexualität erzählt. Erst im Laufe des Beschwerdeverfahrens (konkret in seiner Eingabe vom 19.07.2018) hat der Bf vorgebracht, dass er bisexuell sei und dies bereits im Iran geheim ausgelebt habe, wobei er im Zuge dessen über seine ersten gleichgeschlechtlichen Erfahrungen berichtete. Seine späte Offenbarung erklärte der Bf plausibel damit, dass es ihm bislang nicht möglich gewesen sei, offen über seine sexuelle Orientierung zu sprechen. Im Zuge seiner Einvernahme vor der belangten Behörde habe er aufgrund der Anwesenheit einer weiblichen Dolmetscherin nicht das nötige Vertrauen gefasst, sich als bisexueller Mann zu offenbaren.

Insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Bf nachweislich erstmals im Februar 2018 Beratungsgespräche der LGBTIQ Community in Anspruch genommen hat; und auch aus den zeugenschaftlichen Angaben einer XXXX -Beraterin des Bf hervorgeht, dass der Bf - welcher sich gemäß der Zeugenaussage nach wie vor im Coming-Out-Prozess befindet, seine sexuelle Orientierung jahrelang unterdrücken musste und zudem in einem homophoben Umfeld aufgewachsen ist - nachvollziehbare Schwierigkeiten hat, sich öffentlich zu seiner Neigung zu bekennen, geht hervor, dass der Bf (aus persönlichen Gründen) im verwaltungsbehördlichen Verfahren nicht in der Lage war, entsprechende Angaben zu seiner sexuellen Orientierung zu machen. Das Vorbringen der Verfolgung aufgrund seiner sexuellen Orientierung ist somit iSd § 20 Abs 1 Z 4 BFA-VG - hier rechtlich vorwegnehmend - zulässig.

Der Bf brachte glaubhaft vor, dass er seine sexuelle Neigung bereits seit seiner Jugend spürt und seine ersten gleichgeschlechtlichen Erfahrungen bereits im Alter von 16 Jahren gemacht hat. Für das erkennende Gericht ergaben sich im gesamten Verfahren keine Anhaltspunkte dafür, dieses Vorbringen in Zweifel zu ziehen. Auch stellt die wiederholte Inanspruchnahme des Bf einer XXXX -Beratung, welche durch den betreffenden Verein sowohl im Wege des vorgelegten Sozialberichts als auch durch die Einvernahme der dortigen Mitarbeiterinnen als Zeuginnen im Rahmen der mündlichen Verhandlung bestätigt wurde, einen ausschlaggebenden Umstand für die Tatsachenrichtigkeit dieser Angaben dar.

Festzuhalten ist, dass es dem Bf nach wie vor schwerfällt, über seine sexuelle Orientierung offen zu sprechen, da dieses Thema für ihn äußerst schambehaftet ist. Dies wird durch das vorgelegte Schreiben einer Betreuerin des Bf bei XXXX (welche in der mündlichen Verhandlung als Zeugin einvernommen wurde) sowie einer weiteren Mitarbeitern des Vereins XXXX , welche ebenfalls zeugenschaftlich befragt wurde, bestätigt und war auch in der Verhandlung erkennbar. Dennoch gab der Bf im Zuge der mündlichen Verhandlung selbst an, bisexuell mit einer Vorlieben für Transfrauen zu sein und stellt sich auch seine dargestellte sexuelle Entwicklung, welche bereits mit mehreren gleichgeschlechtlichen Kontakten einhergegangen ist, kohärent zu dieser Einstellung dar.

Die im Rahmen der mündlichen Verhandlung zur sexuellen Orientierung des Bf zeugenschaftlich einvernommenen Betreuerinnen des Bf (Frau XXXX und XXXX ), welche den Bf aus ihrer Tätigkeit als Sozialberaterinnen und Mitarbeiterinnen beim LGBTIQ-Verein XXXX kennen, schilderten zudem schlüssig, lebensnahe und ausführlich den Coming-Out-Prozess des Bf und bestätigten beide, dass im Fall des Bf zweifelsfrei eine Bi- bzw Homosexualität mit der Vorliebe für Transfrauen vorliegt. Zwar geht aus den Angaben der genannten Zeuginnen sowie der (in ihrer Funktion als Pastorin der evangelischen Pfarrgemeinde A.B. XXXX ) ebenfalls einvernommenen Zeugin XXXX weiter hervor, dass sich der Bf derzeit in einem inneren Konflikt zwischen seinem Glauben (bzw seinem christlichen Interesse) und seiner gleichgeschlechtlichen Neigung befindet; gerade diese Ausführungen untermauern jedoch den Eindruck des erkennenden Gerichts, dass der Bf seine (bi bzw homo-)sexuelle Orientierung tatsächlich empfindet und diese ein integraler Bestandteil seines Lebens ist. Andernfalls würde der Bf seine innere Zerrissenheit wohl weder im Rahmen seiner XXXX -Beratungsgespräche noch innerhalb seiner Glaubensgemeinschaft zur Sprache bringen und hätten die einvernommenen Zeuginnen nicht derart anschaulich über den Konflikt des Bf berichten können. In diesem Sinne legte die Zeugin XXXX etwa dar, dass der Bf mit seiner sexuellen Orientierung ringe, er sich einerseits seines homosexuellen Begehrens bewusst sei, aber noch sehr viel Scham darüber befinde. Wenn er ihr aber davon erzähle, wie es wäre, sich so zu verlieben, wie er es gerne hätte, dann verändere sich seine Körpersprache und seine Augen würden leuchten. Auch die Zeugin XXXX führte ähnlich aus, dass der Bf ihr im Jänner 2019 zwar gesagt habe, nicht mehr bisexuell zu sein, da er seinen Glauben gefunden habe, dennoch sei sie sich sicher, dass der Bf bisexuell sei und es ihm immer wichtig gewesen sei, mit ihr über den Glauben und die Homosexualität zu sprechen. Die Zeugin XXXX legte dem Gericht letztlich ebenfalls konsistent dar, dass sich der Bf mit dem Thema der Sexualität und des Glaubens auseinandersetze und mit der Frage ringe, inwieweit es im Rahmen des christlichen Glaubens möglich sei, Homosexualität zu praktizieren, wobei diese Frage auch für die evangelische Kirche als Ganzes ungeklärt sei.

Das BVwG geht nach Durchführung der mündlichen Verhandlung (im zweiten Rechtsgang) aufgrund der glaubhaften Angaben des Bf und seines persönlichen Eindrucks davon aus, dass dieser bi- bzw homosexuell orientiert ist und es ihm unzumutbar wäre, seine - in den letzten Jahren zunehmend bekannte - sexuelle Neigung im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan erneut zu unterdrücken. Auch aus den Zeugenaussagen in der mündlichen Beschwerdeverhandlung ergibt sich zweifelsfrei die sexuelle Orientierung des Bf.

Der Umstand, dass der Bf im verwaltungsbehördlichen Verfahren nicht über seine sexuelle Orientierung berichtet hat, vermag - wie bereits eingangs unter dem Aspekt des Neuerungsverbotes dargelegt - nicht die Glaubhaftigkeit der Angaben des Bf und der einvernommenen Zeuginnen, an deren Glaubwürdigkeit auch sonst keine Bedenken aufgekommen sind, anzuzweifeln. Es ist nachvollziehbar, dass der Bf, der seine sexuelle Orientierung in seinem bisherigen Leben lang versteckt hat, nicht sogleich alles offenbaren wollte bzw dies konnte.

Dass dem Bf bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund seiner sexuellen Orientierung physische und/oder psychische Gewalt drohen würde, ergibt sich aus dem in das Verfahren eingeführten Länderberichtsmaterial. Daraus geht unter anderem hervor, dass Homosexuelle, Bisexuelle und Transgender Verfolgung durch afghanische Behörden und durch Privatpersonen fürchten müssen, wenn ihre sexuelle Orientierung bekannt wird. Homosexuelle, Bisexuelle und Transgender haben in Afghanistan mit sozialer Ausgrenzung und Gewalt sowie mit strafrechtlicher Verfolgung bis hin zur Todesstrafe zu rechnen. Bisexuelle und homosexuelle Orientierung sowie transsexuelles Leben werden von der breiten Gesellschaft in Afghanistan abgelehnt und können daher nicht in der Öffentlichkeit gelebt werden.

2.4. Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan (Pkt II.1.2.) stützen sich auf objektives, in das Verfahren eingebrachte Berichtsmaterial. Das erkennende Gericht zog zur Beurteilung der gegenwertigen Lage im Herkunftsstaat des Bf das aktuellste Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 13.11.2019 heran. Diese Berichte sind aktuell und setzen sich aus Informationen aus regierungsoffiziellen und nichtregierungsoffiziellen Quellen zusammen.

Angesichts der Seriosität und Plausibilität der angeführten Erkenntnisquellen sowie dem Umstand, dass diese Berichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln.

3. Rechtliche Beurteilung:

3.1. Zur Zulässigkeit der Beschwerde:

Beschwerdegegenstand ist der Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.07.2016, Zl XXXX . Die dagegen erhobene Beschwerde erweist sich als rechtzeitig und zulässig.

3.2. Zu Spruchpunkt A)

Die Beschwerde ist auch begründet:

3.2.1. Zu Spruchpunkt A) I. - Stattgabe der Beschwerde und Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten

3.2.1.1. Gemäß § 3 Abs 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit der Antrag nicht wegen Drittstaatssicherheit oder wegen Zuständigkeit eines anderen Staates oder wegen Schutzes in einem EWR-Staat oder in der Schweiz zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge BGBl 55/1955 (Genfer Flüchtlingskonvention, in der Folge: GFK) droht (vgl auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs 1 Z 11 AsylG 2005, die auf Art 9 der RL 2004/83/EG des Rates verweist).

Flüchtling im Sinne der GFK ist, wer aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, sich außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren (VwGH 25.3.1999, 98/20/0431 uva).

Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs der GFK ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Wohlbegründet kann eine Furcht nur dann sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers und unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist (vgl VwGH 22.12.1999, 99/01/0334; 21.12.2000, 2000/01/0131; 25.01.2001, 2001/20/0011). Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde (vgl VwGH 19.12.2007, 2006/20/0771). Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; 25.01.2001, 2001/20/0011). Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Art 1 Abschnitt A Z 2 GFK nennt (vgl VwGH 09.09.1993, 93/01/0284; 15.03.2001, 99/20/0128; 23.11.2006, 2005/20/0551); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss aktuell sein, was bedeutet, dass sie zum Zeitpunkt der Entscheidung vorliegen muss (VwGH 09.03.1999, Zl 98/01/0318; 19.10.2000, Zl 98/20/0233).

Die Voraussetzungen der GFK sind nur bei jenem Flüchtling gegeben, der im gesamten Staatsgebiet seines Heimatlandes keinen ausreichenden Schutz vor der konkreten Verfolgung findet (VwGH 08.10.1980, VwSlg 10.255 A). Steht dem Asylwerber die Einreise in Landesteile seines Heimatstaates offen, in denen er frei von Furcht leben kann, und ist ihm dies zumutbar, so bedarf er des asylrechtlichen Schutzes nicht; in diesem Fall liegt eine sog "inländische Fluchtalternative" vor. Der Begriff "inländische Fluchtalternative" trägt dem Umstand Rechnung, dass sich die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung iSd Art 1 Abschnitt A Z 2 GFK, wenn sie die Flüchtlingseigenschaft begründen soll, auf das gesamte Staatsgebiet des Heimatstaates des Asylwerbers beziehen muss (vgl VwGH 08.09.1999, Zl 98/01/0503 und Zl. 98/01/0648).

3.2.1.2. Aufgrund des durchgeführten Ermittlungsverfahren und des festgestellten Sachverhaltes ergibt sich, dass sich die vom Bf behauptete Furcht, in seinem Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aus den in der GFK genannten Gründen verfolgt zu werden, begründet ist:

Das BVwG geht auf Grund des in das Verfahren eingeführten Länderberichtsmaterials und auf Grund des glaubhaften Vorbringens des Bf sowie der in der mündlichen Verhandlung befragten Zeuginnen davon aus, dass dem Bf auf Grund seiner sexuellen Orientierung (Bibzw Homosexualität) im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen maßgeblicher Intensität drohen würden.

Die den Bf treffende Verfolgungsgefahr findet schon deshalb ihre Deckung in einem der in Art 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe, weil in seinem Fall eine Verfolgung wegen einer den religiösen Wertvorstellungen der Verfolger zuwiderlaufenden Handlungsweise gegeben ist.

Auf Grund der in das Verfahren eingeführten Länderberichte ist nicht davon auszugehen, dass dem Bf ausreichender staatlicher Schutz vor einer Verfolgung durch Privatpersonen zukommen würde. Daraus geht vielmehr hervor, dass die Verfolgung von bisexuellen und homosexuellen Männern auch von staatlichen Stellen ausgehen kann und die Behörden daher nicht als schutzwillig anzusehen sind.

Die dem Bf drohende Verfolgung ist auch nicht etwa auf einen bestimmten Landesteil beschränkt, weil ihm die Entdeckung als Bibzw Homosexueller überall drohen würde. Eine innerstaatliche Fluchtalternative kommt daher für den Bf nicht in Betracht.

Der Bf hält sich somit aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner sexuellen Orientierung außerhalb Afghanistans auf und ist im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt, in seinen Herkunftsstaat zurückzukehren.

Es kamen im Verfahren keine Asylausschlussgründe iSd § 6 AsylG 2005 hervor.

Aus diesen Gründen war der Beschwerde statt zu geben und dem Bf gemäß § 3 Abs 1 und 4 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen.

3.2.2. Zu Spruchpunkt A) II. - Feststellung der Flüchtlingseigenschaft

Gemäß § 3 Abs 5 AsylG 2005 ist die Entscheidung, mit der einem Fremden von Amts wegen oder auf Grund eines Antrages auf internationalem Schutz der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, mit der Feststellung zu verbinden, dass diesem Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

Der Vollständigkeit halber ist darauf hinzuweisen, dass der Antrag des Bf auf internationalen Schutz nach dem 15.11.2015 gestellt wurde, weshalb gemäß § 75 Abs 24 AsylG die §§ 2 Abs 1 Z 15 und 3 Abs 4 AsylG idF des Bundesgesetzes BGBl I 24/2016 ("Asyl auf Zeit") im konkreten Fall Anwendung finden. Dementsprechend kommt dem Bf eine auf drei Jahre befristete Aufenthaltsberechtigung zu, welche sich in eine unbefristete Aufenthaltsberechtigung umändert, sofern die Voraussetzungen für eine Einleitung eines Verfahrens zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten nicht vorliegen oder das Aberkennungsverfahren eingestellt wird.

3.3. Zu Spruchpunkt B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art 133 Abs 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen (siehe dazu insbesondere die unter Spruchpunkt A zitierte Judikatur). Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Schlagworte

asylrechtlich relevante Verfolgung, befristete
Aufenthaltsberechtigung, gesamtes Staatsgebiet, Homosexualität,
Schutzunwilligkeit, soziale Gruppe, wohlbegründete Furcht

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:W131.2131438.1.00

Zuletzt aktualisiert am

08.06.2020
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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