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10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)Norm
AsylG 2005 §57Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Dr. Pelant und Dr. Sulzbacher als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des Y L in W, vertreten durch Mag. Bettina Mozelt, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Universitätsring 12/Top 9, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 14. Mai 2019, W278 2186832-1/11E, betreffend Abweisung eines Antrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 57 AsylG 2005 sowie Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl),
Spruch
1. den Beschluss gefasst:
Die Revision wird, soweit sie sich gegen die Abweisung des Antrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 57 AsylG 2005 richtet, zurückgewiesen.
2. zu Recht erkannt:
Im Übrigen wird das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der im Jänner 1960 geborene Revisionswerber ist chinesischer Staatsangehöriger. Nach eigenen Angaben ist er Analphabet, hat keine Schule besucht und seinen Herkunftsstaat bereits 1998 verlassen (an anderer Stelle ist von einer Ausreise aus China im Jahr 2001 die Rede).
2 Der Revisionswerber wurde erstmals im August 2002 in Österreich aufgegriffen. Er befand sich dann ab 14. August 2002 in Schubhaft, aus der er, weil kein Heimreisezertifikat zu erlangen war, am 20. November 2002 wieder entlassen wurde.
3 Im Dezember 2004 wurde der nicht im Bundesgebiet gemeldete Revisionswerber wieder aufgegriffen und wieder in Schubhaft genommen; aus dieser wurde er am 14. Februar 2005 entlassen.
4 In der Folge wies der Revisionswerber - mit Unterbrechungen - Obdachlosenmeldungen auf, ehe er seit 2014 mit Hauptwohnsitzmeldung in Wien aufscheint; seit Jänner 2014 bezieht er auch Grundversorgung.
5 2002 und 2004 waren gegen den Revisionswerber, jeweils wegen Mittellosigkeit, fünfjährige Aufenthaltsverbote erlassen worden. Außerdem waren ein Asylantrag sowie ein Antrag auf internationalen Schutz erfolglos geblieben, der letzte Antrag wurde rechtskräftig mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 4. Februar 2009 - in Verbindung mit einer Ausweisung des Revisionswerbers nach China - wegen entschiedener Sache zurückgewiesen.
6 Am 8. Juni 2015 stellte der Revisionswerber einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 57 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005. In der Begründung zu diesem Antrag wurde u.a. ausgeführt, dass der Revisionswerber in China weder Verwandte noch Vermögen habe; er könne dort in seinem Alter keine Arbeit finden, habe keine Krankenversicherung, keine Sozialhilfe, „und kann nicht leben.“
7 Mit Bescheid vom 26. Jänner 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) diesen Antrag ab. Außerdem erließ es gemäß § 10 Abs. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG gegen den Revisionswerber eine Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs. 3 FPG, stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass seine Abschiebung nach China zulässig sei und setzte gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für seine freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.
8 Noch vor Erlassung dieses Bescheides, im April 2016, war beim Revisionswerber ein für ihn 2015 (gültig bis 2025) von der chinesischen Botschaft in Bratislava ausgestellter Reisepass sichergestellt worden. Aus diesem ergab sich, dass er bisher in Österreich durchgehend unter falscher Identität aufgetreten war. 2017 unternommene Abschiebeversuche scheiterten jedoch daran, dass der Revisionswerber an seiner Meldeadresse nicht angetroffen werden konnte.
9 Der Revisionswerber erhob gegen den Bescheid vom 26. Jänner 2018 Beschwerde. Nach Durchführung einer Beschwerdeverhandlung, in der vorgebracht worden war, der Revisionswerber könne in China auf kein soziales oder familiäres Unterstützungsnetzwerk oder auf finanzielle Ressourcen zurückgreifen, wäre auf sich alleine gestellt und würde unzweifelhaft in eine ausweglose Situation geraten, während ihn in Österreich seine hier lebende Tochter unterstützen könne, wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis vom 14. Mai 2019 diese Beschwerde als unbegründet ab. Außerdem sprach es gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
10 Über die gegen dieses Erkenntnis erhobene Revision hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, erwogen:
11 Hat das Verwaltungsgericht in seinem Erkenntnis ausgesprochen, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig ist, hat die Revision zufolge § 28 Abs. 3 VwGG auch gesondert die Gründe zu enthalten, aus denen entgegen dem Ausspruch des Verwaltungsgerichtes die Revision für zulässig erachtet wird (außerordentliche Revision). Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof dann im Rahmen dieser vorgebrachten Gründe zu überprüfen (§ 34 Abs. 1a zweiter Satz VwGG).
12 In Bezug auf die Entscheidung nach § 57 AsylG 2005 fehlt es gänzlich an einem entsprechenden Vorbringen in der vorliegenden Revision. Insoweit war sie daher gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG als unzulässig zurückzuweisen.
13 Im Übrigen - die Rückkehrentscheidung und die damit im Zusammenhang stehenden Aussprüche betreffend - erweist sich die Revision aber als zulässig und berechtigt.
14 Die Zulässigkeit einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme, insbesondere der hier in Rede stehenden Rückkehrentscheidung, setzt nach § 9 Abs. 1 BFA-VG unter dem dort genannten Gesichtspunkt eines Eingriffs in das Privat- und/oder Familienleben voraus, dass ihre Erlassung zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Im Zuge dieser Beurteilung ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen (vgl. grundlegend zur seit dem 1. Jänner 2014 geltenden Rechtslage VwGH 12.11.2015, Ra 2015/21/0101, Punkte 3.2. und 3.3. der Entscheidungsgründe).
15 Im Rahmen der so gebotenen Interessenabwägung kann nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes unter dem Gesichtspunkt der Bindungen zum Heimatstaat (§ 9 Abs. 2 Z 5 BFA-VG) auch der Frage Bedeutung zukommen, ob sich der Fremde bei einer Rückkehr in diesen Staat eine Existenzgrundlage schaffen kann (vgl. das eben genannte Erkenntnis VwGH 12.11.2015, Ra 2015/21/0101, Punkte 4.1. und 4.2. der Entscheidungsgründe; siehe darauf Bezug nehmend auch etwa VwGH 21.12.2017, Ra 2017/21/0135).
16 Das BVwG ging zwar davon aus, dass ein durchgehender Aufenthalt des Revisionswerbers im Bundesgebiet seit August 2002 nicht festgestellt werden könne. Es hielt dann aber dennoch fest, dass er „in den letzten 17 Jahren über lange Zeiträume hinweg im Bundesgebiet aufhältig“ gewesen sei und legte seinem Erkenntnis erkennbar zu Grunde, dass der Revisionswerber seit dem Verlassen Chinas (nach eigenen Angaben des Revisionswerbers irgendwann zwischen 1998 und 2001; siehe oben Rn. 1) nicht mehr dorthin zurückgekehrt war.
17 In diesem Zusammenhang ist zunächst klarzustellen, dass sich der Revisionswerber unabhängig von seinen tatsächlichen Aufenthaltszeiten in Österreich nicht auf die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes berufen kann, wonach bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt eines Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an seinem Verbleib in Österreich auszugehen sei (siehe zu dieser Rechtsprechungslinie grundsätzlich VwGH 17.10.2016, Ro 2016/22/0005, Rn. 11 ff, und darauf verweisend aus jüngerer Zeit etwa VwGH 24.10.2019, Ra 2019/21/0117, Rn. 11). Denn das multiple fremdenrechtliche Fehlverhalten des Revisionswerbers, insbesondere sein Aufenthalt im Bundesgebiet bis April 2016 unter falscher Identität, relativierte die Länge seiner Aufenthaltsdauer im Inland im Sinne der angesprochenen Judikaturlinie nicht unmaßgeblich.
18 Gleichwohl kann die lange Dauer des inländischen Aufenthalts des Revisionswerbers, die mit entsprechend langer Abwesenheit von China einhergeht, nicht gänzlich ausgeblendet werden. Außerdem ist zu Gunsten des Revisionswerbers die Beziehung zu seiner in Österreich lebenden Tochter, die nach den Feststellungen des BVwG über einen Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt - EU“ verfügt, in Anschlag zu bringen, auch wenn diese Beziehung nach den - in der Revision allerdings bestrittenen - Feststellungen des BVwG nicht sehr intensiv ist.
19 Jedenfalls vor diesem Hintergrund ist es nicht auszuschließen, dass das BVwG nach Maßgabe der Verhältnisse, die der Revisionswerber bei einer erzwungenen Rückkehr nach China dort vorfinden würde, im Rahmen seiner Interessenabwägung zu einem anderen Ergebnis hätte gelangen müssen.
20 Auch in der Revision wird, wie schon im zugrunde liegenden Antrag und im Beschwerdeverfahren (siehe oben Rn. 6 und Rn. 9), vorgebracht, dass der Revisionswerber bei einer Rückkehr nach China nicht in der Lage wäre, seine Existenz zu sichern. In diesem Zusammenhang wird zutreffend auf Feststellungen des BVwG zur Situation in China verwiesen, in denen es u.a. heißt:
„Trotz des laufenden Ausbaus des Sozialsystems bleibt angesichts des niedrigen Niveaus der Sozialleistungen die familiäre Solidarität in Notfällen ein entscheidender Faktor. Die meisten sozialen Leistungen sind zudem an die Wohnrechtsregistrierung (‚Hukou-System‘) gekoppelt, befindet sich diese auf dem Land, ist mit einem noch niedrigeren Niveau an staatlicher Hilfeleistung zu rechnen. Eine Eingliederung in den Arbeitsmarkt in den ländlichen Regionen ist oft sehr schwierig.
...
Das seit 2014 bestehende Programm zur Sicherung des Existenzminimums ... ähnelt der Sozialhilfe. Derzeit ist eine lokale Wohnmeldung (‚Hukou-System‘) vorausgesetzt, weshalb die Millionen Wanderarbeiter in Städten in der Regel keinen Anspruch haben.
...
Die Rückkehrsituation für mittellose, kinderreiche Personen ohne Aussicht auf einen Arbeitsplatz und ohne familiäre Anbindung in China ist als schwierig zu beurteilen.“
21 Das BVwG knüpfte in der Folge nicht erkennbar an diese Feststellungen an, sondern gelangte ohne weitere Überlegungen zu dem Ergebnis, es sei dem Revisionswerber zuzutrauen, sich in China seinen Lebensunterhalt „weiterhin durch Gelegenheits- und Hilfsarbeiten zu verdienen“. Dabei räumte es zwar ein, dass er in China über kein soziales Netz verfüge, ging aber davon aus, dass er nach wie vor in „seiner Heimatkultur“ verankert sei und sohin eine Reintegration in die Gesellschaft seines Herkunftsstaates möglich und zumutbar sei. Der Revisionswerber stamme - so das BVwG dann im Rahmen seiner Erwägungen zum Ausspruch nach § 52 Abs. 9 FPG - aus einem Staat, auf dessen Territorium die Grundversorgung der Bevölkerung grundsätzlich gewährleistet sei und gehöre andererseits keinem Personenkreis an, von welchem anzunehmen sei, „dass er sich in Bezug auf [seine] individuelle Versorgungslage qualifiziert schutzbedürftiger darstellt als die übrige Bevölkerung, welche ebenfalls für ihre Existenzsicherung aufkommen kann.“
22 Diese Überlegungen werden dem vorliegenden Fall nicht gerecht. Einerseits lassen sie die fehlende Bildung des Revisionswerbers, seinen Analphabetismus und sein fortgeschrittenes Alter sowie damit verbundene gesundheitliche Beschwerden unberücksichtigt. Andererseits wird aber auch die lange Abwesenheit des Revisionswerbers von China außer Acht gelassen, welche Umstände insgesamt die Frage aufwerfen, inwieweit der Revisionswerber im Sinn der Argumentation des BVwG „durch Gelegenheits- und Hilfsarbeiten“ in menschenwürdiger Weise seinen Lebensunterhalt verdienen könnte. In Anbetracht dessen kann dann auch nicht - zumal angesichts des auch vom BVwG konstatierten Fehlens eines sozialen Netzes in China - ohne Weiteres davon ausgegangen werden, der Revisionswerber befinde sich in einer mit der übrigen chinesischen Bevölkerung in punkto Existenzsicherung vergleichbaren Situation. Gegen eine solche Annahme sprechen die zitierten Passagen aus den Länderfeststellungen des BVwG (insbesondere bezüglich der für den Erhalt von Sozialleistungen erforderlichen „Wohnrechtsregistrierung“), zu denen die individuelle Situation des Revisionswerbers als knapp 60-jähriger Rückkehrer mit den zuvor erwähnten Spezifika in Beziehung zu setzen gewesen wäre. Das hat das BVwG unterlassen. Dieser Verfahrensfehler ist nach dem oben Gesagten (siehe Rn. 18) relevant, weil im Sinn des Revisionsvorbringens nicht ausgeschlossen werden kann, dass dem Revisionswerber in China „die Erhaltung [s]einer Existenz nicht möglich“ sei. Das angefochtene Erkenntnis kann somit im aus dem Spruchpunkt 2. ersichtlichen Umfang keinen Bestand haben und war daher insoweit - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat - gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
23 Von der Durchführung der beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte schon gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.
24 Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff, insbesondere § 50 VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 17. April 2020
Schlagworte
Begründung Begründungsmangel Besondere RechtsgebieteEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019210188.L00Im RIS seit
24.11.2020Zuletzt aktualisiert am
24.11.2020