TE Vwgh Erkenntnis 2020/4/30 Ra 2019/19/0309

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Veröffentlicht am 30.04.2020
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Index

E000 EU- Recht allgemein
E3L E19103010
E6J
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
AsylG 2005 §9 Abs1 Z1
EURallg
32011L0095 Status-RL Art16 Abs2
32011L0095 Status-RL Art19 Abs1
62017CJ0720 Bilali VORAB

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zens sowie die Hofräte Mag. Stickler und Dr. Faber, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, über die Revision des B M S in W, vertreten durch Mag. Robert Bitsche, Rechtsanwalt in 1050 Wien, Nikolsdorfergasse 7-11/15, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 11. Juni 2019, W105 1431122-2/10E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 30. August 2012 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2 Mit Bescheid vom 19. November 2012 wies das Bundesasylamt den Antrag des Revisionswerbers zur Gänze ab und wies den Revisionswerber aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Afghanistan aus. Der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde des Revisionswerbers gab des Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 27. November 2014 insoweit Folge, als es dem Revisionswerber gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 den Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannte, ihm gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilte und seine Ausweisung aus dem Bundesgebiet ersatzlos behob. In der Begründung stützte das Bundesverwaltungsgericht seine Entscheidung im Wesentlichen darauf, dass dem Revisionswerber bei Rückkehr in seinen Herkunftsstaat aufgrund der prekären Sicherheitslage eine Verletzung seiner Rechte nach Art. 3 EMRK drohe.

3 Mit Bescheid vom 23. November 2015 verlängerte das BFA die Aufenthaltsberechtigung des Revisionswerbers gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 bis zum 28. November 2017.

4 Mit Bescheid vom 15. Dezember 2017 erkannte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) dem Revisionswerber den Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 ab, entzog ihm die erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise legte das BFA mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.

5 Begründend führte das BFA im Wesentlichen aus, die Voraussetzungen für die Zuerkennung subsidiären Schutzes lägen nicht mehr vor. Die Lage in Afghanistan habe sich geändert. Dem Revisionswerber stehe in seinem Herkunftsstaat in Mazar-e Sharif und Herat eine innerstaatliche Fluchtalternative offen. 6 Dagegen erhob der Revisionswerber eine Beschwerde. Er brachte unter Berufung auf Länderberichte vor, die Sicherheitslage in Afghanistan habe sich sogar verschlechtert. Anders als noch vom BFA in dessen Bescheid vom 15. Dezember 2017 angenommen, verfüge er in seinem Herkunftsstaat über kein familiäres Netzwerk mehr, auf dessen Unterstützung er sich verlassen könnte. Seine Familienangehörigen hätten Afghanistan nämlich mittlerweile verlassen.

7 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei. 8 Das Bundesverwaltungsgericht traf Feststellungen zur Lage in Afghanistan auf der Grundlage des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation vom 29. Juni 2018 und stellte fest, der Revisionswerber habe sowohl in Afghanistan als auch in Österreich Berufserfahrung gesammelt. Er sei gesund und arbeitsfähig. In seiner Herkunftsprovinz Kabul seien weiterhin mehrere seiner Familienangehörigen aufhältig.

9 Der Status eines subsidiär Schutzberechtigten sei nach § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 abzuerkennen, wenn die Voraussetzungen für die Zuerkennung nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 "nicht mehr vorliegen". Dazu zitierte das Bundesverwaltungsgericht Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 8 Abs. 1 und § 11 Abs. 1 AsylG 2005 und folgerte, der Revisionswerber habe in seiner Beschwerde zwar zutreffend auf eine verschlechterte Sicherheitslage in seiner Herkunftsprovinz Kabul verwiesen. Es stehe ihm auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen jedoch eine innerstaatliche Fluchtalternative in den Städten Mazar-e Sharif oder Herat offen, wo die Sicherheitslage besser sei und auch keine reale Gefahr bestehe, dass der Revisionswerber in eine existenzbedrohende Lage kommen könnte. Der Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten sei daher "nicht entgegenzutreten".

10 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen dieses Erkenntnis erhobene außerordentliche Revision nach Einleitung des Vorverfahrens, in dem eine Revisionsbeantwortung nicht erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

11 Zur Zulässigkeit der Revision wird unter anderem vorgebracht, das Bundesverwaltungsgericht sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, weil es keine mündliche Verhandlung durchgeführt habe.

12 Die Revision ist zulässig und berechtigt.

13 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind zur Beurteilung, ob der Sachverhalt im Sinn des § 21 Abs. 7 BFA-VG geklärt erscheint und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach dieser Bestimmung unterbleiben kann, folgende Kriterien beachtlich:

14 Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offengelegt haben und das Bundesverwaltungsgericht die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüberhinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen (vgl. etwa VwGH 29.8.2019, Ra 2019/19/0138, mwN).

15 Der Revisionswerber hat im Beschwerdeverfahren die Feststellungen des BFA nicht bloß unsubstantiiert bestritten, sondern vorgebracht, dass sich sowohl die allgemeine Lage in Afghanistan bei Berücksichtigung neuerer Länderberichte als auch seine persönliche Situation in Hinblick auf das nunmehrige Fehlen eines familiären Netzwerkes seit dem Bescheid des BFA verschlechtert habe.

16 Das Bundesverwaltungsgericht ist selbst davon ausgegangen, dass es erforderlich sei, hinsichtlich der entscheidungswesentlichen Lage im Herkunftsstaat die Feststellungen im Bescheid des BFA zu aktualisieren. Durch die Heranziehung neuer Länderberichte hat das Bundesverwaltungsgericht die Beweiswürdigung gegenüber dem Bescheid des BFA damit aber nicht bloß unwesentlich ergänzt. Es wäre daher schon aus diesem Grund eine mündliche Verhandlung durchzuführen gewesen (vgl. VwGH 29.8.2019, Ra 2019/19/0131, mwN).

17 Da sich die Revision somit als zulässig erweist, ist eine weitere Rechtswidrigkeit des angefochtenen Erkenntnisses aufzugreifen.

18 Gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 ist einem Fremden der Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuerkennen, wenn die Voraussetzungen für die Zuerkennung dieses Schutzstatus (§ 8 Abs. 1 AsylG 2005) nicht oder nicht mehr vorliegen. 19 Der erste Fall des § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 betrifft eine Konstellation, in der sich ergibt, dass der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wurde, ohne dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung im Entscheidungszeitpunkt erfüllt gewesen sind, weil die Entscheidung sich auf Tatsachen gestützt hat, die sich in der Folge als unzutreffend erwiesen haben (vgl. näher zu diesem Tatbestand VwGH 14.8.2019, Ra 2016/20/0038, unter Hinweis auf EuGH 23.5.2019, Bilali, C-720/17). Eine solche Änderung des Kenntnisstandes über die Lage in Afghanistan im Zeitpunkt des Erkenntnisses des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. November 2014 ist im vorliegenden Fall nicht hervorgekommen.

20 § 9 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall AsylG 2005 betrifft hingegen jene Konstellationen, in denen die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nachträglich weggefallen sind (vgl. VwGH 29.1.2020, Ro 2019/18/0002, mwN). Der Tatbestand des § 9 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall AsylG 2005 - auf den sich das BFA in seinem Bescheid vom 15. Dezember 2017 gestützt hat - setzt somit voraus, dass sich der Sachverhalt seit der Zuerkennung des subsidiären Schutzes bzw. der erfolgten Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung nach § 8 Abs. 4 AsylG 2005 geändert hat (vgl. etwa VwGH 29.1.2020, Ra 2019/18/0262). Nicht jede Änderung des Sachverhalts rechtfertigt allerdings die Aberkennung des subsidiären Schutzes. Eine maßgebliche Änderung liegt unter Bedachtnahme auf die unionsrechtlichen Vorgaben von Art. 19 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 16 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95/EU (Statusrichtlinie) vielmehr nur dann vor, wenn sich die Umstände so wesentlich und nicht nur vorübergehend verändert haben, dass ein Anspruch auf subsidiären Schutz nicht länger besteht (vgl. etwa VwGH 17.12.2019, Ra 2019/18/0173, mwN; vgl. näher zu den Voraussetzungen des Tatbestandes des § 9 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall AsylG 2005 VwGH 27.5.2019, Ra 2019/14/0153; vgl. auch näher zum Erfordernis des Abstellens auf die letzte Verlängerung der Aufenthaltsberechtigung VwGH 17.10.2019, Ra 2019/18/0353). 21 Im Widerspruch dazu hat das Bundesverwaltungsgericht im vorliegenden Fall seinem Erkenntnis die Ansicht zu Grunde gelegt, für die Aberkennung nach der hier vom BFA herangezogenen Bestimmung sei ausreichend, dass in seinem Entscheidungszeitpunkt die Voraussetzungen der Gewährung subsidiären Schutzes nicht gegeben seien. Auf der Grundlage dieser verfehlten Rechtsansicht hat es jegliche Auseinandersetzung damit unterlassen, ob sich der Sachverhalt seit der Zuerkennung des subsidiären Schutzes bzw. der Verlängerung der Aufenthaltsberechtigung geändert hat. 22 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen vorrangig wahrzunehmender Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

23 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 30. April 2020

Gerichtsentscheidung

EuGH 62017CJ0720 Bilali VORAB

Schlagworte

Gemeinschaftsrecht Richtlinie EURallg4

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019190309.L00

Im RIS seit

09.06.2020

Zuletzt aktualisiert am

09.06.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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